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Urteilskopf

143 III 233


38. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_297/2016 vom 2. Mai 2017

Regeste

Abänderung des Unterhaltsbeitrages für die Dauer des Scheidungsverfahrens infolge veränderter Verhältnisse; Rechtsmissbrauch (Art. 179 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 ZGB).
Vermindert der Unterhaltspflichtige sein Einkommen in Schädigungsabsicht, ist eine Abänderung der Unterhaltsleistung selbst dann ausgeschlossen, wenn die Einkommensreduktion nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (Änderung der Rechtsprechung; E. 3).

Sachverhalt ab Seite 234

BGE 143 III 233 S. 234

A. Mit Eingabe vom 22. März 2013 begehrte B. (Ehemann) beim Zivilgericht Basel-Stadt die Scheidung der Ehe mit A. (Ehefrau). Mit Entscheid vom 1. Mai 2013 wurde er verpflichtet, der Ehefrau für die Dauer der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 1'520.- bis 31. August 2013 und von Fr. 3'000.- ab September 2013 zu entrichten.

B.

B.a Am 2. August 2015 ersuchte der Ehemann um Reduktion des Unterhaltsbeitrages für die Ehefrau auf monatlich Fr. 1'500.- resp. Fr. 500.-. Die Ehefrau widersetzte sich diesem Begehren. Mit Entscheid vom 10. November 2015 hob der Instruktionsrichter des Zivilgerichts Basel-Stadt den monatlichen Unterhaltsbeitrag für die Ehefrau für die Dauer des Scheidungsverfahrens rückwirkend per 1. Juli 2015 auf.

B.b Am 1. März 2016 hiess der Ausschuss des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt (nachfolgend: Appellationsgericht) die Berufung der Ehefrau teilweise gut und änderte die erstinstanzliche Unterhaltsregelung für die Ehefrau ab. Der vom Ehemann an den Unterhalt der Ehefrau zu bezahlende Unterhaltsbeitrag von Fr. 3'000.- wurde per 1. August 2015 auf Fr. 500.- reduziert und mit Wirkung per 1. September 2015 aufgehoben.

C. Die Ehefrau (nachfolgend: Beschwerdeführerin) hat am 22. April 2016 (Postaufgabe) gegen den vorgenannten Entscheid des Appellationsgerichts beim Bundesgericht Beschwerde erhoben. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und das Begehren des Ehemannes (nachfolgend: Beschwerdegegner) um Aufhebung des Ehegattenunterhalts für die Dauer des Scheidungsverfahrens abzuweisen. Der Beschwerdegegner hat sich am 16. Februar 2017 vernehmen lassen. Er schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht hebt die kantonalen Entscheide auf und weist das Gesuch des Beschwerdegegners um Abänderung des Ehegattenunterhalts für die Dauer des Scheidungsverfahrens ab.
(Zusammenfassung)
BGE 143 III 233 S. 235

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Abänderungsgrund bildet die veränderte Einkommenslage beim Beschwerdegegner. Die erste Instanz hat dessen seit Januar 2015 bestehende Arbeitslosigkeit berücksichtigt und dabei angenommen, der Beschwerdegegner habe seine Arbeitsstelle nicht freiwillig, sondern einzig deshalb gekündigt, weil ihm die Auflösung des Arbeitsverhältnisses von seiner Arbeitgeberin nahegelegt worden sei. Das Appellationsgericht hat geprüft, ob die Kündigung als eigenmächtiges, mithin rechtsmissbräuchliches Verhalten zu werten sei, das einer Abänderung der Eheschutzmassnahmen entgegensteht. Als Ergebnis seiner Würdigung der tatsächlichen Gegebenheiten ist es zum Schluss gelangt, die Beschwerdeführerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Beschwerdegegner ausschliesslich zu ihrer Schädigung erfolgt sei. Das Appellationsgericht hat daher - wie die erste Instanz - dem Beschwerdegegner kein hypothetisches Einkommen angerechnet.

3.2 Bei der Bemessung des Unterhaltsbeitrages ist grundsätzlich vom tatsächlich erzielten Einkommen des Unterhaltspflichtigen auszugehen. Soweit dieses Einkommen allerdings nicht ausreicht, um den ausgewiesenen Bedarf zu decken, kann ein hypothetisches Einkommen angerechnet werden, sofern dieses zu erreichen zumutbar und möglich ist ( BGE 137 III 118 E. 2.3). Dabei handelt es sich um zwei Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen. Damit ein Einkommen überhaupt oder höheres Einkommen angerechnet werden kann, als das tatsächlich erzielte, genügt es nicht, dass der betroffenen Partei weitere Anstrengungen zugemutet werden können. Vielmehr muss es auch möglich sein, aufgrund dieser Anstrengungen ein höheres Einkommen zu erzielen. Mit Bezug auf das hypothetische Einkommen ist Rechtsfrage, welche Tätigkeit aufzunehmen als zumutbar erscheint. Tatfrage bildet hingegen, ob die als zumutbar erkannte Tätigkeit möglich und das angenommene Einkommen effektiv erzielbar ist ( BGE 137 III 118 E. 2.3).

