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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_195/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 3. September 2014  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Parrino, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch 
Fürsprecher Gerhard Lanz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,  
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Rückerstattung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 6. Februar 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
 
A.a. Mit Verfügung vom 23. September 1999 sprach die IV-Stelle Bern A.________ eine halbe Invalidenrente ab 1. Januar 1996 zu. Die Ausgleichskasse des Kantons Bern richtete ab diesem Zeitpunkt Leistungen aus. Mit Entscheid vom 9. Januar 2001 hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Verfügung vom 23. September 1999 auf und verneinte den Anspruch auf eine Invalidenrente. Mit Urteil I 116/01 vom 27. November 2001 hob das Eidg. Versicherungsgericht dieses Erkenntnis und die Verfügung auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie die Versicherte begutachten lasse und anschliessend über den Rentenanspruch neu verfüge.  
 
A.b. Gestützt auf ein interdisziplinäres Gutachten vom 24. Februar 2004 verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 7. April 2004 und Einspracheentscheid vom 23. Januar 2006 den Anspruch von A.________ auf eine Invalidenrente. Mit Entscheid vom 18. April 2007 hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern diesen Verwaltungsakt auf und wies die Akten zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen (d.h. Durchführung weiterer Abklärungen) an die IV-Stelle zurück.  
 
A.c. Nach erneuter Begutachtung (Expertisen vom 19. Februar 2010 und 29. März 2012) verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 25. Juli 2012 einen Rentenanspruch, was vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 22. Januar 2013 und letztinstanzlich vom Bundesgericht mit Urteil 9C_161/2013 vom 29. Oktober 2013 bestätigt wurde.  
 
B.   
Mit Verfügung vom 23. Mai 2013 forderte die IV-Stelle von A.________ die im Zeitraum vom 1. März 2007 bis 31. März 2012 ausgerichteten Leistungen in der Höhe von Fr. 116'316.- zurück. In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde setzte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 6. Februar 2014 den rückzuerstattenden Betrag auf Fr. 85'461.- herab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 6. Februar 2014 sei aufzuheben. 
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Streitgegenstand bildet die Rückerstattung der im Zeitraum von Juni 2008 bis März 2012 unbestritten unrechtmässig bezogenen Rentenleistungen der Invalidenversicherung in der Höhe von Fr. 85'461.-nach Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG (i. V. m. Art. 1 Abs. 1 IVG und Art. 2 ATSG; Art. 107 Abs. 1 BGG). Dabei stellt sich aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde einzig die Frage, ob die zurückgeforderten Leistungen rechtzeitig mit Verfügung vom 23. Mai 2013 geltend gemacht wurden. 
 
2.   
Gemäss Art. 25 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten (Abs. 1 Satz 1). Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung (Abs. 2 Satz 1). 
 
2.1. Nach der Rechtsprechung ist für den Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist (BGE 133 V 579 E. 4.1 S. 582) nicht das erstmalige unrichtige Handeln und die daran anknüpfende unrechtmässige Leistungsausrichtung massgebend. Abzustellen ist auf jenen Tag, an dem der Versicherungsträger später bei der ihm gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit den Fehler hätte erkennen müssen ("Wahrnehmung der Unrichtigkeit der Leistungsausrichtung aufgrund eines zusätzlichen Indizes"; BGE 122 V 270 E. 5b/aa S. 276 oben) und dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung gegeben sind. Dies ist der Fall, wenn alle im konkreten Einzelfall erheblichen Umstände zugänglich sind, aus deren Kenntnis sich der Rückforderungsanspruch dem Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber einer bestimmten rückerstattungspflichtigen Person ergibt (Urteil 9C_493/2012 vom 25. September 2012 E. 4 mit Hinweisen).  
 
2.2. Verfügt der Versicherungsträger oder das Durchführungsorgan (Art. 27 und 34 ATSG) über genügende Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch, sind die Unterlagen aber noch unvollständig, hat sie die noch erforderlichen Abklärungen innert angemessener Zeit vorzunehmen. Bei Säumnis ist der Beginn der Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die Verwaltung mit zumutbarem Einsatz ihre unvollständige Kenntnis so zu ergänzen im Stande gewesen wäre, dass der Rückforderungsanspruch hätte geltend gemacht werden können (Urteil 9C_999/2009 vom 7. Juni 2010 E. 3.2.2 mit Hinweisen, in: SVR 2011 EL Nr. 7 S. 21).  
 
3.   
Die Vorinstanz hat erwogen, die Verfügung vom 23. September 1999, mit welcher die IV-Stelle der Beschwerdeführerin eine halbe Rente zugesprochen habe, sei nie rechtskräftig geworden. Die Rückforderung der sich nachmalig als unrechtmässig erwiesenen Leistungen bedürfe somit keines Rückkommenstitels. Da es um eine erstmalige Rentenzusprache und nicht um die revisionsweise Aufhebung einer Rente gehe, sei für eine Leistungsanpassung ex tunc auch keine Meldepflichtverletzung nach Art. 77 IVV und Art. 31 Abs. 1 ATSG erforderlich (vgl. Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV). Entscheidend sei, dass die Verfügung vom 23. September 1999 (und die darauf gestützte Ausrichtung von Rentenleistungen) stets unter dem Vorbehalt der rechtskräftigen Bestätigung, allenfalls durch das kantonale Versicherungsgericht oder das Bundesgericht, gestanden habe, welche indessen nicht erfolgt sei. Das Gutachten vom 29. März 2012 sei zwar Grundlage für die nachmalige Leistungsverweigerung gewesen. Indessen habe es noch der Prüfung des Leistungsanspruchs anhand der Expertise bedurft. Erst mit deren Abschluss und Erlass der entsprechenden Verfügung am 25. Juli 2012 habe die relative einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 ATSG zu laufen begonnen. Die Rückforderung sei daher rechtzeitig mit Verfügung vom 23. Mai 2013 geltend gemacht worden. 
 
Die Beschwerdeführerin führt gegen die Argumentation der Vorinstanz das Urteil 9C_875/2010 vom 28. März 2011 ins Feld. Nach diesem einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden Entscheid habe die relative einjährige Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG spätestens mit der Eröffnung des Urteils I 116/01 vom 27. November 2001, für alle danach ausgerichteten Leistungen mit der Auszahlung zu laufen begonnen. Bei Erlass der Verfügung vom 23. Mai 2013 sei daher der Rückforderungsanspruch der Beschwerdegegnerin in Bezug auf alle bis März 2012 erbrachten Leistungen verwirkt gewesen. 
 
 
4.   
 
4.1. Im Fall 9C_875/2010 hatte die IV-Stelle einem Versicherten ab 1. Mai 2001 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung samt Zusatzrente für die Ehefrau und zwei Kinderrenten zugesprochen (Verfügung vom 24. Juni 2005 und Einspracheentscheid vom 7. August 2006). Auf Beschwerde hin hob das kantonale Versicherungsgericht diesen Verwaltungsakt auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 2. Mai 2007). Nachdem der Versicherte begutachtet worden war, verneinte die IV-Stelle einen Rentenanspruch (Verfügung vom 17. März 2010), was vom kantonalen Versicherungsgericht bestätigt wurde (Entscheid vom 21. September 2010).  
 
Die IV-Stelle hatte entsprechend der Verfügung vom 24. Juni 2005 bis Oktober 2009 Leistungen erbracht, bis Ende März 2007 der Sozialhilfebehörde, welche den Versicherten und dessen Familie unterstützt hatte. Von dieser forderte sie mit Verfügung vom 10. November 2009 Fr. 15'610.- zurück. Das kantonale Versicherungsgericht bejahte eine Rückerstattungspflicht in der Höhe von Fr. 15'154.- (Entscheid vom 21. September 2010). Dagegen wehrte sich die Sozialhilfebehörde mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. 
 
Das Bundesgericht führte in E. 4.2.2 seines Urteils 9C_875/2010 vom 28. März 2011 aus, es sei davon auszugehen, dass Leistungen nur ausgerichtet werden dürfen, wenn es hiefür eine Grundlage im Gesetz gibt, der Anspruch als solcher und in masslicher Hinsicht im dafür vorgesehenen Verfahren festgestellt wurde (vgl. betreffend Renten der Invalidenversicherung Art. 49 und 51 ATSG sowie Art. 58 IVG und Art. 74ter lit. f IVV) und wenn der leistungszusprechende Entscheid (Verfügung, Einsprache- oder Gerichtsentscheid) in Rechtskraft erwachsen ist. Hier sei der erste Fehler bereits mit der erstmaligen Rentenauszahlung gestützt auf die - in keinem Zeitpunkt rechtsbeständig gewordene - Verfügung vom 24. Juni 2005 bzw. den (angefochtenen) Einspracheentscheid vom 7. August 2006 passiert. Aufgrund des diesen Verwaltungsakt aufhebenden vorinstanzlichen Entscheids vom 2. Mai 2007 hätte die IV-Stelle bei der gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit ohne weiteres erkennen können und müssen, dass die bisherigen Leistungen unrechtmässig erfolgt waren. Die relative einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG hatte somit mit der Eröffnung dieses Entscheids zu laufen begonnen, weshalb bei Erlass der Verfügung vom 10. November 2009 der Rückforderungsanspruch verwirkt war (vgl. auch Urteil 9C_877/2010 vom 28. März 2011, womit letztinstanzlich die von der IV-Stelle am 16. November 2009 gegenüber dem Versicherten verfügte, erstinstanzlich bestätigte Rückforderung über Fr. 12'474.- aufgehoben wurde). 
 
4.2. Nach diesen Erwägungen hätte im vorliegenden Fall die relative einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 ATSG spätestens mit der Eröffnung des Urteils I 116/01 vom 27. November 2001 (aArt. 38 OG) zu laufen begonnen, womit (auch) die eine halbe Rente zusprechende Verfügung vom 23. September 1999 aufgehoben und die Sache an die IV-Stelle zurückwiesen wurde, damit sie die Versicherte begutachten lasse und anschliessend über den Rentenanspruch neu verfüge (vgl. Sachverhalt A.a). Wie das Bundesgericht in einem neueren, einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden Urteil 8C_631/2013 vom 26. Februar 2014 (in: SVR 2014 IV Nr. 15 S. 60) indessen erkannt hat, kann nicht angenommen werden, der Rückweisungszeitpunkt sei generell massgebend für den Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist hinsichtlich der Rückforderung. Entscheidend für die Frage, in welchem Zeitpunkt die Verwaltung Kenntnis über Bestand und Umfang des Rückforderungsanspruchs haben muss, sind stets die jeweiligen Umstände im Einzelfall; dem Urteil 9C_877/2010 vom 28. März 2011 kann nichts anderes entnommen werden (E. 5.2.2.4). Insbesondere hat die IV-Stelle nicht bereits dann fristauslösende Kenntnis, wenn sie im Zeitpunkt des Rückweisungsentscheids mit der Möglichkeit rechnen muss, dass sich je nach Abklärungsergebnis eine Änderung zuungunsten der versicherten Person in Bezug auf den Rentenanspruch an sich oder dessen Umfang ergeben könnte (E. 5.2.2.3).  
 
Mithin beginnt nach dem Gesagten die relative einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 ATSG frühestens zu laufen, wenn die IV-Stelle um das definitive Ergebnis der Abklärungen weiss, auf denen der das Renten (streit) verfahren abschliessende Entscheid beruht. Das ist vorliegend der Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Gutachten vom 29. März 2012, wie die Vorinstanz - im Ergebnis - richtig erkannt hat (vorne E. 3), und nicht bereits die Expertise vom 24. Februar 2004, gestützt worauf die Beschwerdegegnerin das erste Mal einen Rentenanspruch verneint hatte (vgl. Sachverhalt A.b). Urteil 8C_527/2010 vom 1. November 2010 E. 3.2 ist im Zusammenhang nicht einschlägig. Unbestritten ist, dass die relative einjährige Verwirkungsfrist erst nach Prüfung des Leistungsanspruchs anhand der Expertise zu laufen beginnen konnte und demzufolge die Rückforderung rechtzeitig mit Verfügung vom 23. Mai 2013 geltend gemacht wurde (vorne E. 3). 
 
Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
5.   
Die unterliegende Beschwerdeführerin hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 3. September 2014 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler