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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
6B_377/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 7. November 2016  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin Jametti, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
handelnd durch Maria Delfina Coronado Castro, 
und diese substituiert durch Rechtsanwalt Werner Amrein, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, 
2. A.________, 
vertreten durch Fürsprecher Tonino Iadanza, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Beschwerde gegen Einstellungsverfügung; Zustellfiktion, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 26. Februar 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 18. September 2014 erschien die Mutter von X.________ bei der Polizei und gab an, ihr Sohn sei am 16. September 2014 im Schulheim Landorf in Köniz von A.________ geschlagen und gewürgt worden. 
 
B.  
Am 7. Dezember 2015 stellte die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland das Strafverfahren gegen A.________ ein. Dagegen erhob X.________ am 25. Januar 2016 Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Bern erachtete die Beschwerde als verspätet und trat am 26. Februar 2016 nicht darauf ein. 
 
C.  
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und dieses sei anzuweisen, auf seine Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung einzutreten. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Nach Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat, sofern er ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat. Bei der Privatklägerschaft wird in Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zusätzlich verlangt, dass der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann.  
Unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst kann die Privatklägerschaft die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt (BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 5; 136 IV 41 E. 1.4 S. 44; je mit Hinweisen). 
 
1.2. Zu seiner Legitimation führt der Beschwerdeführer aus, er sei als Privatkläger und Strafantragsteller zur Beschwerde berechtigt. Er habe am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und habe ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses. Dies genügte nicht zur Begründung seiner Legitimation in der Sache.  
Allerdings macht der Beschwerdeführer unter Hinweis auf Art. 9 und 29 BV geltend, die Vorinstanz sei zu Unrecht nicht auf seine Beschwerde eingetreten. Diese Beanstandung ist einer bundesgerichtlichen Überprüfung zugänglich. Auf die vorliegende Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe keine Einladung zur Abholung der Einstellungsverfügung erhalten und beantragt, dass der Postbote, welcher die Abholungseinladung zugestellt haben solle, als Zeuge befragt werde. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in der Beschwerde darzulegen ist. Hierbei handelt es sich um unechte Noven. Echte Noven sind vor Bundesgericht unbeachtlich (BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123; 140 III 16 E. 1.3.1 S. 18; 135 I 221 E. 5.2.4 S. 229 f.; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer übersieht, dass es nicht Aufgabe des Bundesgerichts ist, Beweise abzunehmen und Tatsachen festzustellen, über die sich das kantonale Gericht nicht ausgesprochen hat (BGE 136 III 209 E. 6.1 mit Hinweisen). 
 
3.  
 
3.1. Die Parteien können die Einstellungsverfügung innert 10 Tagen schriftlich und begründet bei der Beschwerdeinstanz anfechten (Art. 322 Abs. 2 StPO; Art. 396 Abs. 1 StPO). Fristen, die durch eine Mitteilung oder den Eintritt eines Ereignisses ausgelöst werden, beginnen am folgenden Tag zu laufen (Art. 90 Abs. 1 StPO). Eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als abgeholt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO). Bei eingeschriebenen Postsendungen gilt eine widerlegbare Vermutung, dass der oder die Postangestellte den Avis ordnungsgemäss in den Briefkasten oder in das Postfach des Empfängers gelegt hat und das Zustellungsdatum korrekt registriert worden ist. Es findet in diesem Fall eine Umkehr der Beweislast in dem Sinne statt, als bei Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten des Empfängers ausfällt, der den Erhalt der Abholungseinladung bestreitet. Diese Vermutung kann durch den Gegenbeweis umgestossen werden. Sie gilt so lange, als der Empfänger nicht den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung erbringt. Da der Nichtzugang einer Abholungseinladung eine negative Tatsache ist, kann dafür naturgemäss kaum je der volle Beweis erbracht werden. Die immer bestehende Möglichkeit von Fehlern bei der Poststelle genügt nicht, um die Vermutung zu widerlegen. Vielmehr müssen konkrete Anzeichen für einen Fehler vorhanden sein (Urteil 6B_175/2016 vom 2. Mai 2016 E. 2.3 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen).  
 
3.2. Die Vorinstanz erwägt, die Staatsanwaltschaft habe den Parteien am 9. Juli 2015 die Einstellung des Verfahrens in Aussicht gestellt und die Beweisanträge des Beschwerdeführers am 3. September 2015 abgewiesen. Am 10. November 2015 habe der Beschwerdeführer eine Kostennote zu den Akten gereicht, worauf ihn die Staatsanwaltschaft am 26. November 2015 ersucht habe, eine detaillierte Auflistung seiner Aufwendungen einzureichen, was am 1. Dezember 2015 geschehen sei. Der Beschwerdeführer habe damit rechnen müssen, dass die Staatsanwaltschaft kurz darauf das Verfahren einstellen würde. Die Einstellungsverfügung vom 7. Dezember 2015 sei denn auch am 18. Dezember 2015 versandt worden.  
Gemäss Auskunft der Schweizerischen Post AG seien keine Anhaltspunkte bekannt, die zu einer Unregelmässigkeit bei der Zustellung hätten führen können. Auch der Beschwerdeführer nenne keine konkreten Hinweise, die darauf schliessen liessen, die Abholungseinladung sei nicht ordnungsgemäss in seinen Briefkasten gelegt worden. Vielmehr gehe er wie die Schweizerische Post AG davon aus, die Abholungseinladung könnte allenfalls zwischen andere Sendungen, Zeitungen oder Werbeprospekte geraten sein. Mit seiner Annahme, er habe die Abholungseinladung nicht erhalten, vermöge er den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung nicht zu erbringen. Es müsse daher davon ausgegangen werden, die Abholungseinladung sei am 19. Dezember 2015 in den Briefkasten des Rechtsbeistands des Beschwerdeführers gelegt worden. 
Die Einstellungsverfügung gelte somit als am 28. Dezember 2015 [recte: 26. Dezember 2015] zugestellt. Die 10-tägige Beschwerdefrist habe folglich am 5. Januar 2016 geendet, so dass die am 25. Januar 2016 der Post übergebene Beschwerde verspätet erfolgt sei. 
 
3.3.  
 
3.3.1. Der Beschwerdeführer bestreitet, dass er mit einer Zustellung rechnen musste. Das Verfahren habe sich über 15 Monate hingezogen. Die verfahrensbezogenen Handlungen der Behörde seien «in sehr unregelmässigen Abständen» eingetroffen.  
 
3.3.2. Die Parteien sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte, welche das Verfahren betreffen, zugestellt werden können. Diese Obliegenheit dauert nicht unbeschränkt lange. Als Zeitraum, während dem die Zustellfiktion aufrechterhalten werden darf, ohne dass verfahrensbezogene Handlungen erfolgen, werden in der Literatur mehrere Monate bis etwa ein Jahr genannt. Das Bundesgericht erachtete in einem Steuerverfahren einen Zeitraum bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensbezogenen Handlung noch als vertretbar (Urteil 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen).  
 
3.3.3. Im vorliegenden Fall anerkennt der Beschwerdeführer selber, dass die letzte Korrespondenz mit der Staatsanwaltschaft am 1. Dezember 2015 ausgetauscht worden sei. Damit steht ausser Frage, dass er am 18. Dezember 2015 mit einer Zustellung rechnen musste, womit diese Voraussetzung von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO erfüllt ist.  
Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ändert daran nichts, dass die Staatsanwaltschaft eine sehr genaue Überprüfung seiner Kostennote in Aussicht gestellt habe oder dass die Einstellungsverfügung noch vom leitenden Staatsanwalt zu genehmigen gewesen sei. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Strafprozessordnung keine Gerichtsferien kennt und die Einstellungsverfügung vor den Festtagen zugestellt wurde. 
 
3.4.  
 
3.4.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, das Zustellsystem Track & Trace beweise nicht, dass die Abholungseinladung tatsächlich in seinen Briefkasten gelegt worden sei. Die Schweizerische Post AG könne nur vermuten, weshalb er die Abholungseinladung nicht im Briefkasten vorgefunden habe. Eine Vermutung sei aber kein Beweis.  
 
3.4.2. Damit verkennt der Beschwerdeführer, dass bei eingeschriebenen Postsendungen eine Umkehr der Beweislast stattfindet und die Vermutung gilt, die Abholungseinladung sei in den Briefkasten gelegt worden (vgl. oben E. 3.1).  
 
3.5.  
 
3.5.1. Die Vorinstanz stellt fest, der Beschwerdeführer habe die Vermutung, wonach die Abholungseinladung in seinen Briefkasten gelegt worden sei, nicht durch den Gegenbeweis umgestossen. Dabei wendet sie das zutreffende Beweismass an, indem sie den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung verlangt. Sie geht davon aus, dass die immer bestehende Möglichkeit von Fehlern bei der Poststelle nicht genügt, um die Vermutung zu widerlegen und verneint konkrete Anzeichen für einen Fehler.  
 
3.5.2. Der aus der Zugangsvermutung gezogene Schluss, der Gegenbeweis sei nicht erbracht, stellt Beweiswürdigung dar (Urteil 6B_175/2016 vom 2. Mai 2016 E. 2.3 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. auch Art. 105 Abs. 1 und 2). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 S. 253 mit Hinweis; vgl. zum Begriff der Willkür BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f.; 139 III 334 E. 3.2.5 S. 339; 138 I 49 E. 7.1 S. 51; je mit Hinweisen).  
Die Rüge der Verletzung von Grundrechten (einschliesslich Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung) muss in der Beschwerde anhand des angefochtenen Entscheids präzise vorgebracht und substanziiert begründet werden, anderenfalls darauf nicht eingetreten wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 S. 253; 139 I 229 E. 2.2 S. 232; je mit Hinweisen). 
 
3.5.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, er wisse selber nicht, weshalb er in seinem Briefkasten keine Abholungseinladung vorgefunden habe. Es sei willkürlich, wenn die Vorinstanz ihm nun «einen Strick drehen» wolle, weil er nicht behauptet habe, dass die Postboten keine Abholungseinladung in den Briefkasten gelegt hätten, und die Vermutung der Post nicht generell in Frage gestellt habe, wonach die Abholungseinladung allenfalls zwischen Sendungen oder Zeitungen geraten und dadurch seiner Aufmerksamkeit entgangen sei.  
Damit legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern die gegenteilige Beweiswürdigung der Vorinstanz schlechterdings unhaltbar sein soll. 
 
3.5.4. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss geltend, die Zustellfiktion möge sinnvoll sein, wenn eine Person bewusst eine Zustellung nicht abholen wolle oder sich querulatorisch verhalte, ohne den Behörden offenbaren zu wollen, dass er eine Annahme verweigerte, um die Aufgabe der Behörden zu erschweren. Sie mache aber dann keinen Sinn, wenn eine Person wie etwa ein Rechtsanwalt keinerlei Veranlassung habe, die Zustellung einer Verfügung zu verweigern. Es wäre sachgerechter und fairer, davon auszugehen, dass eine Zustellung tatsächlich erfolgen muss. Bei einem Rechtsanwalt, der eine Person vertritt, sei davon auszugehen, dass er keinerlei Interesse habe, eine Sendung nicht in Empfang zu nehmen. lm Gegenteil könnten ihm beim Nichtabholen einer Sendung aufgrund seiner beruflichen Sorgfaltspflicht nur Nachteile, Umstände und handfeste Probleme entstehen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung sei in rechtlicher Hinsicht problematisch und deshalb nicht haltbar, weil dem Empfänger so immer automatisch ein Verschulden vorgeworfen werden könne. Der Beschwerdeführer habe keine Möglichkeit gehabt, die Beschwerdefrist einzuhalten. Zwar habe er die nicht abgeholte Einstellungsverfügung noch mit A-Post erhalten, allerdings erst nach Ablauf der Beschwerdefrist. Das Ergebnis sei sehr stossend und nicht haltbar, weil faktisch immer ein Verschulden des Empfängers angenommen werden müsse.  
Auch hier legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern die Vorinstanz in Willkür verfallen sein soll, indem sie davon ausging, es lägen keine konkreten Anzeichen für einen Fehler bei der Zustellung vor. 
 
3.6. Soweit der Beschwerdeführer den erhöhten Begründungsanforderungen überhaupt genügt, legt er nicht dar, inwiefern die Vorinstanz in Willkür verfallen sein sollte, indem sie konkrete Anzeichen für einen Fehler bei der Zustellung der Abholungseinladung verneinte. Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, indem sie die Zustellungsfiktion von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO zur Anwendung bringt.  
 
4.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 7. November 2016 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt