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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_149/2023  
 
 
Urteil vom 13. Juli 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Hurni, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, I. Abteilung, Postfach 1356, 6301 Zug. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Rechtsverweigerung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts 
des Kantons Zug, I. Beschwerdeabteilung, vom 15. Mai 2023 (BS 2023 11). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, I. Abteilung, führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen sexueller Handlungen mit Kindern und mehrfacher Pornografie. Am 9. Mai 2022 stellten die Strafbehörden bei einer Hausdurchsuchung an seinem Wohnort diverse Datenträger sicher. Er wurde am 11. Mai 2022 festgenommen und befindet sich seither in Haft. 
 
B.  
Mit Eingabe vom 5. Januar 2023 ersuchte A.________ - nebst seiner Haftentlassung - um unverzügliche Vernichtung der Randdatenerhebungen, die Entfernung der Folgebeweise aus den Strafakten und die Retournierung der beschlagnahmten Gegenstände in einwandfreiem Zustand. 
Mit Verfügung vom 9. Januar 2023 beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft die bei der Hausdurchsuchung sichergestellten Datenträger. A.________ erhob in der Folge Beschwerde gegen diese Verfügung, die von der I. Beschwerdeabteilung des Obergerichts des Kantons Zug abgewiesen wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde ist zurzeit vor Bundesgericht hängig (Verfahren 7B_148/2023). 
Am 23. Januar 2023 ersuchte A.________ die Staatsanwaltschaft, eine anfechtbare Verfügung betreffend seine Anträge vom 5. Januar 2023 zu erlassen. Nachdem das Zwangsmassnahmengericht über das Haftentlassungsgesuch entschieden hatte, teilte ihm die Staatsanwaltschaft am 31. Januar 2023 mündlich mit, dass sie in Bezug auf die beantragte Vernichtung der Daten keine Verfügung erlassen werde. Daraufhin reichte A.________ bei der I. Beschwerdeabteilung eigenhändig Beschwerde wegen Rechtsverweigerung ein. Die I. Beschwerdeabteilung wies die Beschwerde mit Beschluss vom 15. Mai 2023 ab. 
 
C.  
Mit eigenhändiger Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ vor Bundesgericht, der Beschluss vom 15. Mai 2023 sei aufzuheben, die Staatsanwaltschaft oder die "aktuelle Verfahrensleitung" sei unverzüglich anzuweisen, innert zwei Arbeitstagen die von ihm bezeichneten Beweismittel entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zu vernichten, auszusondern, in einwandfreiem Zustand zu retournieren oder eine anfechtbare Verfügung hierüber zu erlassen. Weiter seien die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen im Endentscheid zu vermerken. Eventualiter sei die Verwertbarkeit der Beweismittel durch das Bundesgericht zu prüfen. In prozessualer Hinsicht beantragt der Beschwerdeführer, das Urteil sei noch vor der Hauptverhandlung zu fällen. 
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden kann, und hat im Übrigen auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft schliesst auf Abweisung der Beschwerde und hat darüber hinaus ebenfalls auf Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf die Beschwerde eingetreten werden kann (Art. 29 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 1 i.V.m. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 145 II 168 E. 1; 145 I 239 E. 2; je mit Hinweisen). Die Sachurteilsvoraussetzungen sind in der Beschwerdeschrift ausreichend zu substanziieren, soweit sie nicht offensichtlich erfüllt erscheinen (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 148 IV 155 E. 1.1; 141 IV 289 E. 1.3; je mit Hinweisen).  
 
1.2. Den Antrag, das Urteil noch vor der Hauptverhandlung zu fällen, begründet der Beschwerdeführer nicht weiter (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG), und er stellt auch kein Gesuch um aufschiebende Wirkung (vgl. Art. 103 Abs. 3 BGG) oder Anordnung von vorsorglichen Massnahmen (Art. 104 BGG), weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist.  
 
