Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_472/2015   {T 0/2}  
   
   
 
 
 
Urteil vom 9. Februar 2016  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, 
Bundesrichterin Pfiffner, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Hochstrasser, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin, 
 
BVG-Sammelstiftung Swiss Life, 
General-Guisan-Quai 40, 8022 Zürich. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 20. Mai 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ bezog ab 1. März 2002 eine ganze Rente der Invalidenversicherung (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 27. Mai 2002). Der Rentenanspruch wurde mehrmals bestätigt (Mitteilungen vom 22. Mai 2003, 15. November 2006 und 7. Januar 2010). Im Rahmen eines weiteren im Oktober 2011 eingeleiteten Revisionsverfahrens wurde A.________ polydisziplinär, u.a. psychiatrisch, abgeklärt (Expertise ZMB [Zentrum für Medizinische Begutachtung, MEDAS, Basel] vom 25. Februar 2014). Nach Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) und durchgeführtem Vorbescheidverfahren hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 28. Juli 2014 die ganze Rente auf. 
 
B.   
Die Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau nach Beiladung der BVG-Sammelstiftung Swiss Life als zuständige Vorsorgeeinrichtung mit Entscheid vom 20. Mai 2015 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 29. Juni 2015 beantragt A.________, es sei ihr weiterhin eine ganze Rente zuzusprechen; die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, um gutachterliche Feststellungen gemäss dem Urteil des Bundesgerichts 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 zu erheben, eventualiter das Ergebnis des beruflichen Eingliederungsverfahrens abzuwarten. 
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Die BVG-Sammelstiftung Swiss Life stellt keinen Antrag. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
D.   
Am 21. und 28. August 2015 hat A.________ zwei ärztliche Berichte vom 6. und 8. August 2015 eingereicht. In einer weiteren Eingabe vom 22. September 2015 äussert sie sich unter Hinweis auf ein Schreiben der IV-Stelle vom 10. September 2015 betreffend "Aufforderung zur Mitwirkung bei Integrationsmassnahmen" zur Sache. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die in diesem Verfahren eingereichten ärztliche Berichte vom 6. und 8. August 2015 sind nach dem angefochtenen Entscheid verfasst worden und haben daher ausser Acht zu bleiben. Dies gälte auch für den in der Beschwerde erwähnten, jedoch nicht beigelegten Bericht vom 15. Juni 2015. Desgleichen kann sie mit ihren Vorbringen betreffend den Aufenthalt in der Klinik C.________ vom 20. Mai bis 1. Juli 2015 nicht gehört werden (BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123; Urteil 9C_887/2014 vom 22. Dezember 2015 E. 1.2). Ebenso ist die Eingabe vom 22. September 2015 unbeachtlich, da sie nach Ablauf der Beschwerdefrist, ausserhalb eines zweiten Schriftenwechsels und auch nicht im Rahmen des Replikrechts erfolgte. 
 
2.   
Die vorinstanzlich bestätigte Aufhebung der ganzen Rente ist insoweit unbestritten, als sie sich auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket) stützt. Hingegen bestreitet die Beschwerdeführerin die vom kantonalen Versicherungsgericht in Anwendung der Schmerzrechtsprechung (vgl. BGE 130 V 352 und 139 V 547 E. 5.9    S. 558 f.) bejahte Zumutbarkeit sowohl der angestammten als auch einer angepassten Tätigkeit im Vollpensum. Dabei rügt sie eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG). Die Beschwerdegegnerin habe keine Fakten zur Frage der Wiedereingliederungsmöglichkeiten in den Arbeitsprozess noch betreffend ihre Leistungsfähigkeit und ihr Leistungsprofil erhoben. Die von der Vorinstanz gestützt auf das ZMB-Gutachten vom 24. Februar 2014 bejahte Überwindbarkeit der Schmerzen sei offensichtlich falsch und willkürlich. Aus dem erfolgreichen Abschluss der Weiterausbildung zur Tierpsychologin könne nicht gefolgert werden, sie sei psychisch in der Lage, noch weitere Anstrengungnen zu unternehmen und sich vermehrt beruflich einzusetzen. Die Expertise sei widersprüchlich und nicht schlüssig. Im Übrigen sei der vorinstanzliche Entscheid zwingend nach den Erkenntnissen gemäss dem Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 zu überprüfen. 
 
 
3.   
Die Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen anhaltende somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden eine rentenbegründende Invalidität zu bewirken vermögen, ist mit dem nach Erlass des angefochtenen Entscheids ergangenen Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 (BGE 141 V 281) geändert und präzisiert worden. Es ist zu prüfen, welche Auswirkungen sich dadurch auf den hier zu beurteilenden Fall ergeben. 
 
3.1. Nunmehr sind für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen der erwähnten Art Indikatoren beachtlich, die das Bundesgericht wie folgt systematisiert hat:  
Kategorie "funktioneller Schweregrad" 
       Komplex "Gesundheitsschädigung" 
              Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde                            Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz                     Komorbiditäten 
         
       Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik,  
         
         
       persönliche Ressourcen)  
 
              Komplex "Sozialer Kontext" 
Kategorie "Konsistenz" (Gesichtspunkte des Verhaltens)                                    gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in                     allen vergleichbaren Lebensbereichen 
              behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck 
Sie erlauben - unter Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und Kompensationspotenzialen (Ressourcen) anderseits - das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen einzuschätzen (BGE 141 V 281 E. 3.4-3.6 und E. 4.1 S. 291 ff.). Die Anerkennung eines rentenbegründenden Invaliditätsgrades ist nur zulässig, wenn die funktionellen Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage im Einzelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit (zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind (BGE 141 V 281 E. 6 S. 308). 
Die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens nach dem dargelegten Prüfungsraster erübrigt sich, wenn Ausschlussgründe vorliegen, etwa wenn die Leistungseinschränkung überwiegend auf Aggravation oder einer ähnlichen Erscheinung beruht, welche die Annahme einer gesundheitlichen Beeinträchtigung von vornherein ausschliessen (BGE 141 V 281 E. 2.2 S. 287 f.). 
 
3.2. Die Gutachter des ZMB diagnostizierten ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im Wesentlichen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode (ICD-10 F33.0), eine Neurasthenie (ICD-10 F48.0) sowie ein Chronic Fatigue Syndrome (CFS; ICD-10 G93.3). Dieses Beschwerdebild zählt unbestrittenermassen zu den mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.40) vergleichbaren psychosomatischen Leiden (vgl. BGE 140 V 8          E. 2.2.1.3 S. 14) im Sinne (auch) der geänderten Rechtsprechung (BGE 141 V 281 E. 4.2 S. 298). Weder der psychiatrische noch der neurologische Experte, welche diese Diagnosen gestellt hatten, äusserten sich in ihren Teilgutachten zur Arbeitsfähigkeit. Der Neurologe hielt diesbezüglich im Wesentlichen das Vorliegen einer psychischen Komorbidität für entscheidend. In der abschliessenden Konsenskonferenz ergaben sich explizit keine Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Als Ergebnis verneinten daher alle am Gutachten beteiligten Ärzte gesamtmedizinisch eine Arbeitsunfähigkeit. Zur Begründung führten sie u.a. aus, der scharfe Bruch in der Lebenslinie, der durch die Infektionskrankheit im Jahre........ gegeben sei, lasse sich nicht hinreichend durch eine objektive psychiatrische Diagnose erklären. Die Tatsache, dass die Versicherte erfolgreich eine Ausbildung in Tierpsychologie absolviert habe, zeige, dass sie in der Lage sei, psychische Anforderungen zu bewältigen und innere Absichten erfolgreich in die Tat umzusetzen. Es läge weder eine somatoforme Schmerzstörung noch eine depressive Erkrankung im engeren Sinne vor.  
 
3.3. Diese Einschätzung aus medizinischer Sicht und die darauf gestützte Annahme des kantonalen Versicherungsgerichts einer uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit in der angestammten und in jeder anderen in Betracht fallenden Tätigkeit auch aus rechtlicher Sicht (BGE 141 V 281 E. 5.2 S. 306 f.; E. 2 vorne) erscheinen indessen namentlich im Lichte der geänderten Schmerzrechtsprechung nicht schlüssig, wie die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf diesbezügliche Widersprüche in der Expertise vorbringt.  
 
3.3.1. Der psychiatrische Experte hielt in seiner "Beurteilung" fest, es finde sich insgesamt das klassische Bild einer Neurasthenie, die Situation einer stark regredienten Explorandin, die in der Folge einer 2001 erlittenen schweren (viralen Influenza-) Erkrankung aus einem sich eingestellten psychophysischen Zusammenbruch trotz verschiedener Therapieversuche nicht mehr aus der Regression herausgekommen sei. Es bestehe ein anhaltend neurasthenisches Erschöpfungssyndrom, die Explorandin befinde sich etwa 16 Stunden im Tag schlafend oder wach im Bett. Sie habe sich mit einem Netz von Helferinnen und Helfern umgeben, die ihr jederzeit beistehen würden. Psychodynamisch könnte damals eine plötzliche Wahrnehmung der Abhängigkeit erfolgt sein. Bis dahin sei die Explorandin durch die grosse körperliche Anstrengung (in der Lehre und im Beruf als Landwirt) und die doch noch erreichte akademische Laufbahn und ihre Arbeit kompensiert und allmächtig in dem Sinne gewesen, dass sie von sich nie geglaubt hätte, jemals auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Dies habe zu einer schweren Störung ihres fragilen Selbstbildes geführt, bei welchem nicht einmal die sexuelle Identität klar sei. Die sehr plötzliche Konfrontation mit den schwachen Anteilen in ihr scheine sie bis jetzt nicht integriert zu haben. Das Beschwerdebild werde sicherlich aus unbewussten psychischen Anteilen genährt. Strukturell sei die Explorandin sowohl in ihrer Identität als auch in ihren Objektbeziehungen und in ihrer Abwehr auf dem Niveau einer Persönlichkeitsstörung. Die Symptome der Erschöpfung dienten dazu, ein Abgleiten in eine noch stärkere Identitätsdiffusion, z.B. ein psychotisches Zustandsbild abzuwehren. In der Rolle als regressive, erholungsbedürftige Kranke habe die Explorandin den aktuell bestmöglichen Kompromiss ihrer doch schwereren strukturellen Störung gefunden. Bezüglich medizinischen Massnahmen hielt der Gutachter fest, der Versuch einer intensivierten Psychotherapie sollte doch mindestens unternommen werden. Allenfalls könnte dadurch die Identitätsdiffusion sowie die Qualität ihrer Beziehungen in der Umwelt verbessert werden und einen positiven Einfluss auf ihre Erwerbsfähigkeit haben. Eine Prognose sei angesichts der doch schwereren strukturellen Störung deutlich unsicher.  
 
3.3.2. Diese fachärztlichen Aussagen werfen - wie der neurologische Gutachter nachvollziehbar ausführte - vorab die Frage nach dem Bestehen und der Tragweite einer psychiatrischen Komorbidität auf. Jedenfalls ist nicht ohne weiteres einsichtig, weshalb der Psychiater einerseits von einer "schwereren stukturellen Störung" und in diesem Zusammanhang von einer Persönlichkeitsstörung spricht, und anderseits keine Persönlichkeitsstörung in der Diagnose anführt.  
 
3.3.3. Das Verhalten der Beschwerdeführerin wird insofern als konsistent bezeichnet, als ihr Aktivitätsniveau ausserhalb von Beruf und Erwerb im Wesentlichen gleich eingeschränkt erscheint wie in diesem Bereich (BGE 141 V 281 E. 4.4.1 S. 303). Nach ihren vom Psychiater des ZMB nicht in Frage gestellten Angaben schlafe sie durchschnittlich zwölf Stunden im Tag und liege dazu noch vier bis fünf Stunden auf dem Bett. Aufgrund der Akten war sie nach dem viralen Infekt der oberen Luftwege lediglich noch in einem Arbeitspensum von 20-25 % erwerblich tätig, nach Kündigung der letzten Stelle und nach dem Fernstudium in Tierpsychologie ab........ teils selbständig erwerbend als Hundetrainerin bzw. Beraterin von Hundehaltern. Umgekehrt spricht der Kontakt mit (immer wieder) anderen Personen im Rahmen dieser Tätigkeit für das Vorhandensein von psychischen Ressourcen, ebenso wie der Umstand, dass sie gemäss ihren Angaben von einem Netz von Helferinnen und Helfern umgeben sei, die ihr jederzeit beistehen würden.  
 
3.4. Nach dem Gesagten beantwortet das psychiatrische Teilgutachten die entscheidende Frage nicht klar. Die Frage nämlich, ob die Beschwerdeführerin aufgrund der beschriebenen Leiden - vom psychiatrischen Gutachter als "stark regredierte" Person mit "schwerer struktureller Störung" umschrieben und allein mit den Diagnosen der wiederkehrenden Depression, aktuell leichte Episode sowie der Neurasthenie versehen - arbeitsfähig ist oder nicht. Die Vorinstanz wird diese Nachfrage dem psychiatrischen Gutachter zu unterbreiten haben. Die Beschwerde ist im Eventualstandpunkt begründet.  
 
4.   
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG; Urteil 9C_266/2015 vom 3. November 2015 E. 6.1). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 20. Mai 2015 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägung 3.4 an dieses zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der BVG-Sammelstiftung Swiss Life, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. Februar 2016 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Glanzmann 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler