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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_334/2023  
 
 
Urteil vom 27. November 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Karin Niederhauser, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24. März 2023 (200 22 627 EL). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1954 geborene A.________ ist Bezügerin einer Altersrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Nachdem sie sich im September 2021 zum Bezug von Ergänzungsleistungen angemeldet hatte, verneinte die Ausgleichskasse des Kantons Bern mit Verfügung vom 28. April 2022 und Einspracheentscheid vom 19. September 2022 einen entsprechenden Anspruch, da die Leistungsansprecherin unter Berücksichtigung einer Liegenschaft in B.________ und unter Anrechnung eines Verzichtsvermögens die massgebliche Vermögensschwelle von Fr. 100'000.- überschreite. 
 
B.  
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 24. März 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, ihr seien unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsurteils ab 1. September 2021, eventuell am 1. Januar 2022, Ergänzungsleistungen auszubezahlen, subeventuell sei festzustellen, dass das Verzichtsvermögen per 1. Januar 2021 maximal Fr. 29'235.- betragen habe. Gleichzeitig stellt A.________ ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
Während die Ausgleichskasse des Kantons Bern auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
Mit Eingabe vom 6. Oktober 2023 reicht A.________ weitere Unterlagen zu den Akten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Dritte öffentlich-rechtliche Abteilung (bis Ende Dezember 2022: Zweite sozialrechtliche Abteilung) ist zuständig für Beschwerden betreffend die Ergänzungsleistungen die bis zum 30. Juni 2023 eingereicht worden sind (vgl. Art. 82 lit. a BGG sowie Art. 31 lit. g des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 [BGerR; SR 173.110.131] in der vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2023 geltenden Fassung). Bei dieser Zuständigkeit bleibt es, auch wenn Beschwerden betreffend die Ergänzungsleistungen, die nach dem 1. Juli 2023 eingereicht worden sind, durch die Vierte öffentlich-rechtliche Abteilung beurteilt werden (vgl. den auf den 1. Juli 2023 in Kraft getretenen Art. 32 lit. i BGerR). 
 
2.  
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.2. Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG sind neue Tatsachen und Beweismittel im letztinstanzlichen Verfahren grundsätzlich unzulässig. Die Voraussetzungen, unter denen die von der Beschwerdeführerin neu eingereichten Unterlagen ausnahmsweise zulässig wären, sind vorliegend nicht erfüllt, so dass diese unbeachtet bleiben müssen.  
 
3.  
Streitig ist der Anspruch des Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen in der Zeit ab 1. September 2021 und ab 1. Januar 2022. Zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es der Beschwerdeführerin für die Zeit ab 1. September 2021 ein Verzichtsvermögen in der Höhe von Fr. 71'409.- anrechnete und in der Folge die Frage nach der korrekten Bewertung der Liegenschaft in B.________ offen liess, da der Vermögensgrenzbetrag so oder anders überschritten sei. 
 
4.  
Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht gemäss Art. 9 Abs. 1 ELG dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Nach Art. 9a Abs. 1 ELG setzt ein Anspruch voraus, dass die betreffende Person über ein Reinvermögen unterhalb der Vermögensschwelle verfügt. Die Vermögensschwelle liegt für alleinstehende Personen bei Fr. 100'000.-, für Ehepaare bei Fr. 200'000.- und für rentenberechtigte Waisen und für Kinder bei Fr. 50'000.-. Zum Reinvermögen zählen in Anwendung von Art. 9a Abs. 3 ELG auch Vermögensteile, auf die verzichtet worden ist. Von einem Verzicht ist insbesondere dann auszugehen, wenn Vermögen ohne Rechtspflicht und ohne gleichwertige Gegenleistung hingegeben wird (vgl. Art. 11a Abs. 2 ELG). 
Der anzurechnende Betrag des Vermögens, auf das gemäss Art. 11a Abs. 2 und 3 ELG verzichtet wurde, wird für die Berechnung der Ergänzungsleistungen jährlich um Fr. 10'000.- vermindert (Art. 17e Abs. 1 ELV). 
 
5.  
 
5.1. Das kantonale Gericht ging für das Jahr 2020 von einem Vermögensverbrauch der Beschwerdeführerin von insgesamt Fr. 104'635.- für ihre Lebenshaltung aus, woraus es einen Vermögensverzicht in der Höhe von Fr. 71'409.- ableitete. Unbestritten ist in diesem Zusammenhang, dass die Beschwerdeführerin im August 2020 aus einer Erbschaft Fr. 106'000.- erhalten hatte. Per 31. Dezember 2020 besass sie - neben ihrer Liegenschaft in B.________ mit umstrittenem Wert - ein Barvermögen in der Höhe von Fr. 42'000.-, Bankguthaben in der Höhe von Fr. 2'484.- und einen Anteil aus unverteilter Erbschaft im Wert von Fr. 12'637.-. Zudem wies sie gemäss Steuerveranlagung für das Jahr 2019 per 31. Dezember 2019 ein Reinvermögen von Fr. 43'119.- aus. Die Vorinstanz ermittelte den Vermögensverbrauch im Jahre 2020 durch Addition der Erbschaft und des Reinvermögens per 31. Dezember 2019 und unter Abzug des Barvermögens und der Bankguthaben per 31. Dezember 2020 (Fr. 43'119.- [Reinvermögen per 31. Dezember 2019] + Fr. 106'000.- [Erbschaft] - Fr. 44'484.- [Barvermögen und Bankguthaben per 31. Dezember 2020] = Fr. 104'635.- [Vermögensverbrauch 2020]).  
 
5.2. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend geltend macht, ist die vorinstanzliche Berechnungsweise nicht geeignet, um den Vermögensverbrauch für das Jahr 2020 zu berechnen. Dieser bestimmt sich aus der Differenz zwischen der am Anfang der Periode vorhandenen Vermögenswerte zuzüglich der während der Periode zugeflossenen Mittel und der am Ende der Periode noch vorhandenen Vermögenswerte (allenfalls unter Abzug andersweitig erklärbarer Geldabflüsse). Grundsätzlich erscheint es bei dieser Rechnung möglich, Vermögenswerte, die sowohl am Anfang wie am Ende der Periode vorhanden waren, aus der Berechnung auszuklammern und damit auch auf eine Bewertung derselben zu verzichten. Entsprechend hat die Vorinstanz bei der Bewertung des Vermögens per Ende der Periode lediglich das Barvermögen und die Bankguthaben berücksichtigt, demgegenüber aber die Liegenschaft in B.________ und den noch unverteilten Teil der Erbschaft ausgeklammert. Werden aber gewisse Vermögenswerte per Ende der Periode in der Berechnung nicht berücksichtigt, so dürfen diese auch nicht in den Vermögensstand per Anfang der Periode einbezogen werden. Somit kann im vorliegenden Fall für den Vermögensstand per Anfang der Periode offensichtlich nicht auf das Reinvermögen gemäss Steuerveranlagung abgestellt werden, beinhaltet dieser Wert doch unter anderem auch die Liegenschaft in B.________. Zudem enthält dieser Wert von Fr. 43'119.- auch den Anteil der Beschwerdeführerin an der elterlichen Liegenschaft und den auf dieser lastenden Schulden; diese Liegenschaft wurde im Verlauf des Jahres 2020 verkauft. Die Fr. 106'000.-, welche die Beschwerdeführerin im August 2020 aus dieser Erbschaft erhalten hat, stellen zumindest teilweise ihren Anteil aus dem Erlös dieses Verkaufes dar. Damit wurden die mit der Erbschaft im Zusammenhang stehenden Vermögenswerte doppelt berücksichtigt. Die Vorgehensweise der Vorinstanz führt somit zu einem offensichtlich unrichtigen - zu hohen - Wert für den Vermögensverbrauch. Korrekterweise ist die erklärungsbedürftige Vermögensverminderung im Jahre 2020 somit durch eine Addition des Barvermögens und der Bankguthaben per Ende 2019 mit dem erhaltenen Barvermögen aus der Erbschaft und unter Subtraktion des Barvermögens und der Bankguthaben per Ende 2020 zu ermitteln. Diese beträgt mithin Fr. 62'461.- (Fr. 945.- [Barvermögen und Bankguthaben per Ende 2019] + Fr. 106'000.- [Erbschaft] - Fr. 44'484.- [Barvermögen und Bankguthaben per 31. Dezember 2020]).  
 
5.3. Vorinstanz und Verwaltung gingen aufgrund der konkreten Umstände davon aus, dass ein Vermögensverzehr für das Jahr 2020 in der Höhe von Fr. 23'226.- begründet sowie ein solcher von weiteren Fr. 10'000.- (mithin insgesamt Fr. 33'226.-) noch als angemessen betrachtet werden kann. Diese Beträge sind im Grundsatz unbestritten; die Beschwerdeführerin macht jedoch geltend, gewisse weitere Auslagen (insbesondere Kosten für den Unterhalt der Liegenschaft in B.________ und Umzugskosten) seien ebenfalls als Erklärung der Vermögensverminderung mitzuberücksichtigen. Ausgehend von den von Verwaltung und kantonalem Gericht anerkannten Beträge für den angemessenen Vermögensverbrauch betrug der anrechenbare Vermögensverzicht per 1. Januar 2021 maximal Fr. 29'235.- (Fr. 62'461.- [tatsächlicher Vermögensverbrauch] - Fr. 33'226.- [angemessener Vermögensverbrauch]) und per 1. Januar 2022 (vgl. Art. 17e ELV) maximal Fr. 19'235.-. Ginge man, wie von der Beschwerdeführerin geltend gemacht, von einem Wert der Liegenschaft in B.________ von Fr. 77'440.- aus, so wäre jedenfalls per 1. Januar 2022 die Vermögensschwelle von Fr 100'000. - gemäss Art. 9a Abs. 1 ELG nicht mehr erreicht. Somit kann entgegen den Erwägungen der Vorinstanz die Frage nach der richtigen Bewertung der Liegenschaft nicht offen gelassen werden. Zudem ist auch per 1. September 2021 die Schwelle nicht so deutlich unterschritten, dass sich die Frage nach der Anrechenbarkeit des Liegenschaftsunterhalts (vgl. Art. 17d Abs. 3 lit. b Ziff. 1 ELV) und der Umzugskosten als mögliche Erklärung für die Vermögensverminderung nicht mehr stellen würde. Entsprechend ist die Beschwerde gutzuheissen und die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses unter Klärung dieser offenen Fragen einen neuen Entscheid fälle.  
 
6.  
Die Rückweisung der Sache zu erneutem Entscheid gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281 E. 11.1). Mithin hat die unterliegende Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten. Die eingereichte Kostennote gibt zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass die Entschädigung entsprechend festzusetzen ist. Damit wird das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24. März 2023 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 4'387.75 zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. November 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold