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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_824/2017  
 
 
Urteil vom 4. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Umhang, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 30. August 2017 (IV.2017.00401). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1969 geborene A.________, Vater eines am 13. Dezember 2006 geborenen Sohnes, meldete sich im November 2009 wegen der Folgen neuropathischer Schmerzen im Bereich des rechten Fusses bei Status nach iatrogener Verletzung des Nervus Ischiadicus rechts (periacetabuläre Hüftpfannenosteotomie rechts vom 12. Juni 2009) und einer ausgeprägten Allodynie des rechten Fusses bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach medizinischen und erwerblichen Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich eine von Mai 2010 bis Juni 2011 befristete ganze Rente zu (Verfügung vom          5. Februar 2013). Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Mai 2014 gut. Es änderte die Verfügung dahingehend ab, als es den Rentenanspruch bis 31. August 2012 befristete, und wies die Sache zur Abklärung der Verhältnisse ab November 2012 an die IV-Stelle zurück. Das von A.________ daraufhin angerufene Bundesgericht hiess die bei ihm eingereichte Beschwerde, soweit es darauf eintrat, teilweise gut und änderte den kantonalen Entscheid dahingehend, als es die IV-Stelle, an welche die Sache zurückgewiesen wurde, verpflichtete, nach Abklärung der Verhältnisse (auch) für die Zeit ab September 2012 neu zu verfügen (Urteil 9C_520/2014 vom 19. Juni 2015).  
 
A.b. Im Rahmen ihrer Abklärungen liess die IV-Stelle den Versicherten beim Medizinischen Gutachtenzentrum Region St. Gallen (MGSG), Rorschach, polydisziplinär begutachten (Gutachten vom 14. April 2016 samt ergänzender Stellungnahme vom 15. Juli 2016). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte sie für die von ihr zu prüfende Zeit ab September 2012 den Anspruch auf eine Invalidenrente (Verfügung vom 3. März 2017).  
 
B.   
Beschwerdeweise liess A.________ die Aufhebung der Verfügung vom 3. März 2017 und die Weiterausrichtung einer ganzen Invalidenrente ab 1. September 2012 beantragen. Mit Entscheid vom          30. August 2017 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde gut, hob die Verfügung vom 3. März 2017 auf und stellte fest, dass A.________ auch ab 1. September 2012 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben, die Verfügung vom 3. März 2017 zu bestätigen, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren und eventualiter die Rente spätestens per 31. August 2013 einzustellen. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs um aufschiebende Wirkung schliessen. Überdies ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung). Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht      (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Im angefochtenen Entscheid werden die Grundsätze zur rückwirkenden Zusprache einer befristeten Invalidenrente (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 88a IVV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Rechtsprechung, wonach jede (wesentliche) Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen, Anlass zu einer Rentenrevision geben kann: eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes, eine erhebliche Veränderung der erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitszustandes oder der (sich aus einer Statusänderung ergebende) Wechsel der anwendbaren Methode der Invaliditätsbemessung (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 ff.; Urteil 9C_297/2016 vom 7. April 2017 E. 2.1, nicht publ. in: BGE 143 V 77, aber in: SVR 2017 IV Nr. 51 S. 152). 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, als es einen Revisionsgrund verneinte und dem Versicherten über den 31. August 2012 hinaus eine ganze Invalidenrente zusprach. 
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz ging davon aus, der Versicherte wäre im Gesundheitsfall unverändert zu 80 % erwerbstätig und zu 20 % im Haushalt beschäftigt. Seine Ehefrau sei, wie bereits bei Rentenbeginn, weiterhin voll erwerbstätig. Eine Einschulung des Sohnes im Sommer 2012 sei mit Blick auf dessen Alter (damals 5 ½ Jahre) unwahrscheinlich und auch nicht belegt. Im Übrigen sei ein 5 ½ Jahre altes Kind nur wenig selbständiger als ein zwei Jahre jüngeres; es bedürfe ausserhalb der Schule bzw. des Kindergartens einer vollzeitlichen Betreuung. Damit scheine nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Versicherte sein Arbeitspensum ab Sommer 2012 auf 100 % erhöht hätte, insbesondere auch weil das familiäre Einkommen dadurch angesichts des relativ geringen Lohnes des Versicherten nicht wesentlich gestiegen wäre. Entgegen der IV-Stelle sei ein Statuswechsel per September 2012 damit zu verneinen.  
Nach dem angefochtenen Entscheid geben auch die weiter geprüften gesundheitlichen Verhältnisse - der Versicherte sei über den 31. August 2012 hinaus krankheitsbedingt vollständig arbeitsunfähig - keinen Anlass zu einer Rentenrevision: Das der damaligen Rentenzusprache zugrunde liegende Gutachten des Medizinischen Zentrums Römerhof (MZR), Zürich, vom 6. Juli 2011 und das Gutachten des MGSG vom 14. April 2016 seien in den Diagnosen und Befunden im Wesentlichen identisch. Übereinstimmend werde davon ausgegangen, dass die Arbeitsfähigkeit aufgrund des neuropathischen Schmerzsyndroms und durch die Gehbehinderung bzw. die neuropathisch schmerzbedingt limitierte Geh- und Stehfähigkeit eingeschränkt sei. Es liege eine revisionsrechtlich unerhebliche unterschiedliche Würdigung des in etwa gleich gebliebenen Sachverhalts durch die Gutachter des MZR und des MGSG vor. 
 
 
4.2. Die IV-Stelle wendet sich in ihrer Beschwerde einzig gegen die (einen Statuswechsel als Revisionsgrund ausschliessende) vorinstanzliche Feststellung, wonach der Versicherte ohne Gesundheitsschaden nach September 2012 weiterhin zu 80 % erwerbstätig und zu 20 % im Haushalt beschäftigt gewesen wäre. Sie vertritt den Standpunkt, der Versicherte hätte im Sommer 2011 bzw. im September 2012, spätestens aber im August 2013, eine volle Erwerbstätigkeit aufgenommen.  
 
4.2.1. Die unter den Verfahrensbeteiligten umstrittene Frage, in welchem Ausmass der Versicherte ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erwerbstätig wäre (Statusfrage), ist nach der Rechtsprechung mit Rücksicht auf die gesamten persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse zu beurteilen (BGE 137 V 334 E. 3.2 S. 338; Urteil 9C_201/2017 vom 3. November 2017 E. 4.1).  
Bei der Beantwortung der Statusfrage handelt es sich zwangsläufig um eine hypothetische Beurteilung, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person zu berücksichtigen hat. Diese sind als innere Tatsachen einer direkten Beweisführung nicht zugänglich und müssen in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden. Die Beurteilung hypothetischer Geschehensabläufe stellt eine Tatfrage dar, soweit sie auf Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung mitberücksichtigt werden. Ebenso sind Feststellungen über innere oder psychische Tatsachen Tatfragen, wie beispielsweise was jemand wollte oder wusste. Die auf einer Würdigung konkreter Umstände basierende Festsetzung des hypothetischen Umfanges der Erwerbstätigkeit ist für das Bundesgericht daher verbindlich, ausser wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht (SVR 2017 IV Nr. 2 S. 2, 9C_926/2015 E. 1.2; 2010 IV Nr. 35 S. 111, 9C_559/2009 E. 3). 
 
4.2.2. Die IV-Stelle bringt vor, der Versicherte hätte ab Sommer 2011 bzw. jedenfalls ab September 2012 wieder mehr arbeiten können, weil sein Sohn zu diesem Zeitpunkt, wie es dem Stichtag in den meisten Kantonen entspreche, in den Kindergarten eingetreten wäre (bzw. spätestens mit dem auf August 2013 festzusetzenden Schuleintritt des Sohnes). Sie weist darauf hin, dass es auch für Kindergartenkinder Einrichtungen mit ganztägiger Betreuung gebe.  
 
Die Beschwerdeführerin übt damit appellatorische Kritik an der Beweiswürdigung des kantonalen Gerichts. Eine offensichtliche Unrichtigkeit der vorinstanzlichen Feststellung, wonach der Versicherte auch über den Zeitpunkt der Einschulung seines Sohnes hinaus (hypothetisch) lediglich zu 80 % erwerbstätig gewesen wäre, ergibt sich daraus schon deshalb nicht, weil nicht massgebend ist, ob der versicherten Person im Gesundheitsfall eine volle Erwerbstätigkeit zugemutet werden könnte, sondern ob sie hypothetisch, d.h. ohne Gesundheitsschaden, aber bei sonst gleichen Verhältnissen, in einem Vollpensum erwerbstätig wäre (BGE 133 V 477 E. 6.3 S. 486 unten f. und 504 E. 3.3 S. 507 unten f.; Urteil 9C_552/2016 vom 9. März 2017 E. 4.2; vgl. auch BGE 141 V 15 E. 3.1 S. 20 und 137 V 334 E. 3.2 S. 338). Im Rahmen seiner Würdigung der für die Beantwortung der Statusfrage entscheidenden Verhältnisse (vgl. E. 4.2.1 hiervor) berücksichtigte das kantonale Gericht, dass der Versicherte seinen Sohn auch bei einem Kindergarten- bzw. Schuleintritt in der Freizeit betreuen müsste, eine Ausweitung des erwerblichen Pensums (um 20 %) das Familieneinkommen nur unwesentlich erhöhen würde und dass im Übrigen die Ehefrau einer vollzeitlichen Beschäftigung nachgeht. Damit trug es der gesamten konkreten Situation des Versicherten Rechnung. Eine offensichtliche Unrichtigkeit der im angefochtenen Entscheid daraus gezogenen Schlussfolgerung, wonach der Versicherte überwiegend wahrscheinlich weiterhin zu 80 % erwerbstätig wäre, vermögen auch die von der IV-Stelle erwähnten, theoretisch zur Verfügung stehenden auswärtigen ganztägigen Betreuungsmöglichkeiten nicht zu begründen. 
 
4.2.3. Nicht beigepflichtet werden kann der IV-Stelle auch, soweit sie geltend macht, der angefochtene Entscheid verletze die Begründungspflicht und den Untersuchungsgrundsatz. Das kantonale Gericht stützte sich für die Festlegung des hypothetischen erwerblichen Pensums in nachvollziehbarer Weise auf die Situation des Versicherten, wie sie sich aus den von der Verwaltung getätigten Abklärungen ergab, welche es als unverändert gültig betrachtete (und welche im Übrigen sowohl dem Vorbescheid vom 25. April 2012 als auch der Verfügung vom 5. Februar 2013 zugrunde lagen). Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass sich die für die Beantwortung der Statusfrage massgebenden hypothetischen Verhältnisse des Versicherten auch mit dem Schuleintritt seines Sohnes (welchen die IV-Stelle spätestens im Sommer 2013 für gegeben hält) nicht wesentlich verändert hätten, weil der Betreuungsaufwand damit nochmals lediglich leicht zurückgegangen wäre. Entgegen der Beschwerde ist ein Begründungsmangel deshalb auch nicht darin zu erblicken, dass im angefochtenen Entscheid nicht zwischen Kindergarten- und Schuleintritt unterschieden wird.  
 
4.2.4. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen vermag, inwiefern die vorinstanzlichen Erwägungen zur Statusfrage in tatsächlicher Hinsicht willkürlich oder sonst wie rechtsfehlerhaft sein sollen (E. 4.2.1 hiervor).  
 
4.3. Da die IV-Stelle die vorinstanzliche Feststellung unveränderter gesundheitlicher Verhältnisse nicht bestreitet, erübrigen sich Weiterungen dazu.  
 
4.4. Dass das kantonale Gericht einen Revisionsgrund verneint und dem Beschwerdegegner über den 31. August 2012 hinaus eine ganze Invalidenrente zugesprochen hat, erweist sich damit als bundesrechtskonform.  
 
5.   
Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos. 
 
6.   
Ausgangsgemäss trägt die IV-Stelle die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Überdies hat sie dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. Juni 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann