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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1C_520/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 16. Februar 2017  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Karlen, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Stohner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Raphael M. Schmid, 
 
gegen  
 
Bau- und Justizdepartement des Kantons Solothurn, Rötihof, Werkhofstrasse 65, 4509 Solothurn, 
handelnd durch die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons Solothurn, Abteilung Administrativmassnahmen, Gurzelenstrasse 3, 4512 Bellach. 
 
Gegenstand 
Sicherungsentzug des Führerausweises, 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 28. September 2016 des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern vom 7. Juli 2016 wurde der Taxifahrer A.________ der groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG, begangen am 26. Mai 2016 um 01.39 Uhr durch Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn von 120 km/h um 37 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge) anlässlich einer Taxifahrt, schuldig gesprochen. Der Strafbefehl ist unangefochten in Rechtskraft erwachsen. 
Am 16. August 2016 verfügte das Bau- und Justizdepartement des Kantons Solothurn, vertreten durch die Motorfahrzeugkontrolle, gestützt auf Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG den Sicherungsentzug des Führerausweises von A.________ für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre. A.________ wurde in der Verfügung darauf hingewiesen, dass ihm der Führerausweis nach Ablauf der Mindestentzugsdauer von zwei Jahren wieder erteilt werde, wenn er mittels eines verkehrspsychologischen Gutachtens nachweise, dass er fahrgeeignet sei (Art. 17 Abs. 3 SVG). 
Diese Verfügung focht A.________ mit Beschwerde vom 24. August 2016 beim Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn an mit den Hauptbegehren, die angefochtene Verfügung aufzuheben und einen Führerausweisentzug von maximal sechs Monaten zu verfügen. Mit Urteil vom 28. September 2016 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab. 
 
B.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 7. November 2016 gelangt A.________ an das Bundesgericht mit den Hauptanträgen, das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, dass die begangene Geschwindigkeitsüberschreitung eine mittelschwere Gefährdung darstelle, welche einen Führerausweisentzug von mindestens zwei Monaten zur Folge habe. 
Mit Verfügung vom 19. Dezember 2016 wies der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung ab. 
Die Vorinstanz beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons Solothurn und das Bundesamt für Strassen ASTRA stellen Antrag auf Beschwerdeabweisung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.   
Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei existenziell von seinem Beruf als Taxifahrer abhängig, und es lägen aussergewöhnliche Umstände vor. So habe er die relevante Grenze von 35 km/h nach Abzug der Toleranz nur um 2 km/h überschritten. Er habe die Widerhandlung mitten in der Nacht auf trockener Strasse ohne Verkehr begangen. Er habe im Auftrag der SBB eine von Berlin her kommende Kundin, welche in Olten den letzten Zug verpasst habe, nach Luzern gefahren. Da die Kundin bereits übermässig viel Zeit verloren gehabt habe, sei es nachvollziehbar, dass er sie so schnell wie möglich nach Luzern habe fahren wollen, zumal es bereits mitten in der Nacht gewesen sei, die Kundin von der langen Reise müde gewesen sei und sie zu ihrem kranken Kind, welches allein zu Hause in Luzern gewesen sei, habe gelangen wollen. 
Des Weiteren bringt der Beschwerdeführer vor, die Vorinstanz verkenne, dass er als Berufschauffeur zur Berufsausübung auf den Führerausweis angewiesen sei, weshalb eine Zivilsache im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK vorliege. Die Vorinstanz hätte deshalb eine mündliche Verhandlung durchführen und die von ihm beantragte Zeugenbefragung (Kundin) vornehmen müssen. Der Beschwerdeführer stellt insoweit den Subeventualantrag, die Angelegenheit sei zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese formelle Rüge ist vorweg zu prüfen. 
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache öffentlich von einem Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ("droits et obligations de caractère civil", "civil rights and obligations") oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage ("accusation en matière pénale", "criminal charges") zu entscheiden hat.  
 
3.2. Nach der Rechtsprechung verleiht der Sicherungsentzug grundsätzlich keinen Anspruch auf eine öffentliche mündliche Verhandlung, ausser wenn der Führerausweis unbedingt zur Berufsausübung notwendig ist und somit zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur Disposition stehen (BGE 122 II 464 E. 3b und c S. 466 ff.; Urteil 6A.48/2002 vom 9. Oktober 2002 E. 7.4.2 [nicht publ. in: BGE 129 II 82]).  
Dies ist vorliegend der Fall, da der Beschwerdeführer als Taxifahrer Berufschauffeur ist. 
 
3.3. Der Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung, der im selben Umfang von Art. 30 Abs. 3 BV garantiert wird, gilt indes nicht absolut. Ein Verzicht ist zulässig, sofern er unzweideutig erfolgt ist und keine öffentlichen Interessen entgegenstehen. Während im Kernbereich des traditionellen Strafrechts ein impliziter Verzicht ausgeschlossen ist, lässt der EGMR einen solchen namentlich im Bereich des Administrativmassnahmenrechts gelten. Ein stillschweigender Verzicht wird insbesondere angenommen, wenn das Verfahren - wie vorliegend - nach der Prozessordnung und nach klarer und allgemein bekannter Praxis schriftlich durchgeführt wird; zudem darf kein Antrag auf eine öffentliche Verhandlung gestellt worden sein (BGE 134 I 229 E. 4.4 S. 237; vgl. zum Ganzen Urteil 1C_622/2014 vom 24. April 2015 E. 3.3.3 mit Hinweisen).  
Die Pflicht zur Durchführung einer öffentlichen Gerichtsverhandlung setzt nach der Rechtsprechung einen klaren Parteiantrag voraus. Blosse Beweisabnahmeanträge, wie die Durchführung einer persönlichen Befragung oder einer Zeugenbefragung, reichen nicht aus (BGE 134 I 140 E. 5.2 S. 147 mit Hinweisen; 130 II 425 E. 2.4 S. 431). 
Der Beschwerdeführer hat im Verfahren vor der Vorinstanz keinen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gestellt, sondern lediglich im Sinne eines Beweisantrages um eine Zeugenbefragung ersucht. Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat im vorliegenden Zusammenhang daher keine über Art. 29 Abs. 2 BV hinausgehende Bedeutung (BGE 134 I 140 E. 2.4 S. 148). 
 
3.4. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV gehört das Recht der betroffenen Person, sich vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern sowie das Recht auf Abnahme der rechtzeitig und formrichtig angebotenen rechtserheblichen Beweismittel. Indessen räumt Art. 29 Abs. 2 BV keinen Anspruch auf eine mündliche Anhörung ein. Auch steht die Verfassungsgarantie einer vorweggenommenen Beweiswürdigung nicht entgegen. Das Gericht kann auf die Abnahme von Beweisen verzichten, wenn es aufgrund bereits abgenommener Beweise seine Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür annehmen kann, seine Überzeugung werde durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert (vgl. zum Ganzen BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148 mit Hinweisen).  
Im zu beurteilenden Fall konnte die Vorinstanz ohne Willkür den Beweisantrag des Beschwerdeführers in antizipierter Beweiswürdigung abweisen. 
Selbst wenn auf die Sachverhaltsschilderung des Beschwerdeführers abgestellt wird und diese von der Zeugin bestätigt worden wäre, könnte er sich vorliegend nicht mit Erfolg auf einen Rechtfertigungsgrund berufen. Eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung kann allenfalls in eigentlichen Notstandssituationen, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter wie Leib, Leben und Gesundheit von Menschen in Frage steht, gerechtfertigt sein (ausführlich Urteile 1C_4/2007 vom 4. September 2007 E. 2.2 und 6B_7/2010 vom 16. März 2010 E. 2 mit Hinweisen). Eine solche Konstellation, in welcher sich eine derart massive Geschwindigkeitsüberschreitung rechtfertigen liesse, liegt hier indes nicht vor. 
 
4.  
 
4.1. Nach Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG wird der Führerausweis nach einer schweren Widerhandlung für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre entzogen, wenn in den vorangegangenen zehn Jahren der Ausweis zweimal wegen schweren Widerhandlungen oder dreimal wegen mindestens mittelschweren Widerhandlungen entzogen war; auf diese Massnahme wird verzichtet, wenn die betroffene Person während mindestens fünf Jahren nach Ablauf eines Ausweisentzugs keine Widerhandlung, für die eine Administrativmassnahme ausgesprochen wurde, begangen hat.  
 
4.2. In Bezug auf Geschwindigkeitsüberschreitungen hat die Rechtsprechung schematische Regeln entwickelt, um zwecks Bestimmung der Mindestentzugsdauer leichte, mittel- und schwere Widerhandlungen voneinander abzugrenzen. Demnach ist objektiv eine schwere Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG) ungeachtet der konkreten Umstände, d.h. auch bei günstigen Strassenverhältnissen, gegeben, wenn der Lenker die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um 35 km/h überschritten hat (vgl. BGE 123 II 106 E. 2c S. 112 f.; mit ausführlicher Begründung bestätigt in Urteil 1C_83/2008 vom 16. Oktober 2008 E. 2.1 [in: JdT 2008 I 447]). Liegen jedoch im Einzelfall besondere Umstände vor, müssen diese mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip bei der Festlegung der Art und Dauer der ausgesprochenen Massnahmen einbezogen werden (BGE 126 II 196 E. 2a S. 199).  
Dass der Beschwerdeführer die Limite von 35 km/h nur um 2 km/h überschritten hat, gute Strassenverhältnisse und wenig Verkehr herrschten und dass er aus achtenswerten Motiven gehandelt hat, um seine Kundin möglichst rasch nach Hause zu ihrem kranken Kind zu befördern, genügen zur Annahme solcher besonderer Umstände nicht. 
 
4.3. Dem Beschwerdeführer war in den vorangegangenen zehn Jahren der Ausweis unbestrittenermassen zweimal wegen schweren Widerhandlungen entzogen. Gestützt auf die Verfügung vom 10. August 2006 respektive vom 4. Juni 2010 war der Ausweis einerseits vom 18. September 2006 bis 17. März 2007 wegen Fahren in übermüdetem Zustand, Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h und Nichtbeherrschen des Fahrzeugs und andererseits vom 18. August 2010 bis 17. August 2011 wegen Rechtsüberholen auf der Autobahn durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen sowie Unterlassen der Richtungsanzeige beim Überholen entzogen.  
Der Beschwerdeführer hat am 26. Mai 2016 durch Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um 37 km/h erneut eine schwere Widerhandlung begangen. Dies führt nach dem klaren Wortlaut von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG zum Sicherungsentzug, da der Ablauf des letzten Ausweisentzugs noch keine fünf Jahre zurückliegt. Abzustellen ist insoweit auf den letzten Vollzugstag des Ausweisentzugs, mithin auf den 17. August 2011. Die Rückfallfrist ist eine Bewährungsfrist, die erst dann zu laufen beginnen kann, wenn die Entzugsdauer abgelaufen ist (ausführlich hierzu Urteil 1C_180/2010 vom 22. September 2010 E. 2). 
 
4.4. Nach Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG ist der Führerausweis für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre zu entziehen. Diese Mindestentzugsdauer von zwei Jahren darf gemäss Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG auch bei einem Berufschauffeur nicht unterschritten werden (BGE 135 II 138 E. 2.4 S. 144; 132 II 234 E. 2 S. 235 ff.).  
 
5.   
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen. 
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da er seine finanzielle Bedürftigkeit ausreichend glaubhaft macht, die Beschwerde nicht zum Vornherein aussichtslos erschien und er auf die Vertretung durch einen Anwalt angewiesen war, ist dem Gesuch stattzugeben (Art. 64 BGG). Es sind deshalb keine Kosten zu erheben, und es ist dem Vertreter des Beschwerdeführers eine Entschädigung auszurichten. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen: 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwalt Raphael M. Schmid wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtlicher Rechtsvertreter eingesetzt und mit Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.  
 
3.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bau- und Justizdepartement des Kantons Solothurn, dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Strassen, Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. Februar 2017 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Karlen 
 
Der Gerichtsschreiber: Stohner