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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
2C_528/2020  
 
 
Urteil vom 21. August 2020  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Zünd, 
Bundesrichterin Hänni, 
Gerichtsschreiber Businger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Camill Droll, 
 
gegen  
 
Amt für Migration und Integration des Kantons Aarga u. 
 
Gegenstand 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des 
Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, 
vom 19. Mai 2020 (WBE.2019.258). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.A.________ ist italienischer Staatsangehöriger. Er kam 1983 in der Schweiz zur Welt und verfügt über die Niederlassungsbewilligung. Seit dem 1. Januar 2011 bezieht er eine volle IV-Rente. 2011 kam seine Tochter B.A.________ zur Welt. Nach der Heirat mit der Kindesmutter, einer bulgarischen Staatsangehörigen, wurde 2012 der Sohn C.A.________ geboren. Am 23. März 2015 verurteilte ihn das Obergericht des Kantons Bern wegen mehrfacher versuchter vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, mehrfacher vorsätzlicher einfacher Körperverletzung und mehrfacher Verabreichung gesundheitsgefährdender Stoffe an Kinder zu einer Freiheitsstrafe von 44 Monaten, wobei eine dem Vollzug vorausgehende stationäre therapeutische Massnahme angeordnet wurde. Das Bundesgericht bestätigte diesen Entscheid mit Urteil 6B_930/2015 vom 1. Februar 2016. Seit dem 13. April 2017 befindet sich A.A.________ in der stationären Massnahme. Seine Ehe wurde am 1. März 2018 geschieden und die Kinder wurden unter die elterliche Sorge der Mutter gestellt. 
 
B.  
Am 3. Dezember 2018 widerrief das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau die Niederlassungsbewilligung von A.A.________ und wies ihn aus der Schweiz weg. Die dagegen erhobene Einsprache wies es am 27. Juni 2019 ab. Die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau am 19. Mai 2020 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 22. Juni 2020 beantragt A.A.________ dem Bundesgericht, vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung bzw. der Wegweisung sei abzusehen. Weiter sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. Das Amt für Migration und Integration sowie das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau schliessen auf Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
 
1.  
Die gegen den Widerruf der Niederlassungsbewilligung gerichtete Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 83 lit. c Ziff. 2 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d, Abs. 2 und Art. 90 BGG; BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4). 
 
2.  
Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer mit seiner rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 44 Monaten einen Widerrufsgrund gesetzt hat (Art. 62 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 63 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 AuG [SR 142.20; in der bis Ende 2018 gültigen Fassung]; BGE 135 II 377 E. 4.2 S. 379 ff.). Streitig ist, ob der Widerruf der Niederlassungsbewilligung verhältnismässig ist und vor dem Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) standhält. 
 
3.  
 
3.1. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung muss verhältnismässig sein (Art. 5 Abs. 2 BV; Art. 96 AuG). Massgebliche Kriterien der Verhältnismässigkeitsprüfung sind unter anderem die Schwere des Delikts, das Verschulden, die Dauer der Anwesenheit und der Grad der Integration, die familiären Verhältnisse sowie die Wiedereingliederungschancen im Herkunftsstaat (BGE 139 I 16 E. 2.2 S. 19 ff.; 139 I 31 E. 2.3 S. 33 ff.). Die Niederlassungsbewilligung eines Ausländers, der sich seit langer Zeit in der Schweiz aufhält, soll nur mit besonderer Zurückhaltung widerrufen werden. Der Widerruf ist indessen bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn der Betroffene in der Schweiz geboren ist und sein ganzes Leben hier verbracht hat (BGE 144 IV 332 E. 3.3.3 S. 341 f.; 139 I 16 E. 2.2.1 S. 19). Denn bei schweren Straftaten muss zum Schutz der Öffentlichkeit ausländerrechtlich selbst ein geringes Restrisiko weiterer Beeinträchtigungen der dadurch gefährdeten Rechtsgüter (Gesundheit, Leib und Leben usw.) nicht in Kauf genommen werden (BGE 139 I 31 E. 2.3.2 S. 34; 130 II 176 E. 4.2-4.4 S. 185 ff.). Das gilt namentlich für die in Art. 121 Abs. 3 BV aufgeführten Straftaten, die der Verfassungsgeber als besonders verwerflich betrachtet und die, wenn sie nach dem 1. Oktober 2016 begangen worden sind, in der Regel eine obligatorische Landesverweisung nach sich ziehen (Art. 66a StGB).  
 
3.2. Was das öffentliche Interesse am Widerruf betrifft, so ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass dieses als äusserst gross zu qualifizieren ist. Der Beschwerdeführer fügte seinem Ende März 2012 geborenen Sohn zwischen April und August 2012 Rippenbrüche, einen Schädelbruch sowie eine Blutung unter der harten Hirnhaut, körpernahe und körperferne Schienbeinbrüche, den Bruch eines Mittelfussknochens, Hautabschürfungen sowie Weichteilschwellungen im Halsbereich zu. Zudem verabreichte er ihm mindestens einmal Valium und Temesta in jeweils nicht genau feststellbarer Menge. Dies aus Überforderung und mit dem Ziel, den Säugling ruhigzustellen. Er hat damit schwere Gewaltdelikte zulasten seines wenige Wochen bzw. Monate alten und völlig wehrlosen Sohnes begangen, der unter seiner Sorge und Obhut stand. Zudem hat er mit der versuchten schweren Körperverletzung eine Anlasstat nach Art. 121 Abs. 3 BV begangen und mit der ausgesprochenen Strafe von 44 Monaten Freiheitsstrafe ein sehr hohes Strafmass erwirkt. Dies wird vom Beschwerdeführer nicht substanziiert infrage gestellt.  
 
3.3. Dem öffentlichen Interesse am Widerruf ist das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz gegenüberzustellen.  
 
3.3.1. Der Beschwerdeführer ist in der Schweiz geboren und hält sich seit 37 Jahren im Land auf. Dieser Umstand alleine führt dazu, dass das persönliche Interesse am Verbleib in der Schweiz als hoch zu veranschlagen ist. Die Vorinstanz hat dem Beschwerdeführer in sprachlicher, kultureller und sozialer Hinsicht eine gemessen an der Anwesenheitsdauer normale Integration attestiert, aber auch erwogen, dass keine Anhaltspunkte bestünden, wonach er besonders enge Beziehungen ausserhalb seiner Familie unterhalte. Dies wird in der Beschwerde nicht bestritten. Weiter geht die Vorinstanz von einer in beruflicher Hinsicht nicht erfolgreichen Integration aus, was dem Beschwerdeführer allerdings wegen seiner Arbeitsunfähigkeit nicht vorgeworfen werden könne, und attestiert ihm wegen seiner Schulden eine mangelhafte wirtschaftliche Integration. In dieser Hinsicht rügt der Beschwerdeführer, ihm dürften die Schulden nicht entgegengehalten werden, weil er bis ins Jahr 2015 schuldenfrei gelebt habe. Sein Hinweis auf die Praxis zum Bewilligungswiderruf wegen Schuldenwirtschaft ist jedoch unbehelflich. Dem Beschwerdeführer wird die Niederlassungsbewilligung nicht wegen seiner Schulden widerrufen; sie werden lediglich im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung berücksichtigt. Deshalb kann der Vorinstanz nicht vorgeworfen werden, sie habe eine Gehörsverletzung begangen, indem sie auf die entsprechenden Ausführungen nicht näher eingegangen ist. In Anbetracht der vorher genannten Umstände ist die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer - gemessen an der langen Aufenthaltsdauer - insgesamt nicht übermässig eng integriert erscheint.  
 
3.3.2. Was die Beziehung zu seinen Kindern betrifft, hat die Vorinstanz zutreffend erwogen, dass der Beschwerdeführer nicht mehr sorgeberechtigt ist, seine Kinder von vornherein nur im Rahmen eines Besuchsrechts sehen kann und, nachdem er wegen Gewalttaten zu Lasten seines Sohnes verurteilt worden ist, wohl für lange Zeit keinen unbegleiteten Kontakt haben wird. Nachdem der Beschwerdeführer nach Italien weggewiesen wird, kann ein allfälliger Kontakt aufgrund der geographischen Nähe ohne Weiteres vom Ausland aus gepflegt werden. Die Beziehung zu den Kindern vermag deshalb das private Interesse am Verbleib in der Schweiz nicht massgeblich zu erhöhen. In Bezug auf die enge Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen Eltern und Geschwister hat die Vorinstanz zutreffend festgehalten, dass diese bestenfalls zu einer leichten Erhöhung des privaten Interesses führe. Denn ein eigentliches Abhängigkeitsverhältnis wird in der Beschwerde nicht substanziiert vorgebracht; der pauschale Einwand, der Beschwerdeführer sei ohne seine Eltern nicht "überlebensfähig", ist angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer aktuell von einer Berufsbeiständin betreut wird, welche die vormals durch die Eltern geleistete Betreuung übernommen hat, und dass eine adäquate Unterstützung auch in Italien möglich ist (sogleich E. 3.3.3), nicht nachvollziehbar.  
 
3.3.3. Die Vorinstanz hat sich weiter ausführlich mit dem Gesundheitszustand des Beschwerdeführers auseinandergesetzt und unter Hinweis auf den Therapiebericht vom 24. Januar 2018 erwogen, dass sich seine Intelligenz mit Ausnahme des Verbalanteils im Normbereich befinde und er in der Lage sei, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich rational mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Zwar sei offensichtlich, dass der Beschwerdeführer Unterstützung benötige, doch sei nicht davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand bei einer Wegweisung nach Italien erheblich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine adäquate Behandlung bzw. Unterstützung sei auch in Italien möglich. Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerde nicht substanziiert auseinander. Der Beschwerdeführer behauptet ohne weitere Begründung, dass sich sein Entwicklungsstand auf dem Niveau eines 9-12-Jährigen befinde. Dies widerspricht sowohl den eingehenden medizinischen Abklärungen im Strafverfahren (vgl. Urteil 6B_930/2015 vom 1. Februar 2016 E. 1.4.2) als auch dem von der Vorinstanz zitierten Bericht. Dass die Berufsbeiständin den angeblich tiefen Entwicklungsstand bestätigt, ändert nichts daran, nachdem auch sie zu den gegenteiligen ärztlichen Einschätzungen keine Stellung nimmt. Es ist nicht umstritten, dass der Beschwerdeführer auf Hilfe angewiesen ist, doch können auch in Italien Erwachsenenschutzmassnahmen zu seiner Unterstützung angeordnet werden.  
 
3.3.4. Was schliesslich die Beziehungen des Beschwerdeführers zu seinem Heimatland betrifft, so hat die Vorinstanz berücksichtigt, dass er nie in Italien gelebt hat. Sie hat allerdings zu Recht erwogen, dass sich die dortige Kultur nicht völlig von den Schweizer Gepflogenheiten unterscheidet und der kulturellen Integration deshalb keine unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen. In sprachlicher Hinsicht hat sie erwogen, dem Beschwerdeführer sei die italienische Sprache nicht fremd, da er schon für seine Mutter übersetzt habe. Auch wenn ihn die sprachliche Integration angesichts seiner unterdurchschnittlichen verbalen Intelligenz vor Schwierigkeiten stellen werde, sei von intakten Integrationschancen auszugehen. In sozialer Hinsicht sei dagegen von schlechten Eingliederungschancen auszugehen, was zu einem erhöhten Interesse am Verbleib in der Schweiz führe, während sich die berufliche und wirtschaftliche Situation angesichts der vollen IV-Rente des Beschwerdeführers, die auch nach Italien ausbezahlt werde, nicht entscheidend verschlechtere. Mit diesen ausführlichen Erwägungen setzt sich die Beschwerde nicht substanziiert auseinander. Die italienischen Sprachkenntnisse werden pauschal in Abrede gestellt, ohne dass sich der Beschwerdeführer damit auseinandersetzt, dass er für seine Mutter ins Italienische übersetzt haben soll. Fehl geht sodann der Hinweis auf das Urteil 2C_786/2018 vom 27. Mai 2019 und die dortige Interessenabwägung; in jenem Fall hatte der Betroffene eine deutlich verminderte Intelligenz (IQ-Wert von 58) und erwirkte ein tieferes Strafmass als der Beschwerdeführer. Insgesamt scheint somit die Eingliederung des Beschwerdeführers in Italien als schwierig, aber nicht unmöglich.  
 
3.4. Zusammenfassend hat die Vorinstanz zu Recht erwogen, dass dem äusserst grossen öffentlichen Interesse am Bewilligungswiderruf und der Wegweisung des Beschwerdeführers ein grosses privates Interesse am Verbleib in der Schweiz gegenübersteht. Indem sie in Anbetracht der Natur der Straftaten und unter Berücksichtigung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Rückfallgefahr (vgl. dazu hinten E. 4) das öffentliche Interesse als überwiegend betrachtet hat, hat sie keine Rechtsverletzung begangen. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Wegweisung sind verhältnismässig. Damit erweist sich auch der Eingriff in den Anspruch des Beschwerdeführers auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 Ziff. 1 EMRK als zulässig (Art. 36 Abs. 3 BV und Art. 8 Ziff. 2 EMRK). Anzufügen ist, dass der Beschwerdeführer aus dem Umstand, dass die Migrationsbehörden ihm zuerst das rechtliche Gehör für eine Verwarnung gewährt hatten, um in der Folge doch ein Widerrufsverfahren zu eröffnen, unter dem Blickwinkel der Verhältnismässigkeit nichts zu seinen Gunsten ableiten kann.  
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer ist italienischer Staatsangehöriger und kann sich auf die Bestimmungen des FZA berufen, offenbar geht die Vorinstanz von einem Verbleiberecht aus (Art. 4 Anhang I FZA i.V.m. Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung 1251/70/EWG). Nach Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA dürfen die auf Grund dieses Abkommens eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen eingeschränkt werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Gemäss Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG - auf welche Art. 5 Abs. 2 Anhang I FZA verweist - darf bei Massnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschliesslich das persönliche Verhalten der betreffenden Person ausschlaggebend sein; strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne Weiteres diese Massnahmen begründen. Rechtsprechungsgemäss darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit als Anlass für eine Massnahme herangezogen werden, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Art. 5 Anhang I FZA steht somit Massnahmen entgegen, die (allein) aus generalpräventiven Gründen verfügt werden. Insoweit kommt es wesentlich auf das Rückfallrisiko an. Verlangt wird eine nach Art und Ausmass der möglichen Rechtsgüterverletzung zu differenzierende, hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer auch künftig die öffentliche Sicherheit und Ordnung stören wird. Die Bejahung einer Rückfallgefahr setzt nicht voraus, dass ein Straftäter mit Sicherheit weiter delinquieren wird; ebensowenig kann für die Verneinung einer Rückfallgefahr verlangt werden, dass überhaupt kein Restrisiko einer Straftat besteht (vgl. Urteil 2C_468/2019 vom 18. November 2019 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 146 II 49). Die Möglichkeit eines Rückfalls ist freizügigkeitsrechtlich umso weniger hinzunehmen, je schwerer die befürchtete bzw. vernünftigerweise absehbare Verletzung wichtiger Rechtsgüter wiegt (BGE 139 II 121 E. 5.3 S. 125 f.). Das Gewicht der begangenen Straftaten korreliert somit mit dem Wahrscheinlichkeitsmassstab, der an die Prognose erneuter Straffälligkeit zu stellen ist: Bei gewichtigeren Straftaten genügt eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Strafbegehung, um eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu begründen (Urteil 2C_634/2018 vom 5. Februar 2019 E. 5.2.2.1).  
 
4.2. Die Vorinstanz hat erwogen, angesichts der vom Beschwerdeführer verübten Gewaltdelikte liege eine hinreichend schwere Gefahr für die Gesellschaft vor, wobei nur ein geringes Rückfallrisiko in Kauf zu nehmen sei. Die Tatumstände liessen auf ein grosses Aggressionspotential, eine ausgeprägte Gleichgültigkeit gegenüber Leib und Leben des Opfers und auch auf eine gewisse kriminelle Energie seitens des Beschwerdeführers schliessen. Der Beschwerdeführer sei kein Ersttäter, aber seine Verurteilung vor fünfzehn Jahren habe keinen Einfluss auf die Rückfallgefahr. Gemäss Therapieberichten verneine der Beschwerdeführer weiterhin mehrheitlich die Schuld an den von ihm begangenen Straftaten. Die Rückfallgefahr für gewalttätige Übergriffe im intrafamiliären Kontext werde als deutlich, die Rückfallgefahr für Gewaltdelikte ausserhalb des familiären Kontextes als gering und die Rückfallgefahr für allgemeine Delinquenz als sehr gering eingeschätzt. Der Therapieerfolg sei bislang mässig. Dass die stationäre therapeutische Massnahme noch nicht abgebrochen worden sei, bedeute nicht, dass die Rückfallgefahr in Zukunft entscheidend reduziert werden könne. Angesichts der gesamten Umstände sei von einer konkreten und hinreichend erheblichen Rückfallgefahr auszugehen. Weil die Wegweisung auch verhältnismässig sei, halte sie vor dem FZA stand.  
 
4.3. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, verfängt nicht.  
 
4.3.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass er kein Ersttäter sei. Die Übertretungsbusse aus dem Jahr 2005 sei vernachlässigbar und dürfe nicht Anlass geben, ihn als unbelehrbaren Straftäter zu qualifizieren. Der Beschwerdeführer übersieht mit diesen Ausführungen, dass die Vorinstanz ausdrücklich festgehalten hat, die Vorstrafe sei nicht einschlägig, liege mehrere Jahre zurück und führe zu keiner Erhöhung der Rückfallgefahr. Sie hat die Vorstrafe nur insoweit berücksichtigt, als dass sie die Rückfallgefahr wegen Ersttäterschaft nicht reduziert hat. Ob sie dies zu Recht getan hat, kann offengelassen werden, weil die Rückfallgefahr so oder anders zu bejahen ist.  
 
4.3.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, es liege keine relevante Rückfallgefahr mehr vor. Das Rückfallrisiko betreffe lediglich den intrafamiliären Kontext. Er werde aber zu seinen Kindern für sehr lange Zeit keinen unbegleiteten Kontakt haben und die Möglichkeit einer neuen Familiengründung sei sehr abstrakt. Er befinde sich auf unbestimmte Dauer im Massnahmenvollzug und werde zunehmend älter. Diese Ausführungen sind nicht geeignet, die vorinstanzlichen Erwägungen infrage zu stellen. Unbestritten ist, dass dem Beschwerdeführer ein deutliches Rückfallrisiko im intrafamiliären Kontext für Gewalttaten attestiert wird. Dass dieses Risiko nach einer allfälligen Entlassung aus dem Strafvollzug aktuell werden könnte, liegt auf der Hand. Abgesehen davon, dass er den Kontakt zu seinen Kindern gemäss eigenen Angaben wieder intensivieren möchte, ist auch eine neue Familiengründung angesichts des Alters des Beschwerdeführers über Jahre hinweg noch möglich. Ebenso ist denkbar, dass der Beschwerdeführer eine Partnerschaft mit einer Frau eingeht, die Kinder aus einer früheren Beziehung hat. Und selbst wenn diese Szenarien eher unwahrscheinlich sein sollten, ist angesichts der drohenden schweren Rechtsgutverletzung auch ein nur geringes Restrisiko nicht hinnehmbar.  
 
