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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1093/2022  
 
 
Urteil vom 2. August 2023  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, als präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiberin Pasquini. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis, Bahnhofplatz 10, Postfach, 8953 Dietikon, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Fristwiederherstellung (Berufungserklärung), 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 8. August 2022 (SB220076-O/U/hb-ad). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Bezirksgericht Horgen sprach A.________ mit Urteil vom 22. Juli 2021 der einfachen Körperverletzung, des Hausfriedensbruchs, der mehrfachen Drohung und der mehrfachen Tätlichkeiten schuldig. Es verurteilte ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten, einer bedingten Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu Fr. 60.-- und einer Busse von Fr. 1'300.--. 
Mit Eingabe vom 2. August 2021 meldete A.________ Berufung an. Das begründete Urteil des Bezirksgerichts Horgen nahm er am 3. Februar 2022 entgegen. 
 
B.  
 
B.a. Am 23. Februar 2022 reichte die Ehefrau von A.________ dem Obergericht des Kantons Zürich unter Beilage eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses ein Schreiben ein. Darin teilte sie mit, dass ihr Ehemann seit Längerem krank und einstweilen bis zum 25. Februar 2022 zu 100 % arbeitsunfähig sei.  
Mit Eingabe vom 21. März 2022 (erneut unter Beilage eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses) legte A.________ dar, er sei nun wieder zu 20 % arbeitsfähig. Dies reiche jedoch nicht aus, um die Berufungserklärung auszuarbeiten. 
 
B.b. Am 3. Mai 2022 stellte A.________ beim Obergericht des Kantons Zürich ein Gesuch für die Wiederherstellung der Frist. Der Säumnisgrund sei am 19. April 2022 weggefallen. Zur Begründung des Gesuchs brachte er zusammengefasst vor, aufgrund gesundheitlicher Beschwerden habe er die Berufungserklärung erst ab dem 19. April 2022 verfassen können. Am 5. Mai 2022 reichte A.________ u.a. ein "rektifiziertes" Arztzeugnis (welches dasjenige vom 5. April 2022 ersetze) ein.  
 
B.c. Die Berufungserklärung von A.________ ging beim Obergericht des Kantons Zürich am 19. Mai 2022 ein.  
 
C.  
Mit Beschluss vom 8. August 2022 trat das Obergericht des Kantons Zürich nicht auf die Berufungserklärung von A.________ ein. Es ging davon aus, er habe die versäumte Verfahrenshandlung nicht innert Frist nachgeholt. 
 
D.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 8. August 2022 sei vollumfänglich aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, auf seine Berufung einzutreten. Ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. 
Mit Verfügung vom 21. September 2022 wies die Präsidentin der damaligen strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts das Gesuch um aufschiebende Wirkung ab. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt, das Willkürverbot und der Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungs- sowie als Beweislastregel seien verletzt. Ausserdem habe die Vorinstanz den Sachverhalt nicht vollständig ermittelt. Sie verlange ein zu hohes Beweismass an die Begründung des Wiederherstellungsgesuchs, indem sie die Glaubhaftmachung einzig mit dem Argument verneine, seine Ehefrau habe ja das Wiederherstellungsgesuch vom 3. Mai 2022 instruiert verfassen können. Im Ergebnis verwehre sie ihm die Möglichkeit, Berufung einzulegen. Obwohl er auf Arztzeugnisse und auf die Erklärung seiner Ehefrau verwiesen habe, gehe die Vorinstanz willkürlich davon aus, die Frist für die Begründung der Berufung [recte: die Einreichung der Berufungserklärung] habe bereits am 4. April 2022 begonnen (Beschwerde S. 5 ff.).  
 
1.2. Die Vorinstanz erwägt im Wesentlichen, aus den Akten ergebe sich, dass der Beschwerdeführer spätestens ab dem 4. April 2022 in der Lage gewesen sei, ein Fristwiederherstellungsgesuch und damit auch eine Berufungserklärung zu verfassen. In seiner Eingabe vom 21. März 2022 sei er selber davon ausgegangen, der Säumnisgrund falle voraussichtlich ab dem 4. April 2022 weg. Zudem habe er am 20. April 2022 anlässlich eines Telefonats mit der zuständigen Gerichtsschreiberin erklärt, es gehe ihm inzwischen besser und er sei dabei, die Rechtsschriften zu verfassen. Er werde diese innert der von ihm berechneten Frist einreichen. Innerhalb dieser Frist habe der Beschwerdeführer denn auch ein mit 3. Mai 2022 datiertes Fristwiederherstellungsgesuch eingereicht. In dessen Begründung habe er das Datum des Wegfalls des Säumnisgrunds zwar vom 4. auf den 19. April 2022 verschoben, weil er trotz der vom Hausarzt nunmehr lediglich noch im Umfang von 50 % bescheinigten Arbeitsunfähigkeit bis zum 18. April 2022 ausserstande gewesen sei, die Prozessunterlagen zu sichten und das erstinstanzliche Urteil durchzuarbeiten. Damit sei der Beschwerdeführer jedoch nicht zu hören. Vielmehr belege das begründete Fristwiederherstellungsgesuch, dass er in der Lage gewesen sei, bis zum Ablauf der von ihm ursprünglich berechneten Frist eine Rechtsschrift zu verfassen. Damit wäre es ihm aber auch möglich gewesen, zugleich eine Berufungserklärung einzureichen oder einen Vertreter damit zu beauftragen. Dies gelte vorliegend umso mehr, als der Beschwerdeführer seine Ehefrau innert der gesetzlichen Frist zur Einreichung einer Berufungserklärung auch habe instruieren können, ein Schreiben an das Gericht betreffend Fristwiederherstellung zu verfassen (Beschluss S. 5 f. E. 6). Die Vorinstanz kommt zum Schluss, die 30-tägige Frist zur Stellung eines Fristwiederherstellungsgesuches habe am 4. April 2022 zu laufen begonnen. Da der Beschwerdeführer seine Berufungserklärung erst am 19. Mai 2022 eingereicht habe, habe er die versäumte Verfahrenshandlung nicht innert Frist (Art. 94 Abs. 2 StPO) nachgeholt. Folglich sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer innert der Frist von Art. 399 Abs. 3 StPO keine Berufungserklärung eingereicht habe, weshalb auf seine Berufung nicht einzutreten sei (Beschluss S. 6 f. E. 7).  
 
1.3.  
 
1.3.1. Eine Partei ist säumig, wenn sie eine Verfahrenshandlung nicht fristgerecht vornimmt oder zu einem Termin nicht erscheint (Art. 93 StPO). Würde ihr aus der Säumnis ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, kann sie nach Art. 94 Abs. 1 StPO die Wiederherstellung der Frist verlangen, wobei sie glaubhaft zu machen hat, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft. Das Gesuch ist innert 30 Tagen nach Wegfall des Säumnisgrundes schriftlich und begründet bei der Behörde zu stellen, bei welcher die versäumte Verfahrenshandlung hätte vorgenommen werden sollen. Innert der gleichen Frist muss die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt werden (Art. 94 Abs. 2 StPO).  
Die gesuchstellende Partei hat glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft. Nach ständiger Rechtsprechung kann die Wiederherstellung nur bei klarer Schuldlosigkeit gewährt werden. Jedes Verschulden einer Partei, ihres Vertreters oder beigezogener Hilfspersonen, so geringfügig es sein mag, schliesst die Wiederherstellung aus. Unverschuldet ist die Säumnis nur, wenn sie durch einen Umstand eingetreten ist, der nach den Regeln vernünftiger Interessenwahrung auch von einer sorgsamen Person nicht befürchtet werden muss oder dessen Abwendung übermässige Anforderungen gestellt hätte. Allgemein wird vorausgesetzt, dass es in der konkreten Situation unmöglich war, die Frist zu wahren oder jemanden damit zu betrauen (vgl. BGE 143 I 284 E. 1.3; Urteile 6B_799/2022 vom 3. Oktober 2022 E. 2.2; 6B_1329/2020 vom 20. Mai 2021 E. 1.3.3; 6B_390/2020 vom 23. Juli 2020 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Bei Versäumnis gesetzlicher Fristen sind strengere Anforderungen zu stellen (Urteile 6B_799/2022 vom 3. Oktober 2022 E. 2.2; 6B_1329/2020 vom 20. Mai 2021 E. 1.3.3; 6B_390/2020 vom 23. Juli 2020 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). 
Wie Art. 94 Abs. 1 StPO lassen auch Art. 50 Abs. 1 BGG, Art. 13 Abs. 1 BZP und Art. 33 Abs. 4 SchKG die Wiederherstellung einer Frist nur bei Fehlen jeglichen Verschuldens zu (Urteile 6B_799/2022 vom 3. Oktober 2022 E. 2.2; 6B_1329/2020 vom 20. Mai 2021 E. 1.3.3; je mit Hinweis). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 50 Abs. 1 BGG kann Krankheit ein unverschuldetes Hindernis darstellen, sofern sie derart ist, dass sie die rechtsuchende Person davon abhält, innert Frist zu handeln oder dafür einen Vertreter beizuziehen (BGE 119 II 86 E. 2a; Urteil 6B_659/2021 vom 24. Februar 2022 E. 2.1; je mit Hinweisen). Die Erkrankung muss die rechtsuchende Person davon abhalten, selbst innert Frist zu handeln oder eine Drittperson mit der Vornahme der Prozesshandlung zu betrauen. Dass es sich so verhält, muss mit einschlägigen Arztzeugnissen belegt werden, wobei die blosse Bestätigung eines Krankheitszustandes und regelmässig selbst einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit zur Anerkennung eines Hindernisses im Sinne von Art. 50 Abs. 1 BGG nicht genügt (vgl. Urteile 6B_659/2021 vom 24. Februar 2022 E. 2.1; 6B_1329/2020 vom 20. Mai 2021 E. 1.3.3; 6B_28/2017 vom 23. Januar 2018 E. 1.3; je mit Hinweisen). 
 
1.4. Der vorinstanzliche Entscheid verletzt kein Bundesrecht. In seiner Beschwerdeeingabe befasst sich der Beschwerdeführer grösstenteils nicht mit den massgeblichen Erwägungen der Vorinstanz; seine Vorbringen gehen an der Sache vorbei und sind im Übrigen unbegründet. Was er sodann der Beweiswürdigung der Vorinstanz und ihren tatsächlichen Feststellungen entgegen hält, beschränkt sich auf eine unzulässige appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid, auf die das Bundesgericht nicht eintritt (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1; 143 IV 500 E. 1.1; je mit Hinweisen). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers schliesst die Vorinstanz nicht aus dem "von der Ehefrau erstellten Wiederherstellungsgesuch vom 3. Mai 2022" darauf, er sei in der Lage gewesen, bis zum 4. Mai 2022 auch die Berufungserklärung einzureichen (Beschwerde S. 4 Ziff. 9). Vielmehr hält sie zutreffend fest, der Beschwerdeführer selber (und nicht die von ihm instruierte Ehefrau) habe ein vom 3. Mai 2022 datiertes Wiederherstellungsgesuch eingereicht, welches belege, dass er trotz seiner krankheitsbedingten (teilweisen) Arbeitsunfähigkeit in der Lage gewesen sei, eine Rechtsschrift zu verfassen (vgl. Beschluss S. 6 E. 6). Sein Einwand, er habe schon aus finanziellen Gründen nicht einen Vertreter beauftragen können (Beschwerde S. 6 Ziff. 12), erweist sich damit als unbehelflich. Ferner ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz in Berücksichtigung des ausführlich begründeten Fristwiederherstellungsgesuches des Beschwerdeführers vom 3. Mai 2022 erwägt, es wäre ihm möglich gewesen, innert Frist zugleich auch eine Berufungserklärung einzureichen. Soweit der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang geltend macht, er sei vor dem 19. April 2022 nicht in der Verfassung gewesen, sich mit den "umfangreichen" Prozessakten und dem erstinstanzlichen Entscheid auseinanderzusetzen, ist ihm entgegen zu halten, dass die Begründung der Berufung, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Entscheid und dessen Motivation voraussetzt, erst im mündlichen oder schriftlichen Verfahren, d.h. erst nach der Einreichung der Berufungserklärung, zu erfolgen hat (siehe BGE 143 IV 40 E. 3.4.1). Indessen muss die Berufungserklärung nicht begründet werden (Urteil 6B_684/2017 vom 13. März 2018 E. 1.4.2). Mit der Berufungserklärung hatte der Beschwerdeführer somit lediglich, aber immerhin, anzugeben, ob er das Urteil vollumfänglich oder nur in Teilen anficht, welche Abänderungen des erstinstanzlichen Urteils er verlangt und welche Beweisanträge er stellt (Art. 399 Abs. 3 StPO). Im Übrigen scheint er zu verkennen (Beschwerde S. 5 Ziff. 11), dass Beweisanträge im mündlichen Berufungsverfahren - wie im erstinstanzlichen Verfahren - bis zum Abschluss des Beweisverfahrens gestellt werden können (BGE 143 IV 214 E. 5.4; Urteil 6B_542/2016 vom 5. Mai 2017 E. 3.4.3 f. mit Hinweisen). Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer die Begründung des erstinstanzlichen Urteils bereits am 3. Februar 2022 in Empfang nehmen konnte und er gemäss den Arbeitsunfähigkeitszeugnissen seines Hausarztes, der nicht mit einem "Amtsarzt" gleichzusetzen ist (vgl. Beschwerde S. 4 Ziff. 9 und S. 6 Ziff. 12), seit dem 21. März 2022 wieder zu 20 % arbeitsfähig war. Darüber hinaus weist die Vorinstanz ebenso zutreffend darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer - als ihm sein Hausarzt noch eine 100 % Arbeitsunfähigkeit attestierte - ausserdem möglich war, seine Ehefrau mit dem Schreiben vom 23. Februar 2022 zu beauftragen, mit welchem die Vorinstanz noch innerhalb der gesetzlichen Frist zur Einreichung einer Berufungserklärung über seinen gesundheitlichen Zustand informiert wurde. Daher ist es nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz festhält, es wäre dem Beschwerdeführer auch möglich gewesen, einen Vertreter (wie z.B. seine Ehefrau, einen Kollegen oder Freund) zu beauftragen, die Berufungserklärung einzureichen.  
Trotz seiner krankheitsbedingten teilweisen Arbeitsunfähigkeit war es dem Beschwerdeführer - ohne das genaue Ausmass seiner Erkrankung zu vertiefen - somit nicht geradezu unmöglich, selbst oder durch eine ihn vertretende Person bei der Vorinstanz auch die Berufungserklärung bis zum 4. Mai 2022 einzureichen. 
 
2.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers und dem verhältnismässig geringen Aufwand ist durch eine herabgesetzte Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 2. August 2023 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Denys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Pasquini