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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_638/2023  
 
 
Urteil vom 18. Januar 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Métral, 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Ergänzungsleistungen, 
Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 5. September 2023 
(200 23 269 UeL). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1962 geborene A.________ stellte am 30. Dezember 2022 bei der Ausgleichskasse des Kantons Bern einen Antrag auf Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose. Mit Verfügung vom 24. Januar 2023 verneinte diese einen entsprechenden Anspruch. An ihrem Standpunkt hielt die Ausgleichskasse mit Einspracheentscheid vom 6. März 2023 fest. 
 
B.  
A.________ erhob dagegen Beschwerde und beantragte, es seien ihm in Aufhebung des Einspracheentscheids ab 1. Januar 2023 Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose auszurichten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht stellte er den Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gemäss Art. 6 EMRK. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit Urteil vom 5. September 2023 ohne Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, in Aufhebung des angefochtenen Urteils seien ihm ab 1. Januar 2023 Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose auszurichten. Zudem sei gemäss Art. 6 EMRK eine öffentliche Verhandlung durchzuführen. 
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichten das Verwaltungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer beantragt in formeller Hinsicht, es sei gemäss Art. 6 EMRK eine öffentliche Verhandlung durchzuführen. 
 
2.1. Sollte mit diesem Begehren eine öffentliche Verhandlung vor Bundesgericht angestrebt werden, ist darauf hinzuweisen, dass das Verfahren vor Bundesgericht grundsätzlich schriftlich ist. Eine mündliche Parteiverhandlung (Art. 57 BGG) wird nur ausnahmsweise und auf besonders zu begründenden Antrag hin durchgeführt (BGE 147 I 478 E. 2.4.2 mit Hinweisen; Urteil 9C_245/2023 vom 26. Juli 2023 E. 2). Mangels entsprechender Begründung besteht bereits aus diesem Grund keine Veranlassung, vor Bundesgericht eine mündliche Parteiverhandlung abzuhalten. Überdies vermöchte die Durchführung einer solchen einen allfälligen Mangel im kantonalen Verfahren in Anbetracht der beschränkten Kognition des Bundesgerichts in vorliegender Sache ohnehin nicht zu heilen.  
 
2.2. Zur Begründung legt der Beschwerdeführer indes dar, das kantonale Gericht habe den entsprechenden Antrag zu Unrecht wegen angeblicher Aussichtslosigkeit der Beschwerde abgelehnt, und er verlangt eine Verhandlung mit Publikums- und Presseanwesenheit. Das vor Bundesgericht erneut gestellte Begehren ist mithin als Antrag auf Rückweisung an die Vorinstanz zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung entgegenzunehmen.  
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Die Öffentlichkeit des Verfahrens soll dazu beitragen, dass die Garantie auf ein "faires Verfahren" tatsächlich umgesetzt wird (BGE 142 I 188 E. 3.1.1 und 3.3). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1; 122 V 47 E. 3), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrags grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE 136 I 279 E. 1; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E. 1.2; je mit Hinweisen). Ein während des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag gilt dabei als rechtzeitig (BGE 134 I 331 E. 2.3; SVR 2020 IV Nr. 55 S. 188, 8C_751/2019 E. 3.3 mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen: SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 2.1 mit Hinweisen).  
 
3.2. Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann abgesehen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Als weiteres Motiv für die Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zutrifft, wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer Gutachten in der Regel nicht darunterfallen. Schliesslich kann das kantonale Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine solche aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen Rechtsbegehren der die Verhandlung beantragenden Partei zu entsprechen ist (BGE 136 I 279 E. 1 mit Hinweis auf BGE 122 V 47 E. 3b/ee und 3b/ff.; vgl. zum Ganzen: SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 2.2 mit Hinweisen).  
 
4.  
 
4.1. Vorliegend sind zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK streitig (BGE 122 V 47 E. 2a mit Hinweisen). Der Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sinne der EMRK wurde in der im vorinstanzlichen Verfahren eingereichten Beschwerde unbestrittenermassen rechtzeitig gestellt. Das kantonale Gericht entsprach diesem Begehren nicht mit der Begründung, die Beschwerde, mit der trotz der fehlenden gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose beantragt würden, sei als offensichtlich unbegründet anzusehen.  
 
4.2. Von der beantragten öffentlichen Verhandlung hätte das kantonale Gericht nur bei Vorliegen von in Erwägung 3.2 hiervor genannten Gründen absehen dürfen. Soweit es sich diesbezüglich darauf beruft, es habe sich auch ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lassen, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet sei, kann ihm nicht gefolgt werden.  
 