1.3. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer strafrechtlichen Angelegenheit, gegen den die Beschwerde in Strafsachen offensteht (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG). Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren nicht ab; es handelt sich um einen Zwischenentscheid. Nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist er nur anfechtbar, wenn er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann. Ein solcher droht dem Beschwerdeführer jedenfalls hinsichtlich der von ihm verlangten Aussonderung und Vernichtung der angeblichen Randdatenerhebungen auf Grund von Art. 277 StPO (vgl. BGE 144 IV 127 E. 1.3.1; 143 IV 387 E. 4.4; 141 IV 289 E. 1.3; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ist zudem gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.  
 
2.  
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots. Das sich aus Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 5 StPO ergebende Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörden, das Strafverfahren zügig voranzutreiben (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 mit Hinweisen). Welche Verfahrensdauer angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Massgebend sind insoweit namentlich die Schwere des Tatvorwurfs und die Komplexität des Sachverhalts (BGE 143 IV 373 E. 1.3.1; 130 I 269 E. 3.1; je mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz in weniger als vier Monaten über die kantonale Beschwerde des Beschwerdeführers entschieden. Es ist dabei entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keine Verletzung des Beschleunigungsgebots ersichtlich. 
 
3.  
 
3.1. Weiter macht der Beschwerdeführer zusammengefasst geltend, die Strafbehörden hätten (insbesondere am 4. Mai 2022) sog. Randdaten ediert, ohne die dafür erforderliche Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts einzuholen. Dies führe gemäss Art. 277 StPO zur Unverwertbarkeit der edierten Randdaten, die sofort zu vernichten seien. Da die Hausdurchsuchung vom 9. Mai 2022 einzig aufgrund dieser Randdatenerhebung durchgeführt worden sei, müssten folglich nach der "fruit of the poisonous tree"-Regel auch die bei der Hausdurchsuchung beschlagnahmten Beweismittel als sog. Folgebeweise sofort aus den Strafakten entfernt werden. Unverwertbare Beweise seien eigentlich von Amtes wegen aus den Strafakten zu entfernen. Indem die Staatsanwaltschaft trotz seines Antrags, die fraglichen Beweismittel aus den Akten zu entfernen, untätig geblieben sei, habe sie sein Recht auf wirksame innerstaatliche Beschwerde verletzt. Die Vorinstanz habe dies verkannt und damit Bundesrecht verletzt.  
 
3.2. Die Vorinstanz erwägt, von einer formellen Rechtsverweigerung könne keine Rede sein, da die I. Beschwerdeabteilung bereits in einem vorangegangenen Haftverfahren mit Beschluss vom 22. Oktober 2022 festgehalten habe, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Rückgabe der beschlagnahmten Geräte und Datenträger habe und dieser Entscheid vom Bundesgericht mit Urteil 1B_595/2022 vom 23. Dezember 2022 geschützt worden sei. Die Staatsanwaltschaft stelle sich daher zu Recht auf den Standpunkt, dass das Sachgericht sowohl über die Verwertbarkeit der erhobenen Beweise als auch über die Herausgabe der Datenträger zu entscheiden habe. Die Staatsanwaltschaft habe keinen Anlass gehabt, im Rahmen einer anfechtbaren Verfügung über die Vernichtung oder Aussonderung der vom Beschwerdeführer bezeichneten Beweismittel zu befinden.  
 
3.3. Der in Art. 29 Abs. 1 BV garantierte Anspruch auf gerechte Behandlung in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen umfasst als Teilgehalt das Verbot der formellen Rechtsverweigerung (BGE 144 II 184 E. 3.1; Urteile 2C_1052/2021 vom 27. Dezember 2022 E. 4.1; 1C_588/2019 vom 5. August 2020 E. 2.3). Im engeren Sinne liegt eine solche vor, wenn eine rechtsanwendende Behörde auf eine Eingabe nicht eintritt oder eine solche ausdrücklich oder stillschweigend nicht an die Hand nimmt und behandelt, obwohl sie dazu verpflichtet wäre. Ob eine Rechtsverweigerung vorliegt, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 144 II 184 E. 3.1; 142 III 154 E. 4.2; 135 I 6 E. 2.1; je mit Hinweisen).  
 
3.4. Die Frage der Verwertbarkeit von Beweismitteln ist grundsätzlich dem Sachgericht bzw. der den Endentscheid fällenden Strafbehörde zu unterbreiten (vgl. Art. 339 Abs. 2 lit. d StPO). Vom Sachgericht kann erwartet werden, dass es in der Lage ist, die unzulässigen Beweise von den zulässigen zu unterscheiden und sich bei der Würdigung ausschliesslich auf Letztere zu stützen (BGE 148 IV 137 E. 5.7; 143 IV 475 E. 2.7, 387 E. 4.4; je mit Hinweisen). Dies schliesst indes nicht aus, dass ausnahmsweise bereits im Vorverfahren über die Verwertbarkeit von Beweismitteln entschieden wird. Eine solche Ausnahme liegt insbesondere vor, wenn das Gesetz ausdrücklich die sofortige Rückgabe aus den Akten bzw. Vernichtung rechtswidriger Beweise vorsieht (vgl. namentlich Art. 277 StPO) oder aufgrund des Gesetzes oder der Umstände des Einzelfalles die Unverwertbarkeit bereits ohne Weiteres feststeht. Derartige Umstände können allerdings nur angenommen werden, wenn die betroffene Person ein besonders gewichtiges rechtlich geschütztes Interesse an der unverzüglichen Feststellung der Unverwertbarkeit des Beweises geltend macht (BGE 146 I 11 E. 4.2; 143 IV 387 E. 4.4; 141 IV 284 E. 2.3; je mit Hinweisen).  
 
3.5. Die Beschwerde ist teilweise begründet: Entgegen der Auffassung der Vorinstanz hat das Bundesgericht mit Urteil 1B_595/2022 den Antrag des Beschwerdeführers auf Rückgabe bzw. Vernichtung der bei der Hausdurchsuchung sichergestellten und in der Folge beschlagnahmten Datenträger nicht geprüft. Vielmehr hielt es fest, Gegenstand des Verfahrens könne nur die Frage der Haftentlassung bilden (vgl. Urteil 1B_595/2022 vom 23. Dezember 2022 E. 1.2). Aus den Vorakten geht indes hervor, dass die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 9. Januar 2023 formell die Beschlagnahme der fraglichen Datenträger verfügte, wogegen der Beschwerdeführer derzeit vor Bundesgericht auch Beschwerde führt (Verfahren 7B_148/2023). Insofern hat die Staatsanwaltschaft den Antrag des Beschwerdeführers vom 5. Januar 2023 an die Hand genommen und behandelt. Die geltend gemachte Rechtsverweigerung ist in diesem Umfang zu verneinen. Soweit jedoch aus dem angefochtenen Beschluss ersichtlich, hat die Staatsanwaltschaft die restlichen Anträge des Beschwerdeführers vom 5. Januar 2023 bisher noch nicht geprüft. Konkret handelt es sich dabei um die beantragte Vernichtung der angeblich unzulässigen Randdatenerhebungen und der Folgebeweise (soweit dies nicht die bei der Hausdurchsuchung sichergestellten Datenträger sind). Nach der zitierten Rechtsprechung ist der Beschwerdeführer grundsätzlich berechtigt, die Frage der Verwertbarkeit von Beweismitteln in Ausnahmefällen bereits im Vorverfahren aufzuwerfen. Die Staatsanwaltschaft hätte deshalb - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - prüfen müssen, ob die entsprechenden Voraussetzungen im Hinblick auf diese Anträge erfüllt sind. Indem sie dies nicht tat, hat sie Bundesrecht verletzt.  
 
4.  
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. 
Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Sache gemäss dem Eventualantrag des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen zurückzuweisen, da die Angelegenheit nicht spruchreif ist. Darüber hinaus ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird damit hinfällig. Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Beschluss vom 15. Mai 2023 der I. Beschwerdeabteilung des Obergerichts des Kantons Zug wird aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, I. Abteilung, und dem Obergericht des Kantons Zug, I. Beschwerdeabteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. Juli 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern