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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_722/2020  
 
 
Urteil vom 19. November 2020  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin Koch, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel U. Walder, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Bundesanwaltschaft, Guisanplatz 1, 3003 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Versuchte Widerhandlung gegen das 
Güterkontrollgesetz, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesstrafgerichts, Berufungskammer, vom 12. Mai 2020 (CA.2019.10). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Ende Oktober/Anfang November 2016 veranlasste die B.________ AG den Versand eines bewilligungspflichtigen Gutes nach Norwegen ohne Exportbewilligung. 
Mit Strafbefehl vom 7. Februar 2017 verurteilte die Bundesanwaltschaft A.________ als Verantwortlichen der Absenderin wegen versuchter Widerhandlung gegen Art. 14 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 1996 über die Kontrolle zivil und militärisch verwendbarer Güter, besonderer militärischer Güter sowie strategischer Güter (Güterkontrollgesetz, GKG; SR 946.202) zu 15 Tagessätzen à Fr. 320.-- Geldstrafe bedingt und Fr. 800.-- Busse. Auf Einsprache von A.________ hin stellte das Bundesstrafgericht das Verfahren am 7. Dezember 2017 gestützt auf Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO i.V.m. Art. 52 StGB ein. Das Bundesgericht hiess die dagegen erhobene Beschwerde der Bundesanwaltschaft am 5. März 2019 (Urteil 6B_167/2018) gut und wies die Sache zu neuer Entscheidung an das Bundesstrafgericht zurück. 
 
B.   
Mit Urteil vom 14. Juni 2019 sprach der Einzelrichter der Strafkammer des Bundesstrafgerichts A.________ der versuchten Widerhandlung gegen das Güterkontrollgesetz schuldig und bestrafte ihn mit 15 Tagessätzen à Fr. 320.-- Geldstrafe bedingt sowie Fr. 800.-- Busse. Die von A.________ angerufene Berufungskammer des Bundesstrafgerichts bestätigte am 12. Mai 2020 im schriftlichen Verfahren den Schuldspruch, reduzierte aber die bedingte Geldstrafe auf 13 Tagessätze und die Busse auf Fr. 640.--. 
 
C.   
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, die Sache sei zur vollständigen Sachverhaltsermittlung sowie Beweiserhebung und Neubeurteilung mit Hinweis der vollen Kognitionsbefugnis, eventualiter unter neuer Gerichtsbesetzung, an die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Sache zur Behebung von Verfahrensmängeln und Ergänzung bzw. Vervollständigung der Untersuchung an die Bundesanwaltschaft zurückzuweisen. Subsubeventualiter sei das Verfahren einzustellen oder er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Bundesanwaltschaft und Bundesstrafgericht verzichten auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Der Beschwerdeführer lässt geltend machen, die Vorinstanz hätte nicht im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen. Ausserdem habe sie den rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig erhoben und diverse Beweisanträge zu Unrecht abgewiesen. 
 
1.1.  
 
1.1.1. Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich (Art. 405 Abs. 1 StPO). Schriftliche Berufungsverfahren sollen nach der Absicht des Gesetzgebers die Ausnahme bleiben. Art. 406 StPO regelt abschliessend, wann Ausnahmen zulässig sind (BGE 139 IV 290 E. 1.1 mit Hinweisen). Die Berufung kann u.a. im schriftlichen Verfahren behandelt werden, wenn ausschliesslich Rechtsfragen zu entscheiden sind (Art. 406 Abs. 1 lit. a StPO). Mit dem Einverständnis der Parteien kann die Verfahrensleitung das schriftliche Verfahren anordnen, wenn die Anwesenheit der beschuldigten Person nicht erforderlich ist oder wenn Urteile eines Einzelgerichts Gegenstand der Berufung sind (Art. 406 Abs. 2 lit. a und lit. b StPO).  
Art. 406 StPO ist als "Kann-Vorschrift" ausgestaltet. Die Bestimmung entbindet das Berufungsgericht nicht davon, im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf die öffentliche Verhandlung auch mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. Die angeschuldigte Person hat im Strafverfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung. Dieser Anspruch ist Teilgehalt der umfassenden Garantie auf ein faires Verfahren (BGE 128 I 288 E. 2; 119 Ia 316 E. 2b; je mit Hinweisen). Die Art der Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf Verfahren vor Rechtsmittelinstanzen hängt von den Besonderheiten des konkreten Verfahrens ab. Es ist insbesondere unter Beachtung des Verfahrens als Ganzem und der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob vor einer Berufungsinstanz eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) muss selbst ein Berufungsgericht mit freier Kognition hinsichtlich Tat- und Rechtsfragen nicht in allen Fällen eine Verhandlung durchführen, da auch andere Gesichtspunkte wie die Beurteilung der Sache innert angemessener Frist mitberücksichtigt werden dürfen. Von einer Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz kann etwa abgesehen werden, soweit die erste Instanz tatsächlich öffentlich verhandelt hat, wenn allein die Zulassung eines Rechtsmittels, nur Rechtsfragen oder aber Tatfragen zur Diskussion stehen, die sich leicht nach den Akten beurteilen lassen, ferner wenn eine reformatio in peius ausgeschlossen oder die Sache von geringer Tragweite ist und sich etwa keine Fragen zur Person und deren Charakter stellen. Für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann aber der Umstand sprechen, dass die vorgetragenen Rügen die eigentliche Substanz des streitigen Verfahrens betreffen. Gesamthaft kommt es entscheidend darauf an, ob die Angelegenheit unter Beachtung all dieser Gesichtspunkte sachgerecht und angemessen beurteilt werden kann (BGE 119 Ia 316 E. 2b; zum Ganzen: BGE 143 IV 483 E. 2.1 mit Hinweisen). 
 
1.1.2. Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Die Ermittlung des wahren Sachverhalts ist von zentraler Bedeutung. Insofern ist es mit Blick auf das Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit erforderlich, dass die Gerichte eine aktive Rolle bei der Beweisführung einnehmen (BGE 144 I 234 E. 5.6.2). Nur wenn die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht genügen, dürfen sie einen Sachverhalt als erwiesen (oder nicht erwiesen) ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen. Der Grundsatz "in dubio pro reo" kann sachlogisch erst zur Anwendung kommen, wenn alle aus Sicht des urteilenden Gerichts notwendigen Beweise erhoben wurden. Da es den Strafbehörden obliegt, die Beweise rechtskonform zu erheben, sind die notwendigen Ergänzungen von Amtes wegen vorzunehmen. Dazu bedarf es keines Antrags durch eine Partei (BGE 143 IV 288 E. 1.4.1).  
Das Rechtsmittelverfahren setzt das Strafverfahren fort und knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen, an (BGE 143 IV 408 E. 6.2.1, 288 E. 1.4.1). Es beruht auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind (Art. 389 Abs. 1 StPO). Beweisabnahmen des erstinstanzlichen Gerichts sind im Rechtsmittelverfahren jedoch zu wiederholen, wenn Beweisvorschriften verletzt worden sind, die Beweiserhebungen unvollständig waren oder die Akten über die Beweiserhebungen unzuverlässig erscheinen (Art. 389 Abs. 2 lit. a-c StPO). Sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint, mithin, wenn sie den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann, erhebt das Berufungsgericht zudem auch im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise noch einmal (Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 288 E. 1.4.1). Das Gericht verfügt bei der Frage, ob die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels erforderlich ist oder ob eine gerichtlich erfolgte Beweisabnahme gestützt auf Art. 343 Abs. 3 StPO im Berufungsverfahren zu wiederholen ist, über einen Ermessensspielraum (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2; Urteil 6B_1189/2018 vom 12. September 2019 E. 2.1.1 f. mit Hinweisen). 
 
1.2. Es ist unbestritten und erstellt, dass der Beschwerdeführer dem schriftlichen Berufungsverfahren nicht zugestimmt hat. Er hat im Gegenteil mehrfach ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Vor diesem Hintergrund scheidet Art. 406 Abs. 2 StPO zur Begründung eines schriftlichen Berufungsverfahrens von vornherein aus.  
Sodann erhellt bereits aus den vorinstanzlichen Anträgen des Beschwerdeführers, dass er den Anklagesachverhalt bestreitet und "zur tatsächlichen Sachverhaltsermittlung" diverse Beweisanträge stellt. Namentlich verlangte er die Anhörung mehrerer Zeugen sowie die Einholung eines detaillierten Berichts durch die Anzeigestellerin SECO. Darin sei darzulegen, worin die technischen bzw. kryptographischen Eigenschaften der Güter Fortigate 90D und 300D sich unterscheiden würden, zumal die Stellungnahme des Fachexperten der C.________ GmbH bestätige, dass dahingehend bei diesen beiden Gütern keine Differenz bestehe und er sich nicht erklären könne, weshalb das eine Gut die Ausnahmekriterien gemäss GKV (Güterkontrollverordnung; SR 946.202.1) erfülle, das andere aber nicht. Die Vorinstanz lehnte sämtliche Beweisanträge wiederholt ab. Wie das Bundesgericht indes in konstanter Rechtsprechung erwägt, sieht der kontradiktorische Charakter des mündlichen Berufungsverfahrens die Anwesenheit der Parteien vor, auf die nur in einfach gelagerten Fällen verzichtet werden kann, namentlich wenn der Sachverhalt unbestritten und nicht angefochten und deshalb eine Einvernahme nicht erforderlich ist (vgl. Art. 405 Abs. 2 StPO; BGE 143 IV 288 E. 1.4.1 f.; Urteil 6B_1189/2018 vom 12. September 2019 E. 2.1.3). Vorliegend kann offensichtlich weder von einem in tatsächlicher Hinsicht unbestrittenen noch ohne Weiteres von einem rechtlich und tatsächlich einfachen Verfahren gesprochen werden. Es ist daher nicht nachvollziehbar, weshalb die Vorinstanz trotz wiederholtem Verlangen des Beschwerdeführers auf ein die gesetzliche Regel bildendes mündliches Berufungsverfahren verzichtet hat. Dies ist nachzuholen, wobei die zur rechtskonformen Ermittlung des Sachverhalts resp. zur Beurteilung der Tat erheblichen Beweise von Amtes wegen und unter Gewährung der Parteirechte allenfalls nochmal zu erheben sind (vgl. oben E. 1.1.2). 
 
2.   
Die Beschwerde ist gutzuheissen, ohne dass auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers eingegangen zu werden braucht. Das Urteil der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts vom 12. Mai 2020 ist aufzuheben und die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausgangsgemäss sind keine Kosten zu erheben und der Beschwerdeführer hat zu Lasten der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Bundesanwaltschaft) Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung (Art. 66 Abs. 1 und 4; Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts vom 12. Mai 2020 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Die Schweizerische Eidgenossenschaft (Bundesanwaltschaft) entschädigt den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.--. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesstrafgericht, Berufungskammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. November 2020 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt