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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_139/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 27. September 2017  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Rüedi, 
Gerichtsschreiberin Andres. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Yetkin Geçer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Wiederaufnahme des Verfahrens (mehrfache einfache Körperverletzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 9. Dezember 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Baden führte auf Antrag von A.________ im Jahr 2012 eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen versuchter Nötigung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, eventualiter mehrfacher Tätlichkeiten und Beschimpfung. A.________ erklärte am 7. Mai 2013 ihr Desinteresse an der Weiterführung der Strafuntersuchung, worauf das Verfahren wegen versuchter Nötigung am 15. Mai 2013 sistiert wurde. Nachdem A.________ ihre Desinteresseerklärung nicht widerrief, stellte die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren hinsichtlich aller Delikte am 20. November 2013 ein. 
A.________ stellte am 12. Mai 2016 bei der Staatsanwaltschaft ein Gesuch um Wiederaufnahme des Strafverfahrens und beantragte, X.________ sei der einfachen Körperverletzung schuldig zu sprechen. Ferner ersuchte sie um Abnahme diverser Beweise. 
Am 30. Mai 2016 entschied die Staatsanwaltschaft, dass das Verfahren nicht wiederaufgenommen werde, und wies die Beweisanträge ab. 
 
B.  
Die dagegen gerichtete Beschwerde von A.________ wies das Obergericht des Kantons Aargau am 9. Dezember 2016 ab. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, es sei der obergerichtliche Entscheid aufzuheben, die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen und die Sache an die Staatsanwaltschaft zu überweisen. Eventualiter sei die Sache zu neuem Entscheid an das Obergericht zurückzuweisen. A.________ ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Verweigert die kantonale Beschwerdeinstanz die Verfahrenswiederaufnahme, handelt es sich um einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG, gegen welchen die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Urteil 6B_398/2014 vom 30. April 2015 E. 1 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 141 IV 194).  
 
1.2.  
 
1.2.1. Die Privatklägerschaft ist zur Beschwerde in Strafsachen nur berechtigt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). In erster Linie geht es um Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung gemäss Art. 41 ff. OR, die üblicherweise vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden. Richtet sich die Beschwerde gegen die Einstellung eines Verfahrens, hat die Privatklägerschaft nicht notwendigerweise bereits vor den kantonalen Behörden eine Zivilforderung erhoben. In jedem Fall muss sie im Verfahren vor Bundesgericht darlegen, aus welchen Gründen sich der angefochtene Entscheid inwiefern auf welche Zivilforderungen auswirken kann. Das Bundesgericht stellt an die Begründung des Beschwerderechts strenge Anforderungen. Genügt die Beschwerde diesen nicht, kann darauf nur eingetreten werden, wenn aufgrund der Natur der untersuchten Straftat ohne Weiteres ersichtlich ist, um welche Zivilforderungen es geht (BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 4 f. mit Hinweisen).  
 
1.2.2. Die Beschwerdeführerin trägt zu ihrer Legitimation vor, sie sei als Opfer häuslicher Gewalt in erster Linie darauf angewiesen, ihre Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung gemäss Art. 41 ff. OR geltend machen zu können. Aufgrund der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren nur im Punkt der Nötigung eingestellt habe, seien in der entsprechenden Verfügung Zivilansprüche nicht behandelt worden. Die Staatsanwaltschaft, die primär mit der Strafsache befasst sei, mutiere dann in der Adhäsionsklage zu einem Zivilgericht, welches in einem obiter dictum eine materielle Rechtskraft, nämlich die Verneinung der deliktischen Handlung, postuliere.  
 
1.2.3. Es kann offenbleiben, ob die Beschwerdeführerin mit ihren schwer verständlichen Ausführungen den dargelegten Begründungsanforderungen genügt und inwiefern die von ihr angezeigten Straftaten offensichtlich zu Zivilforderungen im Sinne von Art. 41 ff. und 49 ff. OR führen. Denn ihre Beschwerde ist ohnehin abzuweisen.  
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens seien erfüllt. Das Rechtsmissbrauchsverbot, das die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft "hier geltend machen und anmerken, dass dieses einer Wiederaufnahme entgegenstehe", werde von der herrschenden Meinung nicht derart vertreten. Differenziert vertrete die herrschende Meinung die Auffassung, wonach das Rechtsmissbrauchsverbot nur bei treuwidrigem Verhalten der Staatsanwaltschaft der Wiederaufnahme uneingeschränkt entgegenstehe, da der Staat, vertreten durch die Staatsanwaltschaft, in einem solchen Fall den Strafanspruch verwirkt habe. Hingegen sei die Privatklägerschaft nicht Organ der Strafrechtspflege, weshalb ihr Verhalten dem Staat nicht zugerechnet werden könne. Der staatliche Strafanspruch bleibe davon unberührt.  
Im vorliegenden Fall bestehe ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Gewisse Verstösse gegen die Regeln der Gemeinschaft würden als derart schwerwiegend betrachtet, dass mit Sanktionen darauf geantwortet werden müsse. Zu den fundamentalen Prinzipien des Strafprozessrechts gehöre die Offizialmaxime, wonach der Staat das Recht und die Pflicht habe, den staatlichen Strafanspruch von Amtes wegen durchzusetzen. Dies bedeute, dass die staatlichen Strafverfolgungsorgane alle ihnen bekannt gewordenen Straftaten, und zwar unabhängig vom Willen der geschädigten Person in den dafür vorgesehenen strafprozessualen Formen ahnden müssten. Eine Einstellung des Strafverfahrens komme nach dem Grundsatz "in dubio pro duriore" deshalb nur bei klarer Straflosigkeit oder bei offensichtlich nicht erfüllten Prozessvoraussetzungen in Betracht. 
Die Verschlimmerung der Verletzungen, welche die Beschwerdeführerin in ihrem Gesuch um Wiederaufnahme geltend gemacht habe, könnte "unter Umständen eine Qualifikation des Tatbestands der Körperverletzung darstellen". Diesen Umstand unbegründet als rechtsmissbräuchlich zurückzuweisen, stelle eine klare Verletzung von Art. 323 StPO dar. Diese neu bekannt gewordenen Tatsachen oder Beweismittel müssten "durch das Beweisverfahren im Rahmen des wiederaufgenommenen Verfahrens verifiziert werden". Die Neuheit beziehe sich auf die Kenntnis der Staatsanwaltschaft, "die ihr erst mit dem Gesuch um Wiedererwägung der Beschwerdeführerin zugegangen" sei. Auch der Vorwurf der Beschwerdeführerin, X.________ habe sie genötigt, ihr Desinteresse zu erklären, weshalb sie sich in einem Willensmangel befunden habe, hätte im Rahmen einer strafprozessualen Untersuchung geprüft werden müssen und nicht als rechtsmissbräuchlich abgewiesen werden dürfen. 
 
2.2.  
 
2.2.1. Nach Art. 55a Abs. 1 StGB können die Staatsanwaltschaft und die Gerichte das Verfahren bei gewissen Delikten sistieren, wenn das Opfer der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner beziehungsweise der noch nicht ein Jahr getrennt lebende Ex-Lebenspartner des Täters ist (lit. a Ziff. 3) und das Opfer darum ersucht oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmt (lit. b).  
Gemäss Art. 55a Abs. 2 StGB wird das Verfahren wieder an die Hand genommen, wenn das Opfer seine Zustimmung innerhalb von sechs Monaten seit der Sistierung schriftlich oder mündlich widerruft. Wird die Zustimmung nicht widerrufen, so verfügen die Staatsanwaltschaft und die Gerichte die Einstellung des Verfahrens (Art. 55a Abs. 3 StGB; vgl. dazu BGE 139 IV 220 E. 3.4.6 S. 227). 
 
2.2.2. Gemäss Art. 323 Abs. 1 StPO verfügt die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme eines durch Einstellungsverfügung rechtskräftig beendeten Verfahrens, wenn ihr neue Beweismittel oder Tatsachen bekannt werden, die für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der beschuldigten Person sprechen (lit. a) und die sich nicht aus den früheren Akten ergeben (lit. b). Diese beiden Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein (BGE 141 IV 194 E. 2.3 S. 197 mit Hinweis).  
Beweismittel sind neu, wenn sie zum Zeitpunkt der Einstellung unbekannt waren. Entscheidend ist dabei, ob entsprechende Hinweise in den Akten vorhanden waren oder nicht. Aus dem Offizial- und Legalitätsprinzip folgt, dass die Staatsanwaltschaft die Einstellung nur verfügen darf, wenn sie die sich aufgrund der Akten anbietenden Beweise abgenommen und bezüglich des Beweisthemas ausgeschöpft hat. Beweismittel, die zwar im eingestellten Verfahren genannt oder sogar abgenommen, aber nicht bezüglich des ganzen Beweisthemas ausgeschöpft wurden, sind demnach nicht als neu zu betrachten. Umgekehrt kann nicht verlangt werden, eine Tatsache oder ein Beweismittel nur als neu anzusehen, wenn sie oder es der Staatsanwaltschaft im ersten Verfahren auch bei Anwendung der notwendigen Sorgfalt nicht hätte bekannt sein können. Angesichts der Masse der zu erledigenden Strafverfahren seitens der Untersuchungsbehörden dürfen an die Sorgfaltspflicht keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Im Übrigen entsprechen die Wiederaufnahmegründe weitgehend jenen, die nach Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO eine Revision begründen. Die Wiederaufnahme eines eingestellten Verfahrens ist jedoch an geringere Voraussetzungen geknüpft als die Revision eines rechtskräftigen Urteils gemäss Art. 410 ff. StPO (BGE 141 IV 194 E. 2.3 S. 197 f. mit Hinweisen). 
 
2.3.  
 
2.3.1. Die Beschwerdeführerin begründet ihr Gesuch um Wiederaufnahme im Wesentlichen damit, dass die ihr zugefügten Körperverletzungen zu Folgeschäden, insbesondere zu einer Kieferverletzung, geführt hätten, die erst im Dezember 2015 diagnostiziert worden seien. Überdies habe sie in der Zwischenzeit eine allfällige Zeugin für den tätlichen Übergriff vom 5. November 2012 ausfindig gemacht.  
 
2.3.2. Einleitend hält die Vorinstanz fest, die Sistierung und Einstellung seien formell nur in Bezug auf den Vorwurf der versuchten Nötigung gestützt auf Art. 55a StGB erfolgt, da in der Sistierungsverfügung vom 15. Mai 2013 die weiteren Vorwürfe vergessen worden seien. Die Einstellungsverfügung sei unangefochten in Rechtskraft erwachsen.  
Der Einstellungsverfügung vom 20. November 2013 ist weiter zu entnehmen, dass das Verfahren in Bezug auf den Vorwurf der mehrfachen einfachen Körperverletzung, eventualiter mehrfachen Tätlichkeit formell gestützt auf Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO mangels hinreichendem Tatverdacht aufgrund der "Aussage gegen Aussage-Situation" eingestellt wurde, da der Tatbestand in der Sistierungsverfügung versehentlich nicht aufgeführt wurde. Hinsichtlich der Beschimpfung wertete die Staatsanwaltschaft die Desinteresseerklärung der Beschwerdeführerin als Rückzug des Strafantrags und stellte das Verfahren gestützt auf Art. 319 Abs. 1 lit. d StPO ein. Daraus ergibt sich, dass die Desinteresseerklärung der Beschwerdeführerin die Staatsanwaltschaft dazu bewog, das gesamte Strafverfahren einzustellen. 
Die Vorinstanz erwägt zu Recht, dass die von der Beschwerdeführerin angeführten Beweismittel bereits im Zeitpunkt der Einstellung erhältlich zu machen gewesen wären. Dass die Staatsanwaltschaft damals auf weitere ärztliche Abklärungen und Zeugenbefragungen verzichtete, war einzig auf die Desinteresseerklärung der Beschwerdeführerin zurückzuführen. Die Vorinstanz darf somit annehmen, es erscheine als rechtsmissbräuchlich, wenn die Beschwerdeführerin nunmehr die Abnahme von Beweisen verlange, die einzig aufgrund ihres früheren Verhaltens nicht abgenommen worden seien. 
Offen kann bleiben, inwiefern der Grundsatz von Treu und Glauben und das Verbot des Rechtsmissbrauchs differenziert anzuwenden sind, je nachdem ob die Privatklägerschaft oder die Staatsanwaltschaft betroffen sind (vgl. dazu GRÄDEL/HEINIGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 6 f. zu Art. 323 StPO). 
 
 
2.4.  
 
2.4.1. Die Beschwerdeführerin brachte erstmals im kantonalen Beschwerdeverfahren vor, sie sei von X.________ zur Desinteresseerklärung genötigt worden.  
 
2.4.2. Hierzu erwägt die Vorinstanz, es erscheine verständlich, dass die Beschwerdeführerin den Strafverfolgungsbehörden die angebliche Nötigung nicht gemeldet habe, solange sie mit X.________ eine Hausgemeinschaft gebildet und sich in dessen Einflussbereich befunden habe. Allerdings gehe aus den Akten hervor, dass sie im März 2015 nicht mehr bei X.________ gewohnt habe. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte sie den Strafverfolgungsbehörden unverzüglich mitteilen müssen, dass ihre Desinteresseerklärung vom 7. Mai 2013 nicht ihrem freien Willen entsprochen habe.  
 
2.4.3. Die Argumentation der Vorinstanz erscheint als vertretbar, nachdem die Beschwerdeführerin auch vor Bundesgericht keinen plausiblen Grund für ihr Zuwarten geltend macht und ein solcher auch nicht ersichtlich ist, zumal die Beschwerdeführerin sowohl bei der Abgabe ihrer Desinteresseerklärung im Mai 2013 als auch nach ihrem Wegzug aus der Wohnung von X.________ anwaltlich vertreten war.  
 
2.5. Bei diesem Ausgang muss nicht beantwortet werden, ob eine Wiederaufnahme gemäss Art. 323 StPO überhaupt in Frage kommt, wenn das Strafverfahren gestützt auf Art. 55a StGB eingestellt worden ist (vgl. auch RIEDO/ALLEMANN, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 3. Aufl. 2013, N. 226 zu Art. 55a StGB).  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Deren Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Ihrer finanziellen Lage ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, und X.________, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. September 2017 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres