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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_739/2020  
 
 
Urteil vom 5. November 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Hardy Landolt, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Glarus, Burgstrasse 6, 8750 Glarus, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 29. Oktober 2020 (VG.2020.00068/69). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1998 geborene A.________ leidet seit Geburt an einer Nemalin-Myopathie (NM) Typ II. Sie bezog respektive bezieht verschiedene Leistungen der Invalidenversicherung, u.a. eine Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit schweren Grades. Ende September 2018 meldete sie sich bei der IV-Stelle Glarus zum Bezug eines Assistenzbeitrags an. Diese sprach A.________ nach Abklärungen betreffend den Hilfebedarf mit Verfügungen vom 18. Juni 2020 Assistenzbeiträge für Oktober bis Dezember 2018 von monatlich durchschnittlich Fr. 12'155.- (maximal Fr. 133'705.- pro Jahr [11 x Fr. 12'155.-]) und ab Januar 2019 von monatlich durchschnittlich Fr. 8455.25 (maximal Fr. 93'007.75 pro Jahr [11 x Fr. 8455.25]) zu. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Urteil vom 29. Oktober 2020 teilweise gut und änderte die Verfügungen vom 18. Juni 2020 dahingehend ab, als es den Assistenzbeitrag pro Jahr auf das Zwölffache des monatlichen Anspruchs festsetzte. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese ihr den ungekürzten gesetzlich anerkannten Assistenzbeitrag zuspreche. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen schliessen auf Abweisung der Beschwerde. 
A.________ lässt eine weitere, vom 13. April 2021 datierende Eingabe samt Beilage einreichen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der vorinstanzliche Entscheid dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).  
Die Beschwerdeführerin lässt letztinstanzlich erstmalig den Bericht des Zentrums B.________ vom 20. August 2020 ins Recht legen. Indessen zeigt sie nicht auf, weshalb diese Stellungnahme nicht schon im kantonalen Verfahren hätte eingebracht werden können, noch wird dargelegt, inwieweit erst das angefochtene Urteil Anlass zu deren Einreichung gegeben haben soll (vgl. BGE 143 V 19 E. 1.2). Sie ist daher als unechtes Novum unzulässig und bleibt unbeachtlich. 
 
2.  
Soweit die Beschwerdeführerin in formeller Hinsicht moniert, das kantonale Gericht habe sich nicht mit der Problematik auseinandergesetzt, dass bei ihr wie auch ihren Eltern durch die Kürzung des Assistenzbeitrags faktische Grundrechtsverletzungen entstünden, dringt sie nicht durch. Dem angefochtenen Entscheid ist durchaus zu entnehmen, von welchen Überlegungen sich die Vorinstanz hinsichtlich der zentralen Frage, ob die interessierenden Leistungen vom Hilfebedarf abzuziehen sind oder nicht, hat leiten lassen. Eine Verletzung der Begründungspflicht bzw. des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) liegt daher nicht vor (vgl. statt vieler: BGE 142 III 433 E. 4.3.2 mit Hinweisen). 
 
3.  
Die Vorinstanz hat die massgeblichen rechtlichen Grundlagen zum Umfang des Assistenzbeitrags (Art. 42sexies Abs. 1 und 4 IVG in Verbindung mit Art. 39c, 39e und 39g Abs. 2 IVV), namentlich betreffend den Leistungsabzug gemäss Art. 42sexies Abs. 1 lit. a-c IVG zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen hinsichtlich der grundsätzlichen Eignung des standardisierten Abklärungsinstruments FAKT 2, den gesamten Hilfebedarf einer versicherten Person zu ermitteln (BGE 140 V 543 E. 3.2.2), sowie in Bezug auf das Kreisschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherungen über den Assistenzbeitrag (nachfolgend: KSAB). Darauf wird verwiesen. 
 
4.  
 
4.1. Es steht fest, dass sich der durch FAKT 2 ermittelte Gesamtbedarf der Beschwerdeführerin auf 484,13 Stunden monatlich beläuft. Davon anerkannten Beschwerdegegnerin und Vorinstanz in Anbetracht der geltenden Höchstansätze (Art. 42sexies Abs. 4 IVG in Verbindung mit Art. 39e Abs. 2 IVV) unbestritten nur 382,81 Stunden.  
 
4.2. Das kantonale Gericht hat diesbezüglich im Wesentlichen erwogen, soweit die Beschwerdeführerin einen Abzug vom Assistenzbeitrag mit Blick auf den (um rund 100 Stunden pro Monat) höheren tatsächlichen Hilfebedarf als unzulässig qualifizieren wolle, setze sie sich in Widerspruch zum klaren Wortlaut des Art. 42sexies Abs. 1 IVG. Daraus gehe unmissverständlich hervor, dass die Hilflosenentschädigung, die Dienstleistungen Dritter und die Grundpflege nach Art. 25a KVG von der für die Hilfeleistungen gesetzlich anerkannten Zeit abzuziehen seien. Zudem wäre ein gänzlicher Verzicht auf diese Abzüge, wie ihn die Beschwerdeführerin fordere, nicht mit Art. 190 BV in Einklang zu bringen, wonach Bundesgesetze für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgeblich seien.  
 
5.  
 
5.1. In BGE 140 V 543 befasste sich das Bundesgericht eingehend mit der Auslegung des Art. 42sexies Abs. 1 IVG. Danach ist die Zeit, welche durch die Hilflosenentschädigung und allfällige Beiträge für Dienstleistungen Dritter oder an Grundpflege nach Art. 25a KVG zu decken ist, vom anerkannten Hilfebedarf gemäss Art. 39e IVV und nicht vom höheren Gesamtbedarf abzuziehen. Es räumte zwar ein, dass schwerer Behinderte mit tendenziell höherem Hilfebedarf gegenüber solchen mit leichteren Einschränkungen und geringerem Bedarf in Bezug auf die Höchstgrenzen - wie grundsätzlich bei allen limitierten Leistungen - benachteiligt sein können, stellte aber klar, dass darin insbesondere keine unzulässige Diskriminierung (Art. 8 Abs. 2 BV) liegt. Denn einerseits ist es Folge des klaren Willens des Gesetzgebers, die Kostenfolgen des Assistenzbeitrages als auf den 1. Januar 2012 neu eingeführte Leistung für die Invalidenversicherung unter Kontrolle zu halten und über den Bundesrat dafür u.a. zeitliche Höchstgrenzen festlegen zu lassen. Andererseits sind allfällige Unterschiede im Behinderungsgrad durch abgestufte Höchstansätze mit einbezogen (vgl. Art. 39e Abs. 2 lit. a IVV). Das Vorgehen gemäss Rz. 4105-4109 KSAB trägt dem Gleichbehandlungsgebot insofern besser Rechnung, als neben der Hilflosenentschädigung auch die Dienstleistungen Dritter und die Grundpflege nach KVG zu berücksichtigen sind. Würden solche Hilfeleistungen vom Gesamtbedarf abgezogen, liesse sich die Höhe des Assistenzbeitrages durch entsprechende (externe) Organisation der Hilfe steigern. Werden sie hingegen beim anerkannten Hilfebedarf berücksichtigt, ist der gesamte Hilfebedarf, unbesehen wodurch er gedeckt wird, gleichmässig limitiert (E. 3.6.3).  
 
5.2. Diese Rechtsprechung bestätigte das Bundesgericht in BGE 141 V 642. Es verneinte (erneut) eine dadurch bedingte Verletzung des Anspruchs auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 Abs. 1 und 14 BV) oder des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV). In der Folge erteilte es einer Auslegung des Art. 42sexies Abs. 1 IVG, wonach bei Versicherten, deren versicherter Assistenzbedarf unterhalb des tatsächlichen Hilfebedarfs liegt, kein Abzug der Hilflosenentschädigung und der vom Krankenversicherer vergüteten Grundpflegeleistungen vorgenommen werden darf, aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Art. 42sexies Abs. 1 IVG eine Absage. Vielmehr müssen die erwähnten Zeiten zwingend abgezogen werden (Urteile 8C_57/2020 vom 18. Juni 2020 E. 4.3.1 und 9C_219/2020 vom 28. Januar 2021 E. 4.3).  
 
6.  
 
6.1. Das Vorgehen des kantonalen Gerichts steht damit vollumfänglich im Einklang. Demnach belässt schon der klare Wortlaut des Art. 42sexies Abs. 1 IVG keinen Raum für einen Verzicht auf die gesetzlich vorgesehenen Abzüge (vgl. E. 5.2 in fine). Darüber hinaus entspricht es - wie erwähnt - dem Willen des Gesetzgebers, die Kostenfolgen des Assistenzbeitrages durch Festlegung von Höchstgrenzen unter Kontrolle zu halten (BGE 140 V 543). Inwieweit Art 42sexies Abs. 1 IVG - wie in der Beschwerde hauptsächlich geltend gemacht - aus systematischer Sicht so zu verstehen sein soll, dass eine Kumulierung des ungekürzten Assistenzbeitrags mit der Hilflosenentschädigung und der Grundpflege nach KVG (oder der Verzicht auf die entsprechenden Abzüge) solange zulässig ist, als der versicherten Person daraus keine Überentschädigung erwächst, leuchtet vor diesem Hintergrund nicht ein. Will die Beschwerdeführerin insbesondere Art. 69 ATSG anwenden, so ist dem entgegen zu halten, dass mit Art. 42sexies Abs. 1 IVG eine abweichende Regelung in einem Einzelgesetz besteht. Diese geht als lex specialis vor (zur Kollisionsregel: BGE 144 V 224 E. 4.2 mit Hinweis). Sodann hat Art. 69 ATSG einzig die intersystemische Leistungskoordination zum Gegenstand. Darum geht es hier, zumindest was die vom Assistenzbeitrag abzuziehende Hilflosenentschädigung betrifft (vgl. Art. 42sexies Abs. 1 lit. a IVG), jedoch nicht. Aus dem in der Beschwerde zitierten BGE 146 V 74 ergibt sich nichts anderes. Dort gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass ein Erwerbsausfall von Angehörigen der verunfallten Person nach Art. 69 Abs. 2 ATSG als Mehrkosten berücksichtigt werden kann, soweit er darauf zurückzuführen ist, dass die angehörige Person ihre Erwerbstätigkeit zum Zweck der Erbringung von Betreuungs- oder Pflegeleistungen zugunsten der versicherten Person aufgegeben oder reduziert hat. Der fraglichen Überentschädigung lagen indes intersystemische Leistungen der Invalidenversicherung einerseits und der Unfallversicherung andererseits zugrunde. Folglich lässt sich (auch) daraus nichts zu Gunsten der Beschwerdeführerin ableiten.  
 
6.2. Die weiteren, unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot, das Recht auf persönliche Freiheit respektive Selbstbestimmung, das Privat- und Familienleben sowie verschiedene Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (BRK; in Kraft für die Schweiz seit 15. Mai 2014) erhobenen Rügen zielen direkt darauf ab, Art. 42sexies Abs. 1 IVG die Anwendung zu versagen. Das kann jedoch, wie das kantonale Gericht zu Recht erwogen hat, mit Blick auf das Anwendungsgebot des Art. 190 BV nicht angehen (vgl. BGE 146 V 129 E. 4.4; 136 II 120 E. 3.5.1). Abgesehen davon geben die von der Beschwerdeführerin angerufenen verfassungsmässigen Rechte grundsätzlich keinen Anspruch auf Übernahme sämtlicher behinderungsbedingter Kosten durch die Invalidenversicherung (vgl. BGE 146 V 233 E. 2.2; 138 I 225 E. 3.5). Auch anhand der sonstigen Vorbringen ist keine Rechtsverletzung ersichtlich, wenn die Vorinstanz die Hilflosenentschädigung und die Grundpflege nach Art. 25a KVG vom (anerkannten; vgl. E. 5.1 hievor) Hilfebedarf abgezogen hat. Triftige Gründe für eine Rechtsprechungsänderung ergeben sich mit anderen Worten nicht (zu den Voraussetzungen: BGE 141 II 297 E. 5.5.1; 137 V 417 E. 2.2.2). Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
7.  
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 5. November 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder