Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_221/2007 
 
Urteil vom 16. Januar 2008 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann, 
Gerichtsschreiber Thönen. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Walter A. Stöckli, 
 
gegen 
 
1. Rolf Dittli, Obergerichtspräsident, Obergericht des Kantons Uri, Rathausplatz 2, 6460 Altdorf, 
2. A.________, 
3. B.________, 
4. C.________, 
Beschwerdegegner, Nr. 2 und 3 vertreten durch Rechtsanwältin Ruth Wipfli Steinegger, 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Uri, Marktgasse 6, Postfach 933, 6460 Altdorf. 
 
Gegenstand 
Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 31. August 2007 des Obergerichts des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ wurde mit Urteil des Landgerichts Uri vom 16./17. April und 2. Mai 2007 des Mordes durch Unterlassen, des Entziehens von Unmündigen, des Diebstahls und des geringfügigen Diebstahls für schuldig befunden und zu elf Jahren Freiheitsstrafe und Fr. 210.-- Busse (ersatzweise drei Tage Freiheitsstrafe) verurteilt. 
B. 
Mit Berufung an das Obergericht des Kantons Uri beantragte X.________ nebst Freispruch den Ausstand von Obergerichtspräsident Rolf Dittli und vier weiteren Richtern. Die Befangenheit des Obergerichtspräsidenten gründe in dessen Schreiben vom 19. Oktober 2006 an die Landgerichtspräsidentin Uri. Daraufhin sei gegen ihn eine Aufsichtsbeschwerde an den Landrat des Kantons Uri angehoben worden. 
 
Mit Beschluss vom 31. August 2007 wies das Obergericht des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, die Ausstandsbegehren ab, soweit es darauf eintrat. Das Obergericht beurteilte die Ausstandsgesuche in einem separaten Verfahren unter Ausschluss der abgelehnten Richter. Betreffend den Obergerichtspräsidenten wird im Beschluss des Obergerichts ausgeführt, er habe das Schreiben vom 19. Oktober 2006 in seiner Funktion als Präsident der Aufsichtskommission über die richterlichen Behörden und die Rechtsanwälte verfasst. Er sei für die beförderliche Erledigung des Strafverfahrens gegen X.________ besorgt gewesen und habe dabei auch im Interesse der Angeschuldigten gehandelt. Materiell habe er sich zur Sache nie geäussert. Die derzeit beim Landrat hängige Aufsichtsbeschwerde sei vom Strafverfahren gegen die Angeschuldigte unabhängig und betreffe nur die aufsichtsrechtliche, nicht die richterliche Tätigkeit des Abgelehnten. Ein Ausstandsgrund sei nicht ersichtlich. 
C. 
Mit Beschwerde an das Bundesgericht vom 3. Oktober 2007 beantragt X.________, Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Beschlusses des Obergerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Obergerichtspräsident im in dieser Sache hängigen Strafverfahren in den Ausstand zu treten habe. Eventuell sei die Sache zum Neuentscheid an das Obergericht zurückzuweisen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
D. 
Der abgelehnte Obergerichtspräsident beantragt in der Vernehmlassung vom 6. November 2007 die Abweisung der Beschwerde. Der Rechtsvertreter der Angeschuldigten habe vor den letzten Richterwahlen vom 11. März 2007 immer wieder mit einer "politischen Remedur" und dem Gang an die Öffentlichkeit gedroht. Das Strafverfahren gegen X.________ vor dem Landgericht Uri habe überlang gedauert und das Landgericht habe sich in einer besonderen personellen Situation befunden (Ausstand der beiden Juristen der Richterbank und des Strafgerichtsschreibers, Kündigung des Landgerichtsschreibers). Es falle in die Kompetenz der Aufsichtsbehörde, Rechtsverzögerungen zu verhindern. Es sei unbekannt gewesen, wie sich das Landgericht für die neue Amtsdauer ab 1. Juni 2007 zusammensetzen werde. Der Obergerichtspräsident fährt fort, er fühle sich betreffend das Strafverfahren gegen die Angeschuldigte nicht befangen und habe sich über die Stichhaltigkeit der Anklage zu keinem Zeitpunkt geäussert. 
 
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Uri haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
E. 
Nachdem X.________ auf ihr Gesuch Akteneinsicht gewährt worden war (Verfügung vom 22. November 2007), hat sie sich mit Replik vom 27. November 2007 geäussert. Dazu hat der Obergerichtspräsident am 10. Dezember 2007 eine Duplik eingereicht. Das Obergericht hat auf eine weitere Stellungnahme verzichtet. Die eingegangenen Stellungnahmen wurden den Parteien mit Verfügung vom 21. Dezember 2007 zugestellt. 
 
Die übrigen Verfahrensbeteiligten - A.________, B.________ und C.________ - haben sich nicht vernehmen lassen. 
 
Erwägungen: 
1. 
Der Beschluss des Obergerichts erging nach dem 1. Januar 2007. Gemäss Art. 132 Abs. 1 BGG ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG, SR 173.110) anwendbar. 
 
Es handelt es sich um einen letztinstanzlichen (Art. 80 BGG), selbständig eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren (Art. 92 BGG), der sich auf kantonales Strafprozessrecht abstützt (Art. 78 Abs. 1 BGG, Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001, S. 4313). Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG zulässig. Auf das rechtzeitig eingelegte Rechtsmittel ist einzutreten. 
2. 
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Anspruchs auf einen verfassungsmässigen Richter gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Der Obergerichtspräsident sei befangen, weil er sich in seinem Schreiben vom 19. Oktober 2006 in das damals vor Landgericht Uri hängige Mordverfahren unbefugt eingemischt habe. Überdies sei gegen ihn ein Aufsichtsverfahren beim Landrat des Kantons Uri hängig. 
2.2 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, die in dieser Hinsicht dieselbe Tragweite besitzen, hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem durch Gesetz geschaffenen, zuständigen, unabhängigen und unparteiischen Gericht ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob diese Garantien verletzt sind, prüft das Bundesgericht frei. 
 
Nach der Rechtsprechung sind Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt, wenn bei einem Richter - objektiv betrachtet - Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen (BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116 mit Hinweisen). Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Für den Ausstand wird nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken (BGE 131 I 24 E. 1.1 S. 25 mit Hinweisen). Mit anderen Worten muss gewährleistet sein, dass der Prozess aus Sicht aller Beteiligten als offen erscheint (BGE 133 I 1 E. 6.2 S. 6). 
3. 
3.1 Die Beschwerdeführerin beschränkt ihre Beschwerde auf das Ausstandsgesuch gegen den Obergerichtspräsidenten. Die weiteren vier Ausstandsgesuche werden von der Beschwerde nicht erfasst und bilden nicht Gegenstand des bundesgerichtlichen Verfahrens. 
3.2 Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin, Walter A. Stöckli, hat in eigenem Namen am 18. Juni 2007 beim Landrat des Kantons Uri gegen den abgelehnten Obergerichtspräsidenten Aufsichtsbeschwerde wegen unstatthafter Einmischung in ein laufendes Strafverfahren erhoben. Mit dem Kantonsgericht ist festzuhalten, dass die Aufsichtsbeschwerde des Strafverteidigers allein keinen Ausstand zu rechtfertigen vermag. Andernfalls wäre es einer Partei möglich, einen Richter - unabhängig von objektiven Gründen - einseitig in den Ausstand zu versetzen, indem sie gegen ihn eine Aufsichtsbeschwerde einreicht. Es bestünde die Gefahr des Rechtsmissbrauchs und der Möglichkeit, dass der Gesuchsteller mit einem derartigen Vorgehen in verfassungswidriger Weise und aus sachfremden Gründen seinen Richter gewissermassen auswählen könnte (Urteil 1P.514/2002 vom 13. Februar 2003 E. 2.5 betreffend eine Strafanzeige). 
 
Im zu beurteilenden Fall kommt hinzu, dass die Aufsichtsbeschwerde beim Landrat hängig ist und kein Anlass besteht, dem Entscheid des Landrats vorzugreifen. Das Bundesgericht hat sich zu dieser Aufsichtsbeschwerde nicht weiter zu äussern. 
4. 
4.1 Gemäss dem Schreiben vom 19. Oktober 2006 - welches der Obergerichtspräsident in seiner Funktion als Aufsichtsorgan unterzeichnete - war das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin im damaligen Zeitpunkt rund zwei Jahre beim Landgericht Uri anhängig. Die Besetzung des Gerichtsschreibers des Landgerichts sei im damaligen Zeitpunkt unklar gewesen, nachdem der ursprünglich zur Mitwirkung vorgesehene Landgerichtsschreiber Georg Simmen seine Stelle gekündigt hatte. Gleichzeitig sei im damaligen Zeitpunkt beim Obergericht noch ein Ausstandsverfahren gegen Georg Simmen hängig gewesen. Bei dieser Sachlage scheint der Schluss einer drohenden Verfahrensverzögerung glaubhaft, so dass sich die Aufsichtsbehörde insoweit zu einem Eingriff veranlasst sehen konnte. 
4.2 Dem Schreiben vom 19. Oktober 2006 lassen sich jedoch auch Hinweise dafür entnehmen, dass der Obergerichtspräsident gegenüber dem Verteidiger der Beschwerdeführerin ein gewisses Misstrauen hegt. So vermutet der Richter, dass der Verteidiger eine Verzögerungsstrategie betreibe, zum einen, um die Urner Justiz am Beispiel des vorliegenden Strafverfahrens im Vorfeld der Richterwahlen zu kritisieren, zum anderen, um für seine Mandantin eine Strafmilderung infolge langer Verfahrensdauer zu erwirken. Die Beschwerdeführerin bestreitet dies insbesondere mit dem Hinweis, die befürchtete öffentliche Kritik sei unterblieben und die Ausübung ihr zustehender Verteidigungsrechte dürfe nicht als Verfahrensverzögerung bezeichnet werden. 
 
Nach der Rechtsprechung gilt es nicht die tatsächliche Voreingenommenheit, sondern - bei gebotener objektiver Betrachtung - bereits den Anschein von Voreingenommenheit zu vermeiden. Im Schreiben der Aufsichtsbehörde wird - teilweise nicht überprüfbare - Kritik am Strafverteidiger der Beschwerdeführerin geäussert und ein unnötiger Bezug zwischen dem Strafverfahren und den Richterwahlen hergestellt. Das Problematische daran ist, dass dies von der gleichen Person ausgeht, welche am Obergericht des Kantons Uri im Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin als Richter amten wird. Zu berücksichtigen ist auch, dass für die Beschwerdeführerin in diesem Verfahren viel auf dem Spiel steht, weil sie wegen eines schweren strafrechtlichen Vorwurfs (Mord) in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt wurde. Bei dieser Sachlage muss der Anschein der Voreingenommenheit des Obergerichtspräsidenten bejaht werden. Der Obergerichtspräsident hat in den Ausstand zu treten, da er sich als Aufsichtsorgan zur Verteidigung im Strafverfahren vorgängig in einer Weise geäussert hat, die seine Mitwirkung als Strafrichter im obergerichtlichen Verfahren ausschliesst. Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf ein verfassungsmässiges Gericht ist begründet. 
5. 
5.1 Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen, und der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, soweit er den Obergerichtspräsidenten betrifft. Die weiteren vier Ausstandsgesuche gehören nicht zum Verfahrensgegenstand vor Bundesgericht (E. 3.1); diesbezüglich bleibt der angefochtene Beschluss bestehen. 
5.2 Die Beschwerdeführerin verlangt überdies die Feststellung der Ausstandspflicht des Obergerichtspräsidenten. Das Bundesgericht ist im Falle der Gutheissung einer Beschwerde befugt, in der Sache selbst zu entscheiden (Art. 107 Abs. 2 BGG). Da nach dem Gesagten feststeht, dass der Obergerichtspräsident im Berufungsverfahren nicht mitwirken darf, rechtfertigt sich ein Sachentscheid. Das Ausstandsgesuch ist gutzuheissen. 
5.3 Bei diesem Ausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Uri hat der obsiegenden Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird hinfällig. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und der Beschluss des Obergerichts des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, vom 31. August 2007 wird aufgehoben, soweit er den Ausstand des Obergerichtspräsidenten Rolf Dittli betrifft. 
2. 
Das Ausstandsgesuch gegen den Obergerichtspräsidenten Rolf Dittli wird gutgeheissen. 
3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
4. 
Der Kanton Uri hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft I und dem Obergericht des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 16. Januar 2008 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Thönen