4.2.1. Die Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung wegen offensichtlicher Unbegründetheit der Beschwerde ist gemäss Rechtsprechung nicht unproblematisch, weil damit bereits über die Streitsache entschieden wird, die Gegenstand einer allfälligen Verhandlung bilden würde. Wohl sind Konstellationen denkbar, in denen von einer öffentlichen Verhandlung zum vornherein keine Auswirkungen auf den zu fällenden Entscheid erwartet werden können und deren Anordnung deshalb im Hinblick auf die gebotene Verfahrensökonomie ohne Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK unterbleiben kann. Dies trifft sicher zu, wenn die Beschwerdeführung als mutwillig oder rechtsmissbräuchlich zu bezeichnen ist. Auch wenn ein überzeugend begründeter Verwaltungsakt mit nicht sachbezogenen Argumenten angefochten wird oder die erhobenen Einwände - selbst wenn sie an sich zutreffen würden - mangels Relevanz für die zu beurteilende Streitfrage am Ergebnis nichts zu ändern vermögen, kann von einer öffentlichen Verhandlung abgesehen werden. Dasselbe gilt, wenn ein vom Gesetz gar nicht vorgesehener Anspruch geltend gemacht wird oder wenn einzig eine Rechtsfrage zur Diskussion steht, deren Antwort sich bereits klar aus der veröffentlichten höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt. In solchen Fällen ist die Beschwerde im erstinstanzlichen Verfahren zum vornherein als aussichtslos zu qualifizieren, weshalb sich auch im Hinblick auf die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistete Verfahrensgarantie nicht beanstanden lässt, wenn das kantonale Gericht den Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ablehnt (BGE 136 I 279 E. 1; 122 V 47 E. 3b/cc und 3b/dd; SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.2.1 mit Hinweisen).  
 
4.2.2. Die bisher offen gelassene Frage, ob die Rechtsprechung in Bezug auf das Kriterium der offensichtlichen Unbegründetheit mit jener des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vereinbar ist (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.2.2), braucht auch im hier zu beurteilenden Fall, wie sich aus nachfolgender Erwägung ergibt, nicht abschliessend beantwortet zu werden.  
 
4.3. Im vorliegenden Verfahren geht es um den Anspruch auf Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose. Die Beschwerdegegnerin verneinte mit Einspracheentscheid vom 6. März 2023 einen entsprechenden Anspruch, da der Beschwerdeführer im November 2015 ausgesteuert worden, zu diesem Zeitpunkt noch nicht mindestens 60 Jahre alt gewesen und das Bundesgesetz über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG; SR 837.2) vom 19. Juni 2020 noch nicht in Kraft gestanden sei. Der Beschwerdeführer räumte vor Vorinstanz ein, dass er die Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. a ÜLG nicht erfülle, machte jedoch geltend der durch diese Voraussetzungen erfolgte Ausschluss der Langzeitarbeitslosen von Überbrückungsleistungen sei diskriminierend und verletze Art. 14 i.V. mit Art. 8 EMRK. Diesen im kantonalen Verfahren vorgebrachten Einwänden kann nicht von vornherein jegliche Bedeutung abgesprochen werden. Die Argumente waren sachbezogen und für die zu beurteilende Streitfrage grundsätzlich relevant. Wenn die Vorinstanz nach Würdigung der Sach- und Rechtslage zusammenfassend festhielt, die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet, entschied sie damit bereits über die Streitsache, die Gegenstand der öffentlichen Verhandlung hätte bilden sollen. Selbst wenn das kantonale Gericht den entsprechenden Antrag mit dieser Begründung abwies, kann von einer offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde im Sinne von E. 4.2.1 hiervor in Anbetracht seiner vorgängigen materiellen Erwägungen nicht ausgegangen werden.  
 
4.4. Andere Gründe, die das Absehen von der ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung rechtfertigen würden, werden im angefochtenen Urteil nicht erwähnt und sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere liegt unter den gegebenen Umständen nicht ein ausschliesslich auf eine Beweisabnahme gerichtetes Begehren vor, worauf der Öffentlichkeitsgrundsatz tatsächlich keinen Anspruch einräumt (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.4 mit Hinweis).  
 
4.5. Zusammenfassend bestand für das kantonale Gericht keine Veranlassung und keine Rechtfertigung, von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ausnahmsweise abzuweichen. Indem die Vorinstanz dennoch auf eine solche verzichtete, wurde der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantie (vgl. auch Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 61 lit. a ATSG) nicht Rechnung getragen. Die Sache ist daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es diesen Verfahrensmangel behebt und die verlangte öffentliche Verhandlung durchführt. Danach wird es über die Beschwerde materiell neu befinden (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.5).  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Trotz des auf Grund der angeordneten Rückweisung (teilweisen) Obsiegens steht dem Beschwerdeführer, da nicht anwaltlich vertreten, keine Parteientschädigung nach Art. 68 Abs. 2 BGG zu. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 5. September 2023 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 18. Januar 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch