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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_557/2022  
 
 
Urteil vom 13. November 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch seinen Beistand B.________, und dieser vertreten durch Rechtsanwältin Aurelia Jenny, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. Oktober 2022 (VBE.2022.130). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1972 geborene und verbeiständete A.________ bezog seit April 1993 eine ganze Invalidenrente. Sein Beistand informierte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, IV-Stelle, (nachfolgend: IV-Stelle) am 20. Oktober 2020 telefonisch darüber, dass sich A.________ in einer von der Staatsanwaltschaft Zürich verordneten Massnahme in einem Pflegezentrum befinde. Nach Durchführung weiterer Abklärungen sistierte die IV-Stelle die Rente (vorerst vorsorglich: Verfügung vom 4. Januar 2021) ab dem 1. Januar 2021 "bis auf Weiteres" (Verfügung vom 20. Juli 2021). Nachdem das Versicherungsgericht des Kantons Aargau eine dagegen erhobene Beschwerde teilweise gutgeheissen (Urteil vom 30. November 2021) und die IV-Stelle weitere Abklärungen veranlasst hatte, verfügte die Verwaltung nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren erneut die Sistierung der Invalidenrente ab dem 1. Januar 2021 (Verfügung vom 7. März 2022). 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 11. Oktober 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, es sei das Urteil vom 11. Oktober 2022 aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, ihm weiterhin bzw. über den 31. Dezember 2020 hinaus eine ganze Rente auszurichten. In verfahrensmässiger Hinsicht ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Rechtsverbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 141 V 234 E. 1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist die Sistierung der ganzen Rente der Invalidenversicherung ab dem 1. Januar 2021. Das kantonale Gericht legte die massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und die Rechtsprechung zur Sistierung der Leistungsausrichtung bei Straf- oder Massnahmevollzug zutreffend dar (Art. 21 Abs. 5 ATSG; BGE 138 V 140 E. 2.2; 137 V 154 E. 3.3; 133 V 1 E. 4.2.4.1). Darauf wird verwiesen. 
 
3.  
Die Vorinstanz stellte fest, der Beschwerdeführer befinde sich seit November 2006 in einer gestützt auf aArt. 43 StGB bzw. Art. 59 StGB (gültig ab 1. Januar 2007) angeordneten strafrechtlich motivierten stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 21 Abs. 5 ATSG. Gemäss schriftlicher Auskunft der zuständigen Strafvollzugsbehörde bestehe für ihn aufgrund der Vollzugsart keine (auch keine theoretische) Möglichkeit, einer externen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Im Lichte der klaren bundesgerichtlichen Rechtsprechung in Bezug auf derlei Konstellationen bestehe kein Raum, auf die Sistierung der Rentenleistungen des Beschwerdeführers zu verzichten. 
 
4.  
Was in der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, verfängt nicht: 
 
4.1. Der Beschwerdeführer hat richtig erkannt, dass Art. 21 Abs. 5 ATSG als "Kann-Vorschrift" formuliert ist. Sofern er indessen eine Ermessensunterschreitung rügt mit der Begründung, der Sozialversicherung stehe aufgrund bundesgerichtlicher Vorgaben gar kein Ermessen für einen adäquaten Einzelfallentscheid mehr zu, kann ihm nicht gefolgt werden. So erlaubt die Ausgestaltung von Art. 21 Abs. 5 ATSG als "Kann-Vorschrift" wohl, den besonderen Umständen Rechnung zu tragen, wenn eine gesunde Person trotz Straf- oder Massnahmevollzug einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte. Anders als die Einwände in der Beschwerde suggerieren, steht der Entscheid über einen Verzicht auf eine Leistungssistierung aber nicht im freien Ermessen des Versicherers. Vielmehr sind die Leistungen aus Gründen der Rechtsgleichheit (vgl. dazu Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2020, Rz. 409) jeweils dann einzustellen, wenn der im Gesetz genannte Tatbestand gegeben ist (BGE 141 V 466 E. 4.3; 138 V 140 E. 5.3.6; vgl. auch Jürg Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000, Rz. 8 zu Art. 13).  
Immerhin räumt der Beschwerdeführer ein, dass im Lichte des Gleichbehandlungsgebots eine Rentensistierung im Straf- oder Massnahmevollzug wohl in jenen Fällen einleuchte, in denen die strafrechtliche Tat keinen Zusammenhang mit der rentenbegründenden Invalidität habe. 
 
4.2. Anders möchte der Beschwerdeführer die Sache aber beurteilt wissen für den Fall, dass die Haft in direktem Zusammenhang mit der invaliditätsbegründenden Erkrankung stehe. Führe die Invalidität und der sie begründende Gesundheitszustand dazu, dass eine versicherte Person strafrechtliche Sanktionen erleiden müsse, so sei der aus der Inhaftierung resultierende Erwerbsausfall letztlich auf die Erkrankung zurückzuführen. Die Massnahme komme diesfalls einer stationären psychiatrischen Behandlung gleich.  
 
4.2.1. Mit diesen Einwänden lässt der Beschwerdeführer vorerst ausser Acht, dass die streitbetroffene stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB strafrechtlich motiviert ist. Sie musste nicht wegen der psychischen Störung verordnet werden, sondern weil der Beschwerdeführer ein mit dieser in Zusammenhang stehendes Verbrechen oder Vergehen begangen hatte (Art. 59 Abs. 1 lit. a StGB) und zu erwarten war, durch die Massnahme lasse sich der Gefahr weiterer solcher Taten begegnen (Art. 59 Abs. 2 lit. b StGB). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung befand und befindet sich der Beschwerdeführer damit in derselben Situation wie eine Person, welche eine Haftstrafe verbüsst oder eine Untersuchungshaft absitzt. In all diesen Fällen zielt Art. 21 Abs. 5 ATSG auf die Gleichbehandlung der invaliden mit der validen inhaftierten Person, welche durch einen Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert. Anzuknüpfen ist an den Charakter des Straf- und Massnahmevollzugs, und nur wenn die Vollzugsart der verurteilten versicherten Person die Möglichkeit bietet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und selber für die Lebensbedürfnisse aufzukommen, verbietet es sich, den Rentenanspruch zu sistieren (vgl. BGE 138 V 281 E. 3.2; 137 V 154 E. 3.3). Ernsthafte, sachliche Gründe für ein Abweichen von dieser Rechtsprechung sind weder ersichtlich noch in der Beschwerdeschrift rechtsgenüglich dargetan (vgl. zu den Voraussetzungen für eine Praxisänderung: BGE 145 V 304 E. 4.4; 141 II 297 E. 5.5.1).  
 
Ganz im Gegenteil erhellt auch in der vorliegenden Sachlage nicht, weshalb der Beschwerdeführer, welcher vor Antritt der stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB invaliditätsbedingt keiner Arbeitstätigkeit nachgehen konnte und deshalb Rentenleistungen bezog, besser gestellt werden sollte als ein unter dieselben Massnahmen gestellter Täter, welcher vor Massnahmeantritt einer Erwerbstätigkeit nachgegangen war (vgl. auch Urteil 9C_523/2016 vom 29. November 2016 E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 141 V 466 E. 4.2). Obwohl der Staat für den Unterhalt beider aufzukommen hat, sollte der Invalide nach Ansicht des Beschwerdeführers weiterhin in den Genuss der Rentenleistungen gelangen, während dem Nichtinvaliden keine Möglichkeit verbleibt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es ist gerade Sinn und Zweck von Art. 21 Abs. 5 ATSG, derlei Ungleichbehandlungen zu verhindern. 
 
4.2.2. Soweit der Beschwerdeführer die Massnahme aufgrund des Zusammenhangs zu seiner psychiatrischen Erkrankung mit einer stationären psychiatrischen Behandlung vergleicht, vermag er auch daraus nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. So weist er selber auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung hin, wonach von der Differenzierung einer gegenüber der Sozialgefährlichkeit im Vordergrund stehenden Behandlungsbedürftigkeit - als Hinderungsgrund einer Sistierung - abzusehen ist (BGE 137 V 156). Dass die in Art. 59 StGB statuierten Massnahmen nur psychisch erkrankte Personen betreffen, wie der Beschwerdeführer geltend macht, ist mit Blick auf den Wortlaut eben dieser Norm offensichtlich. Auch daraus erhellt indessen nicht, weshalb unter derlei Massnahmen gestellte Täter unterschiedlich behandelt werden sollten, je nach dem ob sie aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht valide oder invalide sind.  
 
4.3. Nicht stichhaltig ist schliesslich der Hinweis des Beschwerdeführers auf Rz. 6004 des Kreisschreibens des BSV über die Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH; in der seit 1. Januar 2021 geltenden Fassung). Danach soll die Rente nicht sistiert, sondern weiterhin ausgerichtet werden, wenn bei einer fürsorgerischen Unterbringung nach Art. 426 ff. ZGB das Leiden, das zur Invalidität führt, den Grund für die Freiheitsentziehung darstellt. Der Beschwerdeführer lässt ausser Acht, dass Art. 21 Abs. 5 ATSG einzig den Straf- und Massnahmevollzug betrifft und keinerlei Regelung zu einer allfälligen Rentensistierung unter den Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts enthält. Was die Verwaltungsweisung in Rz. 6004 KSIH anbelangt, ist diese - wie der Beschwerdeführer selber einräumt - für das Gericht nicht verbindlich und gelangte im vorliegenden Fall auch nicht zur Anwendung. Weiterungen dazu erübrigen sich.  
 
5.  
Aufgrund des Verfahrensausgangs trägt der Beschwerdeführer an sich die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist jedoch stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. Rechtsanwältin Aurelia Jenny wird als unentgeltliche Anwältin des Beschwerdeführers bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indessen vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. November 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner