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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_801/2010 
 
Urteil vom 15. Dezember 2010 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard, 
Gerichtsschreiberin Hofer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
K.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. August 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
A.a Der 1960 geborene K.________ meldete sich im März 2003 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Namentlich gestützt auf die Berichte des Hausarztes Dr. med. M.________ vom 5. Mai 2003 und des Dr. med. L.________ vom 30. Juni 2003 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Wirkung ab 1. Februar 2003 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom 7. Januar 2004). 
A.b Im September 2004 leitete die IV-Stelle ein Rentenrevisionsverfahren ein. Am 13. Februar 2007 teilte sie dem Versicherten mit, bei der Überprüfung des IV-Grades habe keine Änderung festgestellt werden können, die sich auf den Rentenanspruch auswirken würde, weshalb weiterhin eine ganze Rente ausgerichtet werde. 
A.c In der Folge holte die IV-Stelle den Verlaufsbericht des Dr. med. M.________ vom 19. Juni 2007 ein, zog Berichte des Neurologen Dr. med. R.________ bei und gab das interdisziplinäre MEDAS-Gutachten vom 25. August 2008 in Auftrag. Mit Verfügung vom 17. November 2009 eröffnete sie dem Versicherten die Herabsetzung der ganzen auf eine halbe Invalidenrente. 
 
B. 
Dagegen liess K.________ Beschwerde führen mit dem Begehren, es sei ihm weiterhin eine ganze Invalidenrente zu gewähren. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragte er die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung mit Parteibefragung unter Beizug eines türkischsprachigen Dolmetschers. Mit Entscheid vom 11. August 2010 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab, ohne eine öffentliche Verhandlung durchgeführt zu haben. 
 
C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt K.________ den Antrag auf Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente erneuern. Eventuell sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen mit der Weisung, eine öffentliche Verhandlung mit Parteibefragung unter Beizug eines türkischsprachigen Dolmetschers durchzuführen, weitere Erhebung des Sachverhalts zu treffen und neu zu entscheiden. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme verzichten. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Diese erblickt er darin, dass die Vorinstanz seinen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung abgelehnt habe. Dieser formelle Einwand ist zuerst zu behandeln. 
 
1.1 Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat (Satz 1). Dieselbe Konventionsbestimmung sieht Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz vor im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit oder wenn die Interessen von Jugendlichen, der Schutz des Privatlebens von Prozessparteien oder die Gefahr einer Beeinträchtigung der Rechtspflege es gebieten (Satz 2). 
 
1.2 Im Sozialversicherungsprozess hat das erstinstanzliche Gericht grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung anzuordnen, wenn eine solche beantragt wird. Als Gründe für eine Ausnahme von diesem Prinzip fallen nebst den im zitierten Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK genannten Umständen namentlich in Betracht, dass der Antrag nicht frühzeitig genug gestellt wurde, als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwider läuft oder gar rechtsmissbräuchlich ist. Weiter erscheint der Verzicht auf eine beantragte öffentliche Verhandlung durch das erstinstanzliche Gericht als zulässig, wenn sich auch ohne eine solche mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Dasselbe gilt, wenn eine Materie hochtechnischen Charakters zur Diskussion steht, wobei darunter etwa rein rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zu verstehen sind, nicht aber andere dem Sozialversicherungsprozess inhärente Fragestellungen wie beispielsweise die Würdigung medizinischer Gutachten. Schliesslich kann von einem nachträglichen Verzicht auf eine zunächst verlangte öffentliche Verhandlung ausgegangen werden, wenn das kantonale Gericht allein schon aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, den materiellen Rechtsbegehren der die Verhandlung beantragenden Partei sei zu entsprechen (BGE 122 V 47 E. 3b S. 55 ff.; Urteile 9C_677/2010 vom 11. Oktober 2010 E. 1.2; 8C_993/2009 vom 31. August 2010 E. 3.2). 
 
1.3 Bildet Gegenstand in einer allfälligen Verhandlung einzig die Auseinandersetzung mit den vorhandenen Stellungnahmen von Ärztinnen und Ärzten zu Gesundheitsschaden und Grad der Arbeitsunfähigkeit, ist eine bessere Eignung des schriftlichen Verfahrens nicht erkennbar. Es handelt sich bei der Würdigung solcher medizinischen Berichte und der Beurteilung der Beweiskraft einander widersprechender ärztlicher Aussagen um eine auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts alltägliche und damit nicht um eine "hochtechnische" Thematik im Sinne der Rechtsprechung. Nicht zu übersehen ist sodann, dass eine öffentliche Verhandlung in einzelnen Fällen mit medizinischer Fragestellung geeignet sein kann, zu einer Klärung offener Tatfragen beizutragen (BGE 136 I 279 E. 3.2 S. 284; Urteil 9C_1034/2009 vom 8. Juni 2010 E. 2.4). 
 
2. 
2.1 Vor Vorinstanz hat der Beschwerdeführer beantragt, es sei "eine öffentliche Verhandlung nach Art. 6 EMRK mit Parteibefragung unter Beizug eines Türkisch-Dolmetschers durchzuführen". 
 
Das kantonale Gericht hat dazu festgestellt, der Beschwerdeführer habe damit nicht eine konventionskonforme Verhandlung mit Publikums- und Presseanwesenheit, sondern lediglich die Durchführung einer Parteibefragung zwecks Beurteilung seiner Deutschkenntnisse und seines gesundheitlichen Zustandes verlangt. Demnach bestehe kein Anspruch auf Durchführung einer Verhandlung. Da von einer Parteibefragung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien, werde das entsprechende Begehren in antizipierter Beweiswürdigung abgewiesen. 
 
2.2 Beim vorliegenden Prozess betreffend die Revision einer Rente der Invalidenversicherung handelt es sich um eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 125 V 499 E. 2a S. 501; 122 V 47 E. 2a S. 50 mit Hinweisen; SVR 2006 IV Nr. 1 S. 1, I 573/03 E. 3.3). Der Beschwerdeführer hat daher gestützt auf diese Bestimmung einen Anspruch auf eine Parteiverhandlung im kantonalen Gerichtsverfahren (BGE 134 I 229 E. 4.2 S. 236). Die kantonale Rechtsmittelinstanz hat grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung anzuordnen, wenn in einem unter Art. 6 Ziff. 1 EMRK fallenden Verfahren eine solche ausdrücklich oder zumindest konkludent beantragt worden ist (BGE 122 V 47 E. 3b S. 56). Dies ist bereits anzunehmen, wenn aus der Beschwerdeschrift geschlossen werden kann, dass sinngemäss eine solche Verhandlung beantragt wird (BGE 122 V 47 E. 4a S. 58). 
 
2.3 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Strassburger Organe zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK anerkennt, dass auf den sich aus dieser Bestimmung ergebenden Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung verzichtet werden kann. Der Verzicht muss - ausdrücklich oder stillschweigend erfolgt - eindeutig und unmissverständlich sein. Ein Verzicht wird insbesondere angenommen, wenn kein Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gestellt wird, obwohl das Gericht in der Regel nicht öffentlich verhandelt (BGE 127 I 44 E. 2e/aa S. 48; 122 V 47 E. 2d S. 52 mit zahlreichen Hinweisen). Bei Zweifeln über den Antrag hat das kantonale Gericht nachzufragen, ob eine öffentliche Verhandlung gewünscht wird (BGE 127 I 44 E. 2e/bb S. 48; Urteil 2C_370/2010 vom 26. Oktober 2010 E. 2.7). 
 
2.4 Ein Gericht kann zwar ohne Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK aufgrund einer antizipierten Beweiswürdigung zum Ergebnis gelangen, auf eine Befragung von Zeugen oder auch der Parteien könne verzichtet werden. Das Recht auf eine öffentliche Verhandlung besteht indessen unabhängig von einer Parteiverhandlung zum Zweck der Beweisabnahme (SZZP 2008 S. 6, 8C_67/2007 E. 3.2.4). 
 
2.5 Da der Beschwerdeführer in der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift ausdrücklich eine "öffentliche Verhandlung nach Art. 6 EMRK" beantragt hat, hätte das kantonale Gericht näher prüfen müssen, ob Gründe vorliegen, die ein Absehen von einer öffentlichen Verhandlung hätten rechtfertigen können. Der Hinweis des Versicherungsgerichts auf das bundesgerichtliche Urteil vom 18. Dezember 2008 (wohl SVR 2009 IV Nr. 22 S. 62, 9C_599/2008) vermag daran nichts zu ändern. 
 
Triftige Gründe, welche gegen eine öffentliche Verhandlung sprechen würden, sind nicht ersichtlich und werden denn auch weder von der Vorinstanz noch von der Beschwerdegegnerin namhaft gemacht. Weder ist der Antrag schikanös, noch läuft er dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwider. Sodann kann das Rechtsmittel nicht als offensichtlich unbegründet oder unzulässig bezeichnet werden, was denn auch das kantonale Gericht nicht angenommen hat. Von hoher Technizität der sich stellenden Fragen kann ebenfalls nicht gesprochen werden. Streitig ist, ob sich der gesundheitliche Zustand in anspruchsbeeinflussendem Mass verändert hat. Dies begründet keine Ausnahme von der Pflicht, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen. Schliesslich war dem materiellen Rechtsbegehren des Versicherten allein auf Grund der Akten nicht ohne weiteres zu entsprechen. 
 
3. 
Nach dem Ausgeführten lässt sich das Absehen von einer mündlichen öffentlichen Verhandlung nicht mit der Garantie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbaren. Die Beschwerde erweist sich insoweit als begründet. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde und zur Rückweisung der Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz, ohne dass es darauf ankäme, ob dies am Ausgang des Verfahrens etwas ändern könnte (BGE 134 I 331 E. 3.1 S. 336; Urteil 2C_370/2010 vom 26. Oktober 2010 E. 3.1). In seinem neuen Entscheid wird sich das kantonale Gericht auch zur örtlichen Zuständigkeit der IV-Stelle zum Erlass der streitigen Verfügung zu äussern haben. 
 
4. 
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch des Versicherten um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. August 2010 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen die Verfügung vom 17. November 2009 neu entscheide. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 15. Dezember 2010 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Ursprung Hofer