4.3.3. Unbehelflich ist sodann der Hinweis des Beschwerdeführers auf Art. 59 und Art. 62c StGB. Der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer "erst" seit April 2017 in der stationären Massnahme befindet und diese weitergeführt wird, lässt nicht darauf schliessen, dass sie die hier relevante Rückfallgefahr massgeblich reduzieren kann. Denn selbst wenn der Beschwerdeführer dereinst wegen verbesserter Legalprognose aus dem Massnahmenvollzug entlassen werden sollte, schliesst dies eine Wegweisung nicht aus. Strafrecht und Ausländerrecht verfolgen unterschiedliche Ziele und sind unabhängig voneinander anzuwenden. Der Straf- und Massnahmenvollzug hat nebst der Sicherheitsfunktion eine resozialisierende bzw. therapeutische Zielsetzung; für die Migrationsbehörden steht demgegenüber das Interesse der öffentliche Ordnung und Sicherheit im Vordergrund, woraus sich ein im Vergleich mit den Straf- und Strafvollzugsbehörden strengerer Beurteilungsmassstab ergibt (BGE 137 II 233 E. 5.2.2 S. 236 f.).  
 
4.3.4. Ist der migrationsrechtliche Beurteilungsmassstab wie erwähnt strenger, ist es entgegen den Ausführungen in der Beschwerde nicht zu beanstanden, dass bereits im heutigen Zeitpunkt über den Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Wegweisung des Beschwerdeführers entschieden wird. Der Verweis auf BGE 131 II 329, wonach auf eine vernünftige zeitliche Distanz zwischen dem migrationsrechtlichen Entscheid und der strafrechtlichen Entlassung zu achten ist, geht fehl. Denn das Bundesgericht hat in diesem Urteil festgehalten, dass die Umstände des Einzelfalls massgebend sind. Es hat denn auch eine Ausweisung als zulässig erachtet, die rund sechs Jahre vor der frühestmöglichen Entlassung aus dem Strafvollzug angeordnet worden war, da keine Anzeichen vorhanden waren, dass sich die massgebenden Verhältnisse entscheidend verändern würden (Urteil 2C_201/2007 vom 3. September 2007 E. 5). Weiter hat das Bundesgericht erwogen, dass es nicht gegen Landes- und Staatsvertragsrecht verstosse, wenn möglichst früh über aufenthaltsbeendende Massnahmen entschieden werde (BGE 137 II 233). Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falls - namentlich der Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen - gibt es keine Anhaltspunkte, dass sich die hier massgebliche migrationsrechtliche Rückfallgefahr entscheidend verringern könnte.  
 
4.4. Zusammenfassend liegt beim Beschwerdeführer ein hinreichend konkretes Rückfallrisiko für weitere schwere Straftaten vor. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Wegweisung sind deshalb auch freizügigkeitsrechtlich nicht zu beanstanden.  
 
5.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist abzuweisen. Dem Verfahrensausgang entsprechend wäre der unterliegende Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist indessen gutzuheissen, nachdem die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Ihm ist Rechtsanwalt Camill Droll als unentgeltlicher Vertreter beizugeben, der aus der Bundes gerichtskasse entschädigt wird. Die vom Rechtsvertreter eingereichte Kostennote gibt zu keinen Bemerkungen Anlass. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen und dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Camill Droll als unentgeltlicher Vertreter beigegeben. 
 
3.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4.  
Rechtsanwalt Camill Droll wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 5'340.85 ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 21. August 2020 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Der Gerichtsschreiber: Businger