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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1253/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 27. März 2017  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi, 
Gerichtsschreiberin Andres. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Gerd H. Jelenik, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Rechtsgültige Zustellung eines Strafbefehls, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 10. August 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Altstätten, sprach A.X.________ mit Strafbefehl vom 4. Juni 2015 wegen Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz sowie Sachbeschädigung schuldig und bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von vier Monaten sowie einer Busse von Fr. 800.--. Sie versandte den Strafbefehl gleichentags an die letzte bekannte Adresse von A.X.________, B.________-Strasse 5 in C.________. Am 6. Juni 2015 wurde der Strafbefehl auf der Poststelle in C.________ von einer Person namens "X.________" in Empfang genommen. Auf sein entsprechendes Ersuchen stellte die Staatsanwaltschaft dem Rechtsvertreter von A.X.________ am 28. September 2015 eine Ausfertigung des Strafbefehls zu. Mit Eingabe vom 9. Oktober 2015 erhob A.X.________ Einsprache gegen den Strafbefehl. 
 
B.  
Am 17. Dezember 2015 überwies die Staatsanwaltschaft den Strafbefehl zur Durchführung des gerichtlichen Verfahrens an das Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland mit dem Antrag, auf die Einsprache sei zufolge Verspätung nicht einzutreten. 
Mit Entscheid vom 20. Mai 2016 trat das Kreisgericht auf die Einsprache nicht ein und stellte fest, dass der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil wird. 
Die hiergegen von A.X.________ geführte Beschwerde wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 10. August 2016 ab, soweit sie darauf eintrat. 
 
C.  
A.X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen sinngemäss, der Entscheid der Anklagekammer sowie der Strafbefehl vom 4. Juni 2015 seien aufzuheben und das Verfahren sei einzustellen. Eventualiter sei die Sache zur Verfahrens- und Sachverhaltsergänzung sowie zur neuen Entscheidung an die Anklagekammer, eventualiter an das Kreisgericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Gegenstand des vorinstanzlichen wie auch des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bildet einzig die Frage, ob die Einsprache des Beschwerdeführers fristgerecht erfolgte. Auf dessen Hauptantrag, der Strafbefehl sei aufzuheben und das gegen ihn geführte Strafverfahren einzustellen, ist daher nicht einzutreten (vgl. Entscheid S. 4). 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die vorinstanzliche Feststellung, der Strafbefehl sei ihm am 6. Juni 2015 rechtsgültig zugestellt worden, verletze Art. 85 Abs. 3 und Art. 87 StPO. Ferner stelle die Vorinstanz den Sachverhalt unrichtig fest, indem sie davon ausgehe, er lebe mit seinem Vater in einem gemeinsamen Haushalt. Schliesslich verletze die mangelhafte Zustellung seinen Anspruch auf rechtliches Gehör.  
 
2.2. Die Vorinstanz erwägt, die Abklärungen der ersten Instanz bei der Einwohnerkontrolle C.________ hätten ergeben, dass per 24. November 2014 eine Adressänderung für den Beschwerdeführer von der B.________-Strasse 5 an den Wohnsitz seiner Eltern, B.________-Strasse 13, veranlasst worden sei, da er sich gemäss Auskunft seines Vaters in Haft befunden habe und ihm so die Post habe zugestellt werden können. Folglich sei der Beschwerdeführer am 4. und 6. Juni 2015 an der B.________-Strasse 13 in C.________ gemeldet gewesen. Weiter sei aufgrund der Akten davon auszugehen, dass die Adressänderung und die Umleitung der Post vorgenommen worden seien, damit dem Beschwerdeführer die Post trotz Strafvollzugs habe zugestellt werden können. Der Strafbefehl sei vom Vater des Beschwerdeführers auf der Poststelle in Empfang genommen worden, weshalb von einer tatsächlich erteilten und bereits während über einem halben Jahr gelebten Vollmacht auszugehen sei. Selbst wenn diese nicht bestanden hätte, würde zumindest der Anschein bestehen, dass der Vater diesbezüglich befugt bzw. bevollmächtigt gewesen sei, da er bereits seit längerer Zeit um die Post seines Sohnes besorgt und es ihm offensichtlich auch möglich gewesen sei, den Strafbefehl in Empfang zu nehmen. Da der Aufenthalt in der Strafanstalt auch nach liechtensteinischem Recht keinen neuen Wohnsitz begründe, sei der Strafbefehl an die gültige Adresse des Beschwerdeführers gesandt und dort von seinem Vater in Empfang genommen worden. Es sei von einer gültigen (Ersatz-) Zustellung auszugehen. Der Strafbefehl sei damit ordnungsgemäss zugestellt worden, weshalb die Einsprache im Oktober 2015 verspätet erfolgt und damit ungültig sei (Entscheid S. 2 ff.).  
 
2.3. Gemäss Art. 85 Abs. 1 StPO bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Die Zustellung erfolgt nach Abs. 2 durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei. Sie ist erfolgt, wenn die Sendung von der Adressatin oder dem Adressaten oder von einer angestellten oder im gleichen Haushalt lebenden, mindestens 16 Jahre alten Person entgegengenommen wurde. Vorbehalten bleiben Anweisungen der Strafbehörden, eine Mitteilung der Adressatin oder dem Adressaten persönlich zuzustellen (Art. 85 Abs. 3 StPO).  
Art. 87 Abs. 1 StPO bestimmt, dass Mitteilungen den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen sind. Anwendbar sind die zivilrechtlichen Regeln (Urteil 6B_1239/2013 vom 24. Februar 2014 E. 2). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können (Art. 87 Abs. 2 StPO). 
 
2.4.  
 
2.4.1. Der Einwand des Beschwerdeführers, der Sachverhalt sei unrichtig erstellt, da er und sein Vater nicht in einem gemeinsamen Haushalt lebten, ist unbegründet. Die Vorinstanz geht nicht von einem gemeinsamen Haushalt von Vater und Sohn aus. Da der Beschwerdeführer ansonsten keine Sachverhaltsrügen erhebt, ist vorliegend vom Sachverhalt auszugehen, den die Vorinstanz festgestellt hat (vgl. Art. 105 Abs. 1 BGG).  
 
2.4.2. Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen wurde der Strafbefehl an die letzte bekannte Adresse des Beschwerdeführers in seinem Heimatland geschickt. Dieser bestreitet nicht, dass er bis zu seinem Aufenthalt in der Strafanstalt zunächst in der Schweiz und in der Folge in Liechtenstein an der B.________-Strasse 5 Wohnsitz hatte. Er macht auch zu Recht nicht (mehr) geltend, der Strafbefehl hätte ihm nicht direkt zugestellt werden dürfen (vgl. Urteil 6B_541/2014 vom 23. September 2014 E. 1.3). Wie die Vorinstanz zutreffend feststellt, begründete der Aufenthalt in der Strafanstalt sowohl nach schweizerischem als auch liechtensteinischem Recht keinen neuen Wohnsitz (vgl. Art. 23 Abs. 1 ZGB und Art. 34 Abs. 2 des Personen- und Gesellschaftsrechts des Fürstentums Liechtenstein vom 20. Januar 1926 [PGR; LR 216.0]). Auch die Adressänderung und die Umleitung der Post veränderten den Wohnsitz des Beschwerdeführers nicht. Art. 87 Abs. 1 StPO lässt bei natürlichen Personen alternativ die Zustellung an ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort zu. Dass einer der Zustellorte vorgeht, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Demnach wurde der Strafbefehl dem Beschwerdeführer bundesrechtskonform an seinen Wohnsitz gesandt. Art. 87 Abs. 1 StPO ist nicht verletzt.  
 
2.4.3. Der Vater des Beschwerdeführers hat den Strafbefehl vom 4. Juni 2015 zwei Tage später auf der Poststelle in C.________ entgegengenommen. Da der Vater zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahr um die Post des Beschwerdeführers besorgt war, geht die Vorinstanz davon aus, dass dieser eine entsprechende Vollmacht seines Sohnes besass. Der Beschwerdeführer bestreitet dies nicht. Vorliegend wurde der Strafbefehl weder vom Adressaten noch von einer angestellten oder im gleichen Haushalt lebenden Person (vgl. Art. 85 Abs. 3 StPO), sondern von einem hierzu bevollmächtigten Dritten entgegengenommen.  
Eine Sendung gilt als zugestellt, wenn sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist (BGE 122 III 316 E. 4b S. 320 mit Hinweisen). Dass der Empfänger die Sendung tatsächlich in Empfang oder zur Kenntnis nimmt, ist nicht erforderlich (BGE 122 I 139 E. 1 S. 143 mit Hinweis; SARARARD ARQUINT, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 85 StPO; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 5 zu Art. 85 StPO). Als zugestellt gilt eine Sendung nach der Rechtsprechung insbesondere, wenn sie an einen vom Adressaten zur Entgegennahme bevollmächtigten Dritten übergeben worden ist (vgl. Urteile 6B_1239/2013 vom 24. Februar 2014 E. 2; 5D_88/2011 vom 14. September 2011 E. 3; 2C_82/2011 vom 28. April 2011 E. 2.3, in: StR 66/2011 S. 698). Weshalb hinsichtlich strafprozessualer Sendungen im Allgemeinen und im vorliegenden Fall im Besonderen etwas anderes gelten sollte, ist nicht ersichtlich (vgl. NIKLAUS SCHMID, a.a.O., N. 5 zu Art. 85 StPO). Zwar ist in Art. 85 Abs. 3 StPO die Möglichkeit einer Bevollmächtigung nicht erwähnt. Jedoch wird dort davon ausgegangen, dass angestellte und im gleichen Haushalt lebende, mindestens 16 Jahre alte Personen von Gesetzes wegen zur Entgegennahme von Sendungen ermächtigt sind (vgl. auch: Art. 138 Abs. 2 ZPO [gleichlautend] und Art. 44 Abs. 2 BGG sowie Art. 20 Abs. 2bis VwVG ["andere berechtigte Personen"]; hierzu: AMSTUTZ/ARNOLD, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 28 ff. zu Art. 44 BGG; URS PETER CAVELTI, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2008, N. 11 zu Art. 20 VwVG). Folglich muss es dem Adressaten auch möglich sein, selbst eine von ihm ausgewählte Person zur Entgegennahme bevollmächtigen zu können, wie dies auch in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post vorgesehen ist (Ziff. 2.3.6 der allgemeinen Geschäftsbedingungen "Postdienstleistungen" vom April 2012 der Liechtensteinischen Post AG; so auch Ziff. 2.5.6 der allgemeinen Geschäftsbedingungen "Postdienstleistungen" für Privatkunden vom Januar 2017 der Post CH AG). Hierfür spricht einerseits, dass die Strafprozessordnung in Art. 87 Abs. 2 Personen und Rechtsbeiständen mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland das Recht gewährt, in der Schweiz ein Zustellungsdomizil anzugeben. Dass der Betroffene in der Wahl des Ermächtigten eingeschränkt wäre, ergibt sich aus dem Gesetz nicht. Andererseits entspricht die Möglichkeit einer Bevollmächtigung auch dem Interesse des Strafprozessrechts, dass die Sendung, wenn nicht persönlich, so doch dem engeren Kreis der adressierten Person zugestellt wird (vgl. SARARARD ARQUINT, a.a.O., N. 5 zu Art. 85 StPO). 
Der Strafbefehl vom 4. Juni 2015 wurde dem bevollmächtigen Vater des Beschwerdeführers am 6. Juni 2015 von der Liechtensteinischen Post AG ausgehändigt und gelangte damit in den Machtbereich des Beschwerdeführers. Art. 85 Abs. 3 StPO ist nicht verletzt. 
 
2.4.4. Da der Strafbefehl dem Beschwerdeführer am 6. Juni 2015 ordnungsgemäss zugestellt wurde, ist seine Einsprache am 9. Oktober 2015 verspätet erfolgt und ungültig. Soweit der Beschwerdeführer das Vorgehen der involvierten Behörden als unangemessen und sein Anspruch auf rechtliches Gehör als verletzt rügt, ist seine Beschwerde unbegründet.  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der Beschwerdeführer wird ausgangsgemäss kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 BGG e contrario). Seiner finanziellen Lage ist bei der Festsetzung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. März 2017 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres