Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 619/06 
 
Urteil vom 7. März 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard, 
Gerichtsschreiber Hadorn. 
 
Parteien 
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Progrès Versicherungen AG, Versicherungsrecht, 8081 Zürich Helsana, Beschwerdegegnerin, 
 
betreffend R.________, 1997, 
vertreten durch seine Eltern D.________ und I.________, 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 31. Mai 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Mit Verfügung vom 1. November 2005 lehnte die IV-Stelle Bern ein Gesuch des R.________ (geb. am 11. Juni 1997) um medizinische Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab. Sowohl die Eltern von R.________ als auch die Progrès Versicherungen AG als dessen Krankenkasse erhoben Einsprache, welche die IV-Stelle mit Entscheid vom 1. Februar 2006 abwies. Sie erwog, dass keine Störung des Erfassens und damit keine komplette Symptomatik eines angeborenen POS vorliege. 
B. 
Die von der Progrès hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 31. Mai 2006 gut. Es erachtete sämtliche Symptome des erwähnten Geburtsgebrechens als ausgewiesen. 
C. 
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. 
 
Die Progrès schliesst auf Abweisung, die IV-Stelle hingegen auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. R.________ verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz 75). Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 31. Mai 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
2. 
Die strittige Verfügung hat Leistungen der Invalidenversicherung zum Gegenstand. Das Gericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 OG in der seit 1. Juli 2006 gültigen Fassung in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
3. 
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Vorschriften zum Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 1 ff. GgV), insbesondere bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV Anhang), sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113 und zahlreiche seitherige Urteile) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
4. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen POS. 
4.1 In seiner Rechtsprechung (BGE 122 V 113 und zahlreiche seitherige Urteile) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass Ziff. 404 GgV-Anhang gesetzmässig ist. Demnach sind die rechtzeitig vor Vollendung des 9. Altersjahres erhobene Diagnose und der vor demselben Zeitpunkt liegende Behandlungsbeginn Anspruchsvoraussetzungen für medizinische Massnahmen gemäss der erwähnten Ziffer. Auf diese beiden Voraussetzungen kann nicht verzichtet werden. Sie beruhen auf der empirischen Erfahrung, dass ein erst später diagnostiziertes und behandeltes Leiden nicht mehr auf einem angeborenen, sondern einem erworbenen POS beruht, welches nicht von der Invaliden-, sondern von der Krankenversicherung zu übernehmen ist. Erfolgen Diagnose und Behandlungsbeginn erst nach dem vollendeten 9. Altersjahr, besteht die unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass ein erworbenes und kein angeborenes POS vorliegt. Damit entfällt auch der nachträgliche Beweis, dass die Möglichkeit der Diagnosestellung vor Vollendung des 9. Altersjahres bestanden habe. Selbst wenn es, objektiv betrachtet, an sich möglich gewesen wäre, rechtzeitig eine Diagnose zu stellen, dies aber im konkreten Einzelfall - aus welchen Gründen auch immer - nicht geschah, hat die IV unter Ziff. 404 GgV Anhang keine medizinischen Massnahmen zu übernehmen (Urteile A. vom 13. Januar 2003, I 362/02, G. vom 5. September 2001, I 554/00, und S. vom 31. August 2001, I 558/00). 
4.2 Das POS ist ein komplexes Leiden. Damit die Voraussetzungen für dessen Diagnose erfüllt sind, müssen kumulativ eine Reihe von Symptomen nachgewiesen sein (BGE 122 V 113 Erw. 2f S. 117; Rz 404.5 des Kreisschreibens des BSV über medizinische Eingliederungsmassnahmen [KSME]): Störungen des Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigungen der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrations- sowie der Merkfähigkeit. Bei allen diesen Symptomen handelt es sich um nicht leicht fass- und messbare Elemente. Obwohl sie zu einem Geburtsgebrechen gehören können, treten sie nicht schon bei Säuglingen, sondern erst in den nachfolgenden Lebensjahren in unterschiedlicher Schwere und zu unterschiedlichen Zeitspannen auf. In vielen Fällen, in welchen schlussendlich ein POS diagnostiziert wird, sind anfänglich nur einzelne der genannten Symptome augenfällig und führen bereits zu Behandlungen, welche mangels ausdrücklicher POS-Diagnose von der Krankenkasse oder gegebenenfalls von der IV, jedoch nicht unter Ziff. 404 GgV Anhang, übernommen werden (Urteile K. vom 6. Dezember 2006, I 223/06, B. vom 24. Januar 2007). 
5. 
5.1 Das Bundesamt macht in erster Linie geltend, es liege lediglich ein Symptomenkomplex vor, welcher auf einen Grossteil der Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend gemäss ICD-10 F 90-98 zutreffe. Zu einem POS gehöre aber ein hirnorganischer Schaden als Ursache für die psychischen Störungen. Ein solcher sei nicht ausgewiesen. Gemäss heutigen medizinischen Erkenntnissen resultiere ein POS in der Regel als Folge einer schwerwiegenden Erkrankung während der Schwangerschaft oder einer Komplikation während der Geburt. Dadurch könne die Diagnose einer hirnorganischen Störung meist relativ rasch, nämlich bereits intrauterin oder kurz nach der Geburt, gestellt werden. Nur wenn ein kongenitaler hirnorganischer Schaden nachgewiesen sei, könne die Diagnose eines POS im Sinne der Ziff. 404 GgV Anhang gestellt werden. Es sei daher an Hand von präpartalen Untersuchungsbefunden, Geburtsprotokollen oder kinderärztlicher Untersuchungen in den ersten Tagen nach der Geburt zu prüfen, ob die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer bei Geburt bestehenden Hirnschädigung vorliege. Bei komplikationsloser Schwangerschaft, problemloser Geburt und unauffälligen kinderärztlichen Untersuchungsbefunden könne eine kongenitale hirnorganische Schädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. 
5.2 Nach der vom BSV selbst formulierten Rz 404.5 KSME können die Voraussetzungen von GgV 404 als erfüllt gelten, wenn die darin genannten Symptome vorliegen. Der Nachweis eines hirnorganischen Schadens auf Grund der bei der Geburt erstellten medizinischen Unterlagen wird in dieser Rz nicht gefordert. In der bisherigen Rechtsprechung war ebenfalls noch nie die Rede davon, dass medizinische Akten aus der Zeit der Geburt beigezogen und an Hand derselben auf das Vorliegen eines hirnorganischen Schadens geschlossen werden müsse. Vielmehr hat das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt bestätigt, dass das rechtzeitige Vorliegen der Symptome gemäss Rz 404.5 KSME (in Verbindung mit einem rechtzeitigen Behandlungsbeginn) für die Leistungspflicht der Invalidenversicherung bei einem angeborenen POS ausreicht (SVR IV Nr. 2 S. 8, I 756/03; Urteil Z. vom 2. Mai 2002, I 373/01). Umgekehrt schaffen fehlende rechtzeitige Diagnose oder fehlender rechtzeitiger Behandlungsbeginn die unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass das POS nicht angeboren ist (BGE 122 V 113 E. 3c/bb S. 122). Wenn das BSV nunmehr zur Anerkennung eines POS nach Ziff. 404 GgV Anhang den Nachweis einer hirnorganischen Störung gestützt auf die Unterlagen aus der Zeit der Geburt verlangt, kommt dies einer Verschärfung der bisherigen Beweisanforderungen gleich. Hiezu besteht jedoch kein Anlass. Die vom BSV eingereichten wissenschaftlichen Unterlagen sind nicht geeignet, einer solchen Verschärfung das Wort zu reden. Namentlich findet sich darin keine Aussage in dem Sinne, dass sich mit medizinischen Akten aus der Geburtszeit ein hirnorganischer Schaden leicht nachweisen lasse, wie das BSV behauptet. In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist unter dem Kapitel "2. Störungsspezifische Diagnostik" zu lesen, dass die Bedeutung der Lokalisation von Hirnschädigungen im Kindesalter kontrovers diskutiert werde. Als gesichert könne angesehen werden, dass die klassischen hirnlokalen Ausfälle und Syndrome erst in der Adoleszenz einigermassen sicher diagnostiziert werden könnten. In der Folge werden verschiedene Untersuchungsmethoden beschrieben, darunter auch die Befragung der Eltern oder anderer Bezugspersonen. Ein Schluss von problemloser Geburt auf das Fehlen eines (angeborenen) POS wird jedoch nirgends angedeutet. Gemäss den im Fall R. (I 237/06) vom BSV beigelegten Unterlagen ("POS das Psycho-Organische Syndrom" der Website "www.elpos.ch") scheint ausserdem die Vererbung eine grössere Rolle als Ursache eines POS zu spielen als schädigende Einflüsse (z.B. Sauerstoffmangel, Infektionen, Umweltgifte etc.) in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten. Unter solchen Umständen ist nicht erstellt, dass der Nachweis eines angeborenen POS mit dem Beizug medizinischer Akten über die Geburt zuverlässig erbracht werden kann. Im Weiteren lässt sich aus dem im Prozess B. (I 446/06) eingereichten Bericht des Dr. med. C.________, FMH Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie, vom 8. September 2006 ebenfalls folgern, dass die Ausführungen des BSV medizinisch keineswegs gesichert sind. Auch der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) der IV-Stelle räumt in seiner Vernehmlassung ein, dass es sich "de facto um eine erst bei Jugendlichen mit Gewissheit zu stellende Diagnose handelt" und weist auf die "im Einzelfall ernüchternd geringe Korrelation zwischen Bildgebung des ZNS oder Perinatalanamnese einerseits und den später beobachteten klinischen Befunden anderseits" hin. 
5.3 Dem Standpunkt des BSV kann aus einem weiteren Grund kein Erfolg beschieden sein. Der Verordnungsgeber lässt es zu, dass POS noch während Jahren erst nach der Geburt als solche erkannt, diagnostiziert, behandelt und zwecks Therapie als Geburtsgebrechen bei der Invalidenversicherung zur Anmeldung gebracht werden können. Mit der neuen Betrachtungsweise des BSV wird der Rechtssinn von Ziff. 404 GgV Anhang in Frage gestellt. Solange die Verordnung nicht geändert ist, kann eine Beschränkung auf kurze Zeit nach der Geburt manifest gewordene POS, wie es das BSV vertritt, nicht in Frage kommen. Diese Auffassung wurde jüngst in mehreren Urteilen (beispielsweise K. vom 6. Dezember 2006, I 223/06, und R. vom 5. Januar 2007, I 237/06; erwähntes Urteil B.) bestätigt. Demnach hängt der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang wie bisher einzig davon ab, ob die in Rz 404.5 KSME genannten Symptome vor dem vollendeten 9. Altersjahr nachweisbar waren und mit der Behandlung des Leidens vor diesem Zeitpunkt begonnen wurde. 
6. 
Im konkreten Einzelfall ist streitig, ob von den erwähnten Symptomen auch die Störung des Erfassens rechtsgenüglich ausgewiesen ist. Die Vorinstanz hat dies gestützt auf die Berichte des Dr. med. V.________, Facharzt FMH für Kinderneurologie, vom 29. Oktober 2004, 14. September 2005 und 28. November 2005 bejaht. Dem kann beigepflichtet werden. Im Rahmen der dem Gericht auferlegten engen Kognition (Erw. 2 hievor) lässt sich nicht behaupten, das kantonale Gericht habe den massgebenden Sachverhalt bundesrechtswidrig festgestellt. Insbesondere hat Dr. Eicher im Bericht vom 28. November 2005 schlüssig dargetan, weshalb eine auditive Erfassungsstörung vorliegt, die nicht durch andere Störungen wie beispielsweise eine Exekutivstörung vorgetäuscht wird. Eine zusätzliche visuelle Erfassungsstörung ist nach dem Wortlaut von Rz 404.5 KSME nicht notwendig. Damit ist die komplette Symptomatik eines angeborenen POS erfüllt und der kantonale Entscheid zu bestätigen. 
7. 
7.1 Weil es um Leistungen der Invalidenversicherung geht (vgl. Erwägung 2 hievor), ist das Verfahren an sich kostenpflichtig (Art. 134 OG in der seit 1. Juli 2006 gültigen Fassung). Dem unterliegenden Bundesamt für Sozialversicherung können jedoch keine Gerichtskosten auferlegt werden (Art. 156 Abs. 2 OG). 
7.2 Nach Art. 159 Abs. 2 OG darf im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde obsiegenden Behörden oder mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen werden. Dies gilt auch für Krankenversicherer (BGE 126 V 143 E. 4a S. 150). Obschon die Progrès Versicherungen AG formell obsiegt, hat sie somit keinen Anspruch auf Parteientschädigung. 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, dem Versicherten und der IV-Stelle Bern zugestellt. 
Luzern, 7. März 2007 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: