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[AZA 7] 
H 236/01 Gb 
 
II. Kammer 
 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard; 
Gerichtsschreiber Ackermann 
 
Urteil vom 25. März 2002 
 
in Sachen 
G.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Thalhammer, Neugasse 55, 9000 St. Gallen, 
 
gegen 
Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
A.- Von September 1994 bis April 1996 war G.________ im Handelsregister als Gesellschafterin und Geschäftsführerin mit Einzelunterschrift der X.________ GmbH eingetragen; ab April 1996 war sie nur noch als Gesellschafterin aufgeführt. 
Nachdem die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen am 11. Mai 1999 einen Verlustschein betreffend nicht bezahlter Sozialversicherungsbeiträge der X.________ GmbH in Höhe von Fr. 24'881. 45 erhalten hatte, verpflichtete sie G.________ mit Verfügung vom 1. Mai 2000 zur Bezahlung von Schadenersatz für im Jahr 1995 entgangene Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Mahngebühren und Betreibungskosten) in Höhe von Fr. 7'803. 70. 
 
B.- Auf erhobenen Einspruch der G.________ hin machte die Ausgleichskasse am 16. Juni 2000 ihre Forderung im Umfang von Fr. 6'917. 85 klageweise beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen geltend. Das Gericht hiess die Schadenersatzklage mit Entscheid vom 1. Juni 2001 im Umfang von Fr. 6'596. 25 gut. 
 
C.- G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter teilweiser Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Klage abzuweisen. 
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
D.- Y.________, ehemaliger Lebenspartner der G.________ und Geschäftsführer mit Einzelunterschrift der X.________ GmbH, wurde mit Entscheid des Bezirksgerichts St. Gallen vom 29. November 2000 wegen Vergehen gegen das AHVG, das IVG und das EOG durch Nichtdeklarieren und Nichtabliefern der Sozialversicherungsbeiträge im Zusammenhang mit der X.________ GmbH zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten unbedingt verurteilt. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
 
b) Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglichkeit, im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend eingeschränkt. 
Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II 99 Erw. 1c, 120 V 485 Erw. 1b, je mit Hinweisen). Zwar ist der Verwaltungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht, wonach Verwaltung und Gericht von sich aus für die richtige und vollständige Abklärung des Sachverhalts zu sorgen haben; doch entbindet das die Rechtsuchenden nicht davon, selber die Beanstandungen vorzubringen, die sie anzubringen haben (Rügepflicht), und ihrerseits zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen (Mitwirkungspflicht). Unzulässig und mit der weit gehenden Bindung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts an die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung gemäss Art. 105 Abs. 2 OG unvereinbar ist es darum, neue tatsächliche Behauptungen und neue Beweismittel erst im letztinstanzlichen Verfahren vorzubringen, obwohl sie schon im kantonalen Beschwerdeverfahren hätten geltend gemacht werden können und - in Beachtung der Mitwirkungspflicht - hätten geltend gemacht werden müssen. Solche (verspätete) Vorbringen sind nicht geeignet, die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen zu lassen (BGE 121 II 100 Erw. 1c, AHI 1994 S. 211 Erw. 2b mit Hinweisen). 
 
2.- Die Vorinstanz hat die Tatbestandselemente des Schadenersatzanspruchs nach Art. 52 AHVG (Schaden, Widerrechtlichkeit, adäquate Kausalität, Verschulden), die subsidiäre und solidarische Haftung der verantwortlichen Organe einer juristischen Person (insbesondere die Geschäftsführer einer GmbH; BGE 126 V 237), das Verfahren (Art. 81 AHVV), die Verwirkung des Anspruches (Art. 82 Abs. 1 AHVV; BGE 118 V 195 Erw. 2b mit Hinweisen, vgl. BGE 103 V 122 Erw. 4 zum Eintritt des Schadens) sowie die Möglichkeit der Herabsetzung des Schadenersatzes, wenn eine grobe Pflichtverletzung der Verwaltung für die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens adäquat kausal gewesen ist (BGE 122 V 185), zutreffend dargestellt. Darauf kann verwiesen werden. 
 
3.- Das kantonale Gericht hat die Voraussetzungen der Haftung gemäss Art. 52 AHVG als erfüllt betrachtet und in der Folge die Schadenersatzpflicht bejaht. 
 
a) Die Beschwerdeführerin rügt zunächst, dass sie zwar im Handelsregister als Geschäftsführerin eingetragen gewesen sei, diese Funktion jedoch effektiv gar nie ausgeübt habe. Vielmehr sei sie von ihrem damaligen Lebenspartner nur vorgeschoben worden, damit er - nach dem Konkurs seiner bisherigen Treuhandfirma - weiterhin Geschäfte tätigen konnte; dies sei von ihm im Strafverfahren denn auch bestätigt worden. 
Die Beschwerdeführerin war im - für die vorliegende Schadenersatzklage massgebenden - Jahr 1995 jedoch als Geschäftsführerin mit Einzelunterschrift und damit als formelles Organ der GmbH im Handelsregister eingetragen. 
Die Vorinstanz hat somit zu Recht erkannt, dass der Beschwerdeführerin Organstellung zukommt, sogar wenn sie effektiv keinen Einfluss auf die Willensbildung der Gesellschaft gehabt haben sollte (vgl. BGE 126 V 239). 
 
b) Die Beschwerdeführerin bringt weiter vor, dass sie sich im Frühling 1995 von ihrem damaligen Lebenspartner getrennt habe und ihr von ihm noch während der Probezeit im April 1995 die Stellung als Putzfrau der X.________ GmbH gekündigt worden sei; sie habe in den Jahren 1995 bis 2000 nie an einer Gesellschafterversammlung teilgenommen. Damit hätte sie davon ausgehen dürfen, dass sämtliche geschäftlichen Beziehungen zur Firma erloschen seien. Sie beruft sich dabei auf BGE 126 V 61, wonach für das zeitliche Ende der Haftung gemäss Art. 52 AHVG der Zeitpunkt des effektiven Rücktritts als Organ, nicht derjenige der formellen Löschung im Handelsregister, massgebend sei; bis zum effektiven Rücktritt als Geschäftsführerin (spätestens im Sommer 1995) sei noch kein Schaden entstanden. 
BGE 126 V 62 Erw. 4b geht in beweismässiger Hinsicht davon aus, dass die fehlenden Bindungen - also die vollständige Loslösung von der Firma - im Fall des stillschweigenden Auslaufens und der Nichterneuerung der Organstellung klar ausgewiesen sein muss, da in dieser Situation die Verhältnisse nicht so deutlich zu Tage treten, wie wenn ein Rücktritt in einem Protokoll festgehalten ist. Dies bedeutet nichts anderes, als dass e contrario beim Bestehen eines formellen Rücktrittes auf diesen abzustellen ist (ausser es sprächen triftige Gründe dagegen, z.B. ein gefälschtes Protokoll). Das kantonale Gericht hat für das Eidgenössische Versicherungsgericht in dieser Hinsicht verbindlich festgestellt (Art. 105 Abs. 2 OG), dass der Rücktritt als Geschäftsführerin an der Gesellschafterversammlung vom 11. Januar 1996 erfolgt ist, was in einem von der Beschwerdeführerin und dem zweiten Gesellschafter unterzeichneten Protokoll festgehalten ist; für eine Falschbeurkundung des entsprechenden Protokolls durch den damaligen Lebenspartner liegt weder eine Begründung in den (vorinstanzlichen) Rechtsschriften noch eine Stütze in den Akten vor. 
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in diesem Zusammenhang erstmals explizit erwähnt, dass die Gesellschafterversammlung vom 11. Januar 1996 gar nie stattgefunden habe; der damalige Lebenspartner habe vielmehr einen bereits vor sechs Monaten stattgefundenen Sachverhalt nachträglich dokumentiert und ihr als "reine Formalität für das Handelsregisteramt" zur Unterzeichnung vorgelegt. Bei diesen Vorbringen handelt es sich um unzulässige Noven, die mit den angebotenen Beweisen bereits im kantonalen Verfahren hätten vorgebracht werden können und im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht deshalb nicht mehr berücksichtigt werden (vgl. Erw. 1b hievor). 
 
 
c) Für die Beschwerdeführerin ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Ausgleichskasse - die vom Strafverfahren gegen den ehemaligen Lebenspartner betreffend seiner alten Firma Kenntnis hatte - nicht bereits früher gegen die X.________ GmbH vorgegangen sei; damit habe die Verwaltung durch Unterlassung eine grobe Pflichtverletzung begangen, die für die Entstehung rsp. Verschlimmerung des Schadens adäquat kausal gewesen sei, sodass sie im Rahmen der Schadenersatzbemessung (analog Art. 44 Abs. 1 OR rsp. Art. 4 VG) den Schaden selber zu tragen habe. 
Die Vorinstanz hat für das Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlich festgestellt, dass das Verhalten der Ausgleichskasse nicht kausal für die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens gewesen sei; eine unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes ist nicht ersichtlich (Art. 105 Abs. 2 OG) wie auch keine Verletzung von Bundesrecht (Art. 104 lit. a OG) im Rahmen der Anwendung des Adäquanzbegriffes vorliegt. 
Für eine Reduktion des Schadenersatzes im Rahmen der Schadenersatzbemessung ist somit kein Platz. 
d) aa) Unter Verweis auf BGE 108 V 186 Erw. 1a und ZAK 1970 S. 105 wird schliesslich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ausgeführt, dass kein Verschulden vorliegen könne, wenn gemäss kantonalem Gericht das Verhalten der Ausgleichskasse (mangels finanzieller Mittel der X.________ GmbH) zur Begleichung der Sozialversicherungsbeiträge für den Schaden nicht adäquat kausal gewesen sei. 
 
bb) Angesprochen wird damit die Rechtsprechung, wonach die Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG im konkreten Fall nur begründet ist, wenn nicht Umstände vorliegen, welche das fehlerhafte Verhalten des Arbeitgebers als gerechtfertigt erscheinen lassen oder sein Verschulden im Sinne von Absicht oder grober Fahrlässigkeit ausschliessen. In diesem Sinne ist es denkbar, dass ein Arbeitgeber zwar in vorsätzlicher Missachtung der AHV-Vorschriften der Ausgleichskasse einen Schaden zufügt, aber trotzdem nicht schadenersatzpflichtig wird, wenn besondere Umstände die Nichtbefolgung der einschlägigen Vorschriften als erlaubt oder nicht schuldhaft erscheinen lassen (BGE 108 V 186 Erw. 1b). So kann es sein, dass ein Arbeitgeber, der sich in schwieriger finanzieller Lage befindet, durch Nichtbezahlung der Beiträge versucht, die Existenz des Unternehmens zu bewahren. Ein solches Vorgehen führt allerdings nur dann nicht zu einer Haftung gemäss Art. 52 AHVG, wenn der Arbeitgeber zunächst für das Überleben des Unternehmens wesentliche andere Forderungen (insbesondere der Arbeitnehmer und Lieferanten) befriedigt, gleichzeitig aber auf Grund der objektiven Umstände und einer seriösen Beurteilung der Lage annehmen darf, die geschuldeten Beiträge innert nützlicher Frist nachzuzahlen (BGE 108 V 188; ZAK 1992 S. 248 Erw. 4b, 1985 S. 577 Erw. 3a). Rechtfertigungs- oder Exkulpationsgründe sind daher dann nicht gegeben, wenn angesichts der Höhe der bestehenden Verbindlichkeiten und der eingegangenen Risiken von der vorübergehenden Nichtbezahlung der Forderungen objektiv keine für die Rettung der Firma ausschlaggebende Wirkung erwartet werden kann, was zu verneinen ist, wenn im Vergleich zum sonstigen finanziellen Rahmen oder Engagement der Firma nicht sehr hohe Beitragsausstände bestehen (Urteil U. vom 23. August 2000, H 405/99, mit Hinweisen). 
 
cc) Den Akten ist nicht zu entnehmen, dass die X.________ GmbH im Jahre 1995 unter kurzfristigen Zahlungsschwierigkeiten gelitten hätte; die Vorinstanz hat vielmehr für das Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 2 OG) festgestellt, dass die Firma ab 1998 unter starken Liquiditätsproblemen gelitten habe. Somit ist davon auszugehen, dass im zur Debatte stehenden Jahr 1995 noch genügend Mittel vorhanden gewesen wären, um die Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen, wenn die Beschwerdeführerin ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Pflicht zur Abrechnung und Ablieferung nachgekommen wäre. 
Damit liegen keine Rechtfertigungs- oder Schuldausschliessungsgründe im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 52 AHVG vor. 
 
e) Abschliessend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz zu Recht die Tatbestandselemente des Art. 52 AHVG bejaht und eine Haftpflicht der Beschwerdeführerin angenommen hat. 
 
4.- Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend gehen die Kosten zu Lasten der Beschwerdeführerin (Art. 134 OG e contrario; Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
II. Die Gerichtskosten von Fr. 900.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet. 
 
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
 
 
Luzern, 25. März 2002 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Die Vorsitzende der II. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: