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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_491/2008 
 
Urteil vom 9. März 2009 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Maillard, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Parteien 
P.________, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Michael B. Graf, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 30. April 2008. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
P.________, geboren 1971, war von 1993 bis Ende Juli 2002 bei der T.________ AG mit einem Teilzeitpensum als Fabrikationsmitarbeiterin angestellt. Am 18. November 2001 zog sie sich als Fahrzeuglenkerin bei einer heftigen seitlichen Personenwagenkollision verschiedene Verletzungen zu (u.a. Kontusionen des Hemithorax links, enzymatisch positive Herzkontusion, Kontusion am linken Ellbogen sowie an beiden Unterschenkeln; ossäre Läsionen konnten ausgeschlossen werden). Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die Heilbehandlung auf und entrichtete ein Taggeld. Den von der SUVA per 15. September 2002 verfügten folgenlosen Fallabschluss hat das Eidgenössische Versicherungsgericht letztinstanzlich mit Urteil U 259/03 vom 6. August 2004 bestätigt, indem es weiter bestehende organische Unfallfolgen (E. 3.6) sowie die Unfalladäquanz anhaltender psychogener Beschwerden (E. 4) verneinte. Am 3. Mai 2002 meldete sich P.________ wegen seit dem Unfall zu beklagender Bewegungseinschränkungen und Schmerzen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach umfangreichen medizinischen Abklärungen, dem Beizug der Unfallakten und Durchführung einer interdisziplinären Exploration im ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ (das Gutachten datiert vom 27. März 2007 und der Ergänzungsbericht vom 6. September 2007) lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau einen Anspruch auf Leistungen ab mit der Begründung, die geklagten Beschwerden vermöchten aus medizinischer Sicht keine objektivierbare Arbeitsunfähigkeit zu begründen (Verfügung vom 22. Januar 2008). 
 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde der P.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 30. April 2008 ab. 
 
C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt P.________ unter Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheides und der Verfügung der IV-Stelle vom 22. Januar 2008 beantragen, die Sache sei "zur Berechnung des IV-Grades und zur Ausrichtung der gesetzlichen Leistungen, insbesondere einer ganzen IV-Rente ab dem Unfall vom 1. November 2002, an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen." Gleichzeitig ersucht die Versicherte um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsdarstellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
1.2 Die Feststellung des Gesundheitsschadens, d.h. die Befunderhebung und die gestützt darauf gestellte Diagnose betreffen ebenso eine Tatfrage wie die auf Grund von medizinischen Untersuchungen gerichtlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Analoges gilt für die Frage, ob sich eine Arbeits(un)fähigkeit in einem bestimmten Zeitraum verändert hat. Tatfrage ist weiter, in welchem Umfang eine versicherte Person vom funktionellen Leistungsvermögen und vom Vorhandensein bzw. von der Verfügbarkeit psychischer Ressourcen her eine (Rest-)Arbeitsfähigkeit aufweist und ihr die Ausübung entsprechend profilierter Tätigkeiten zumutbar ist, es sei denn, andere als medizinische Gründe stünden der Bejahung der Zumutbarkeit im Einzelfall in invalidenversicherungsrechtlich erheblicher Weise entgegen. Soweit hingegen die Beurteilung der Zumutbarkeit von Arbeitsleistungen auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützt wird, geht es um eine Rechtsfrage; dazu gehören auch Folgerungen, die sich auf die medizinische Empirie stützen wie z.B. die Vermutung, dass eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar ist (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Die konkrete Beweiswürdigung stellt eine Tatfrage dar (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_270/2008 vom 12. August 2008 E. 2.2). 
 
2. 
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung hat. 
 
2.1 Am 1. Januar 2008 sind die Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) und anderer Erlasse wie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2006 (5. IV-Revision, AS 2007 5129 ff.) in Kraft getreten. Bei der Prüfung eines allenfalls schon vorher entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, wonach in zeitlicher Hinsicht diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der vorliegend zu beurteilende Rentenanspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2007 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt - bis zum Erlass der strittigen Verfügung vom 22. Januar 2008, welcher rechtsprechungsgemäss die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220 mit Hinweisen) - nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445 E. 1 S. 446 f. [mit Hinweis u.a. auf BGE 130 V 329]). Dies fällt materiellrechtlich indessen nicht ins Gewicht, weil die 5. IV-Revision hinsichtlich der Invaliditätsbemessung keine substanziellen Änderungen gegenüber der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Rechtslage (nachstehend: aArt.) gebracht hat, sodass die zur altrechtlichen Regelung ergangene Rechtsprechung weiterhin massgebend ist. Neu normiert wurde demgegenüber der Zeitpunkt des Rentenbeginns, der, sofern die entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind (Art. 28 Abs. 1 IVG), gemäss Art. 29 Abs. 1 IVG frühestens sechs Monate nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG entsteht. Da ein allfälliger Rentenanspruch in casu - die Beschwerdeführerin, welche sich anfangs Mai 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hatte, macht keine revisionsweise zu berücksichtigende anspruchsrelevante Veränderung der erwerblichen oder gesundheitlichen Verhältnisse im Laufe des zweiten Halbjahres 2007 geltend - bereits vor dem 1. Januar 2008 entstanden wäre, wirkt sich diese Neuerung auf den hier zu prüfenden Fall jedoch nicht aus (vgl. Urteile 8C_829/2008 vom 23. Dezember 2008 E. 2.1 und 8C_373/2008 vom 28. August 2008 E. 2.1, je mit Hinweis). 
 
2.2 Im kantonalen Entscheid wurden die massgeblichen Bestimmungen insbesondere zu den Begriffen der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG), zum Umfang des Rentenanspruchs (aArt. 28 Abs. 1 IVG bzw. - seit 1. Januar 2008 - Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie zur Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (aArt. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; seit 1. Januar 2008: Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG) und bei nur zum Teil Erwerbstätigen nach der sogenannten gemischten Methode (aArt. 28 Abs. 2ter IVG bzw. - seit 1. Januar 2008 - Art. 28a Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG und Art. 28a Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Dasselbe gilt hinsichtlich der dazu ergangenen Rechtsprechung. Es betrifft dies nebst den Anforderungen an beweiskräftige medizinische Grundlagen (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis; RKUV 2003 Nr. U 487 S. 337, U 38/01 E. 5.1) in erster Linie auch die Frage, unter welchen Umständen eine psychische Gesundheitsstörung, namentlich eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, als invaliditätsbegründend angesehen werden kann (BGE 131 V 49; 130 V 352 und 396). 
 
3. 
3.1 Unter Mitberücksichtigung der aktuellen Berichte der behandelnden Dres. med. S.________, M.________ und A.________ sowie der Schmerzklinik Y.________ gelangte das kantonale Gericht nach Würdigung der medizinischen Aktenlage zur Auffassung, dass auf das Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ in Verbindung mit dessen Ergänzungsbericht abzustellen sei. Es erkannte dieser medizinischen Beurteilung volle Beweiskraft im Sinne von BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 zu, und hielt gestützt darauf fest, dass der Beschwerdeführerin - trotz eines chronischen zervikozephalen und zervikobrachialen Schmerzsyndroms mit multiplen funktionellen Beschwerden, einer Schmerzverarbeitungsstörung und eines Status nach Kontusion der linken Körperseite beim Autounfall vom 18. November 2001 - die angestammte wie auch jede andere, körperlich leichte bis intermittierend mittelschwer belastende Tätigkeit ohne Einschränkungen zumutbar ist. 
 
3.2 Diese Tatsachenfeststellungen (E. 1.2 hievor) sind für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich. Die Versicherte beschränkt sich über weite Teile (Ziff. 7 bis 30 sowie 34 f. der letztinstanzlichen Beschwerdeschrift) auf Wiederholungen der Vorbringen im kantonalen Verfahren. Soweit sie sich mit appellatorischer Kritik gegen die Beweiswürdigung und die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz wendet, ist darauf nicht einzutreten. Insbesondere ist es - entgegen der Beschwerdeführerin - im Rahmen der eingeschränkten Sachverhaltskontrolle (Art. 97 Abs. 1 BGG) nicht Aufgabe des Bundesgerichts, die schon im vorinstanzlichen Verfahren im Recht gelegenen medizinischen Berichte neu zu würdigen und die rechtsfehlerfreien Tatsachenfeststellungen des kantonalen Gerichts hinsichtlich der medizinisch begründeten Einschränkung des funktionellen Leistungsvermögens und des Ausmasses der trotz gesundheitlicher Einschränkungen verbleibenden (Rest-) Arbeitsfähigkeit (E. 1.2 hievor) zu korrigieren. Unter den gegebenen Umständen ist selbst bei Abstellen auf die unbewiesene Behauptung (vgl. Urteil I 1094/06 vom 14. November 2007 E. 3.1.2) der Versicherten, wonach das psychiatrische Explorationsgespräch nur rund eine Stunde gedauert habe, keineswegs auf die fehlende Aussagekraft der interdisziplinären Beurteilung des ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ zu schliessen, lässt sich doch kein allgemein gültiger Zeitrahmen für eine solche Untersuchung definieren und kann sogar ein reines Aktengutachten gegebenenfalls voll beweiswertig sein (SZS 2008 S. 393, I 1094/06 vom 14. November 2007 E. 3.1.1). Schliesslich ist festzuhalten, dass gestützt auf die Feststellung des Gesundheitsschadens gemäss Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ aus interdisziplinärer Sicht für körperlich leichte bis intermittierend mittelschwere Tätigkeiten und somit auch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Fabrikmitarbeiterin eine Arbeits- und Leistungsfähigkeit von 100 % besteht (Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ S. 20). An dieser Beurteilung hielten die Gutachter des ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ nicht nur mit Blick auf die abweichenden Einschätzungen der Dres. med. S.________, M.________ und A.________ fest. Die Ergebnisse der interdisziplinären Begutachtung stimmen vielmehr mit verschiedenen früheren spezialärztlichen Beurteilungen überein; so vermochten weder Dr. med. K.________, leitender Psychiater der Klinik Z.________, noch Dr. med. E.________, Neurologe der Rehaklinik C.________, oder der Psychiater Dr. med. I.________ einen objektivierbaren Gesundheitsschaden zu erheben, welcher eine vom Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstituts X.________ abweichende Einschränkung der Leistungsfähigkeit begründete. 
 
3.3 In der Beschwerde wird nichts vorgebracht, was auf eine offensichtlich unrichtige oder auf einer Bundesrechtsverletzung beruhende Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts im Sinne von Art. 97 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 95 lit. a BGG schliessen liesse, welche einer Berichtigung nach Art. 105 Abs. 2 BGG zugänglich wäre. Ist demnach gestützt auf die vorinstanzliche Tatsachenfeststellung davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin in der angestammten und jeder anderen, körperlich leichten bis intermittierend mittelschweren Tätigkeit trotz der geklagten Beschwerden zumutbarerweise voll leistungsfähig ist, braucht nicht geprüft zu werden, ob ihr in Anwendung der Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen (BGE 131 V 49, 130 V 352) ausnahmsweise die willentliche Schmerzüberwindung und damit der Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar war. Die mit angefochtenem Entscheid bestätigte Verneinung eines Anspruchs auf Leistungen der Invalidenversicherung ist bundesrechtskonform. 
 
4. 
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4. 
Rechtsanwalt Michael B. Graf wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- ausgerichtet. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 9. März 2009 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Ursprung Hochuli