3.3 In BGE 128 III 4 E. 4, einem Fall, in welchem die Vorinstanz in einem Abänderungsverfahren dem Unterhaltsschuldner allein deshalb ein hypothetisches Einkommen in der Höhe des Bisherigen anrechnete, weil er seine frühere Stellung freiwillig aufgegeben hatte, erwog das Bundesgericht gestützt auf die bisherige Rechtsprechung, "[s]elbst bei Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit in
BGE 143 III 233 S. 236
Schädigungsabsicht darf dem rechtsmissbräuchlich handelnden Ehegatten ein hypothetisches Einkommen nur angerechnet werden, wenn er die Verminderung seiner Leistungskraft rückgängig machen kann". Es wies allerdings darauf hin, dass der bundesgerichtlichen Rechtsprechung teilweise Kritik erwachsen sei. Es werde vertreten, dass dem Ehegatten, der sein Einkommen böswillig vermindert, ein hypothetisches Einkommen selbst dann angerechnet werden soll, wenn sich die Verminderung nicht mehr rückgängig machen lässt. Das Bundesgericht hat sich indes dieser Kritik nicht gestellt, weil seiner Ansicht nach im konkreten Fall keine Anzeichen dafür bestanden, dass der Unterhaltsschuldner seine frühere Stellung mut- oder böswillig aufgegeben hatte. Im Urteil 5C.15/2002 vom 27. Februar 2002 deutete das Bundesgericht seine Bereitschaft an, in einem geeigneten Fall auf die Frage zurückzukommen, ob und in welchem Masse eine freiwillige Einkommensverminderung zu berücksichtigen ist, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (E. 3c).
In späteren Entscheiden, die ein Abänderungsverfahren zum Gegenstand hatten, erwog das Bundesgericht regelmässig, eine Abänderung sei ausgeschlossen, wenn die vermeintlich neue Sachlage durch eigenmächtiges, widerrechtliches, mithin rechtsmissbräuchliches Verhalten herbeigeführt worden ist (statt vieler: BGE 141 III 376 E. 3.3.1; zuletzt: Urteil 5A_69/2016 vom 14. März 2016 E. 2.3). Es fällt jedoch auf, dass in keinem dieser Urteile die Abänderung wegen eigenmächtigen, widerrechtlichen oder rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Unterhaltsschuldners verweigert wurde. Einzig im Urteil 5A_299/2012 vom 21. Juni 2012 war die Freiwilligkeit der Einkommensreduktion Thema; die Vorinstanz hatte dem Unterhaltsschuldner aber auf dem Weg einer Motivsubstitution ein hypothetisches Einkommen angerechnet und damit die Wiedererlangung der ursprünglichen Leistungsfähigkeit für tatsächlich möglich gehalten.

3.4 Die in BGE 128 III 4 zitierte Lehrmeinung geht dahin, dem Ehegatten, der sein Einkommen böswillig vermindert, sei ein hypothetisches Einkommen selbst dann anzurechnen, wenn die Einkommensverminderung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind diese Überlegungen nicht unbekannt: Im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege ist bei der Bestimmung der Bedürftigkeit nicht von hypothetischen, sondern von den tatsächlichen finanziellen Verhältnissen auszugehen. Prozessarmut ist grundsätzlich nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil es der gesuchstellenden Person möglich wäre,
BGE 143 III 233 S. 237
ein höheres Einkommen zu erzielen, als sie in Wirklichkeit erzielt. Dasselbe gilt sinngemäss für die Beurteilung der Vermögensverhältnisse. Die Berücksichtigung von allfälligem Vermögen setzt voraus, dass dieses im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs tatsächlich vorhanden und verfügbar ist (Urteil 5A_590/2009 vom 6. Januar 2010 E. 3.1.1 mit Hinweisen). Die unentgeltliche Rechtspflege darf nicht deshalb verweigert werden, weil die gesuchstellende Person ihre Mitellosigkeit selbst verschuldet hat ( BGE 108 Ia 108 E. 5b; BGE 104 Ia 31 E. 4 S. 34; BGE 99 Ia 437 E. 3c S. 442; 58 I 285 E. 5 S. 292). Auch der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege steht indessen unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Die unentgeltliche Rechtspflege ist zu verweigern, wo die gesuchstellende Person gerade im Hinblick auf den zu führenden Prozess auf ein Einkommen verzichtet oder sich gewisser Vermögenswerte entäussert hat, nur um auf Staatskosten prozessieren zu können ( BGE 126 I 165 E. 3b S. 166; BGE 104 Ia 31 E. 4 S. 34; Urteile 5A_86/2012 vom 22. März 2012 E. 4.1; 5A_590/2009 vom 6. Januar 2010 E. 3.3.1). Im Lichte dieser Überlegungen und der begründeten Kritik der Lehre kann an der in BGE 128 III 4 E. 4 wiedergegebenen Rechtsprechung nicht festgehalten werden. Vermindert der Unterhaltspflichtige sein Einkommen in Schädigungsabsicht, so ist eine Abänderung der Unterhaltsleistung selbst dann auszuschliessen, wenn die Einkommensverminderung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. (...)

Inhalt

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Sachverhalt

Erwägungen 3

Referenzen

BGE: 128 III 4, 137 III 118, 104 IA 31, 141 III 376 mehr...

Artikel: Art. 179 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 ZGB, ; 58 I 285, Art. 2 Abs. 2 ZGB