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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
M 4/04 
 
Urteil vom 24. Januar 2005 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Fessler 
 
Parteien 
Bundesamt für Militärversicherung, Schermenwaldstrasse 10, 3001 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
R.________, 1973, Beschwerdegegner, vertreten 
durch Rechtsanwalt Dr. Claudius Kull, Glockengasse 18, 8023 Zürich 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur 
 
(Entscheid vom 11. Mai 2004) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1973 geborene R.________ erlitt am 5. Oktober 1994 während eines Urlaubs in der Rekrutenschule einen Auffahrunfall. Die Militärversicherung erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Mit Einspracheentscheid vom 18. Januar 2002 sprach das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) R.________ ab 1. Januar 2001 eine Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 100 % zu. Mit Verfügung vom 22. April 2003 sodann anerkannte die Militärversicherung für die bestehenden Restbeschwerden (somatoforme Schmerzstörung/posttraumatische Belastungsstörung) sowie für den Hörschaden (schwerer Tinnitus mit abnormer Lärmüberempfindlichkeit) gesamthaft einen Integritätsschaden von 17,5 Prozent. Gestützt darauf wurde dem Versicherten eine ab 1. August 2000 laufende, per 1. Mai 2003 von Amtes wegen auszukaufende Integritätsschadenrente gewährt. Mit Einspracheentscheid vom 9. Juli 2003 bestätigte das BAMV die Rente (Umfang des Anspruchs, Beginn und Höhe der Leistung). 
B. 
In Gutheissung der Beschwerde des R.________ hob das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden den Einspracheentscheid vom 9. Juli 2003 auf und wies die Sache zur nochmaligen Abklärung im Sinne der Erwägungen an das BAMV zurück (Entscheid vom 11. Mai 2004). 
C. 
Das BAMV führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben. 
R.________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. 
D. 
Das BAMV hat zur Vernehmlassung von R.________ Stellung genommen. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Streitgegenstand bildet die Integritätsschadenrente als Folge des am 5. Oktober 1994 während eines Urlaubs in der Rekrutenschule erlittenen Verkehrsunfalles (Art. 48 Abs. 1 MVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung). Dabei stellt sich einzig die Frage der Schwere des Integritätsschadens als Grundlage für die Bemessung der Leistung (Art. 49 Abs. 1 MVG). Nicht umstritten ist der Rentenbeginn am 1. August 2000. Aufgrund der Akten besteht kein Anlass zu einer näheren Prüfung dieses Punktes (BGE 125 V 415 Erw. 1b und 417 oben). 
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und die dazugehörige Verordnung vom 11. September 2002 (ATSV) haben am Begriff der Integritätsschadenrente und deren Bemessung gemäss Art. 48 f. MVG nichts geändert (Art. 1 Abs. 1 MVG in Verbindung mit Art. 2 ATSG). Die hiezu ergangene Rechtsprechung (vgl. BGE 122 V 245 ff. Erw. 4a und 5; ferner Jürg Maeschi, MVG-Kommentar, S. 366 ff., insbesondere N 18 f. zu Art. 48 und N 12 ff. zu Art. 49) hat somit grundsätzlich nach wie vor Gültigkeit. Für die Frage des intertemporal anwendbaren Rechts ist somit nicht von Belang, dass der Einspracheentscheid vom 9. Juli 2003 nach In-Kraft-Treten des ATSG erlassen wurde (vgl. BGE 130 V 318 und 329 sowie BGE 130 V 445). Die im Zuge der 4. IV-Revision (vgl. AS 2003 3837 ff. und 3859 ff.) erfolgte Änderung von Art. 48 Abs. 1 MVG hat am Bedeutungsgehalt dieser Bestimmung im Übrigen nichts geändert (vgl. BBl 2001 3304). 
2. 
Das BAMV setzte die Schwere des Integritätsschadens auf insgesamt 17,5 % fest. Davon entfallen 12,5 % auf die somatoforme Schmerzstörung sowie die posttraumatischen Kopfschmerzen und die neuropsychologischen Defizite. Die übrigen 5 % tragen dem schweren Tinnitus mit einer abnormen Lärmüberempfindlichkeit Rechnung. Bei beiden gesundheitlichen Beeinträchtigungen berücksichtigte das Bundesamt die damit verbundenen Einschränkungen in der allgemeinen Lebensgestaltung (Aufgabe der Musik, soziale Isolierung; Einspracheentscheid vom 9. Juli 2003). 
Nach Auffassung des kantonalen Gerichts trägt die Bemessung des Integritätsschadens des Bundesamtes den Einschränkungen in der allgemeinen Lebensgestaltung zu wenig Rechnung. Die Unfallfolgen führten beim Versicherten zu einer vollkommenen Aufgabe zahlreicher früherer Aktivitäten, wie sehr intensives Musizieren, Sport und Kontakt zu Dritten. Er müsse sich mit einer zunehmenden Vereinsamung auseinandersetzen und sei kaum noch fähig, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Aufgabe der bedeutendsten Freizeitbetätigungen wiege zudem deshalb besonders schwer, weil dem Versicherten aufgrund der vollständigen Erwerbsunfähigkeit der Zugang zu sozialen Kontakten wenigstens über die Arbeitswelt verwehrt sei. Es müsse somit von einer besonders schweren Beeinträchtigung der allgemeinen Lebensgestaltung ausgegangen werden, was mit einem gesamten Integritätsschaden von 17,5 % nur ungenügend berücksichtigt werde. Das BAMV habe daher - gemäss Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheides nach nochmaliger Abklärung - im Rahmen einer Neubemessung den Integritätsschaden gebührend zu erhöhen. 
3. 
Das Verwaltungsgerichtsbeschwerde führende Bundesamt rügt im Rahmen seiner materiellen Vorbringen gegen den Rückweisungsentscheid sinngemäss, das kantonale Gericht habe trotz Spruchreife der Sache die Schwere des Integritätsschadens nicht selber ermittelt. Insbesondere habe es nicht näher ausgeführt, aufgrund welcher Kriterien die Bemessung zu erfolgen habe. Dieser Einwand ist begründet. 
3.1 Die Vorinstanz hat den rechtserheblichen Sachverhalt in Bezug auf die körperlichen und psychischen Beschwerden als richtig und vollständig festgestellt erachtet. Die zuständigen Ärzte der Militärversicherung hätten den Versicherten umfassend und in Kenntnis der Vorakten eingehend untersucht. Auf deren Aussagen zu den eingeschränkten Lebensfunktionen könne daher abgestellt werden. Ebenfalls sind die Akten hinsichtlich der persönlichen Lebensumstände des Versicherten vor und nach dem Unfall vom 5. Oktober 1994 liquid. Dass und inwiefern weitere diesbezügliche Abklärungen neue verwertbare Erkenntnisse brächten, ist nicht ersichtlich. 
3.2 Unter diesen Umständen stellt die Rückweisung der Sache an das BAMV zu neuer Ermittlung der Schwere des Integritätsschadens in Würdigung aller Umstände nach billigem Ermessen (Art. 49 Abs. 1 MVG) eine Verweigerung des gerichtlichen Rechtsschutzes dar (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, S. 615 Rz 55 zu Art. 61; vgl. auch RKUV 1999 Nr. U 342 Erw. 3a und ARV 1996/1997 Nr. 18 S. 96 Erw. 5d). Die Vorgehensweise des kantonalen Gerichts ist auch mit dem in Art. 61 lit. a ATSG positiv-rechtlich normierten Beschleunigungsgebot gemäss Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht vereinbar (vgl. BGE 127 V 231 Erw. 2a und Urteil W. vom 24. Januar 2003 [I 614/02] Erw. 2.2). 
3.3 Das kantonale Gericht wird somit die Schwere des Integritätsschadens zu ermitteln und innert nützlicher Frist über die Integritätsschadenrente zu entscheiden haben. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid vom 11. Mai 2004 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zurückgewiesen wird, damit es über die Integritätsschadenrente entscheide. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zugestellt. 
Luzern, 24. Januar 2005 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: