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[AZA 0/2] 
1P.723/2000/err 
 
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG 
********************************** 
 
10. Januar 2001 
 
Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, 
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter 
Nay, Bundesrichter Aeschlimann und Gerichtsschreiber Störi. 
 
--------- 
 
In Sachen 
M.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Pablo Blöchlinger, Lutherstrasse 4, Postfach, Zürich, 
 
gegen 
Bezirksgericht Zürich, Einzelrichter in Strafsachen, Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, 
 
betreffend 
Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK 
(unentgeltliche Verteidigung), hat sich ergeben: 
 
A.- Mit Strafbefehl vom 14. August 2000 verurteilte die Bezirksanwaltschaft Zürich M.________ wegen mehrfacher Verletzung des Betäubungsmittelgesetzes (Art. 19 Ziff. 1 und Art. 19a BetmG), wiederholter Verstösse gegen Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG, Hinderung einer Amtshandlung im Sinne von Art. 186 StGB sowie der Erschleichung einer falschen Beurkundung im Sinne von Art. 253 StGB zu 3 Monaten Gefängnis unbedingt und 1'000 Franken Busse. 
 
Am 23. August 2000 liess M.________ durch Rechtsanwalt Pablo Blöchlinger gegen den Strafbefehl Einsprache erheben und das Gesuch stellen, diesen als unentgeltlichen Verteidiger einzusetzen. 
 
Am 1. September 2000 liess der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich die Anklage gegen M.________ zu und wies das Gesuch um Einsetzung von Rechtsanwalt Blöchlinger als amtlichen Anwalt ab. 
 
B.- Am 11. Oktober 2000 wies das Obergericht des Kantons Zürich den Rekurs von M.________ ab, mit welchem er beantragt hatte, Rechtsanwalt Blöchlinger als amtlichen Verteidiger einzusetzen. 
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 17. November 2000 wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK beantragt M.________, diesen Entscheid aufzuheben und das Obergericht anzuweisen, seine erbetene Verteidigung durch Rechtsanwalt Blöchlinger in eine amtliche umzuwandeln. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
Sämtliche am Verfahren beteiligten kantonalen Instanzen verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Der angefochtene Entscheid des Obergerichts ist kantonal letztinstanzlich (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Entscheid schliesst das Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab, ist somit ein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 OG. Der Beschwerdeführer ist durch die Ablehnung seines Gesuches um unentgeltliche Beiordnung eines amtlichen Verteidigers in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und diese kann nach der Rechtsprechung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG bewirken (BGE 126 I 207 E. 2a). Der Beschwerdeführer macht die Verweigerung von verfassungsmässigen Rechten geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 126 I 81 E. 1; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten ist. 
 
2.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der sich unmittelbar aus Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK ergebenden Verfahrensgarantien. 
 
Als besondere Garantie für den Angeschuldigten im Strafprozess gewährleistet Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK die unentgeltliche Bestellung eines amtlichen Verteidigers, falls dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich erscheint und der Angeschuldigte mittellos ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat die bedürftige Partei aber auch schon gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV (früher Art. 4 aBV) einen allgemeinen grundrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. 
Falls das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen des Betroffenen eingreift, ist die Beistellung eines amtlichen Rechtsvertreters nach der Praxis des Bundesgerichtes grundsätzlich geboten. Dies trifft insbesondere im Strafprozess zu, wenn dem Angeschuldigten eine schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausschliesst. Falls kein besonders schwerer Eingriff in die Rechte des Gesuchstellers droht, müssen zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller - auf sich alleine gestellt - nicht gewachsen wäre. 
Dass im betreffenden Verfahren die Offizialmaxime gilt, vermag dabei die Notwendigkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung nicht a priori auszuschliessen. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint die Bundesgerichtspraxis jeglichen verfassungsmässigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Zusammenfassung der Rechtsprechung zu Art. 4 aBV in BGE 120 Ia 43 E. 2). 
 
3.- Unbestritten ist, dass dem Beschwerdeführer nach zürcherischem Prozessrecht kein amtlicher Verteidiger zusteht, da nach § 11 Abs. 2 StPO kein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt. Strittig ist nur, ob ein schwerer Fall im Sinne der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung vorliegt, in welchem unabhängig von der Regelung des kantonalen Verfahrensrechts ein verfassungs- und konventionsrechtlicher Anspruch auf Beiordnung eines amtlichen Verteidigers besteht. 
 
a) Das Obergericht ging gestützt auf die BGE 122 I 49, 275 und 120 Ia 43 davon aus, ein schwerer Fall im Sinne der in E. 2 hiervor dargelegten Rechtsprechung liege vor, wenn ein tatsächlicher Freiheitsentzug von "mehr als 'einigen' Wochen oder Monaten zu erwarten" sei. Es führt aus, diese bundesgerichtliche Formel sei nicht praktikabel. Einerseits seien "einige Wochen" in "einigen Monaten" zweifelsfrei immer enthalten, anderseits liessen sich "einige Wochen" mit "einigen Monaten" kaum vereinbaren. Sachlich sei nicht zu rechtfertigen, die Grenze für die notwendige Verteidigung bereits bei einer Strafdrohung von "einigen Wochen" anzusetzen. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass diese bei "einigen Monaten" liege. Der Fall des Beschwerdeführers, dem eine unbedingte Strafe von drei Monaten Gefängnis drohe, sei daher bloss ein relativ schwerer Fall, in welchem eine amtliche Verteidigung nur dann notwendig sei, wenn besondere Schwierigkeiten vorlägen, was nicht der Fall sei. 
 
Der Beschwerdeführer rügt, damit habe sich das Obergericht über die bundesgerichtliche Praxis hinweggesetzt. 
Nach dieser sei ein Strafverfahren, in welchem dem Beschuldigten eine unbedingte Freiheitsstrafe von drei Monaten drohe, klarerweise ein schwerer Fall, in dem unabhängig von weiteren Voraussetzungen ein verfassungs- und konventionsrechtlicher Anspruch auf Verteidigung bestehe. 
 
b) Das Obergericht ist im angefochtenen Entscheid in einer streng grammatikalischen Auslegung der bundesgerichtlichen Formel, die Grenze zwischen relativ schwerem und schwerem Fall sei dort zu ziehen, wo eine unbedingte Freiheitsstrafe von "mehr als 'einigen' Wochen oder Monaten" drohe, zum mathematisch unanfechtbaren Schluss gekommen, "einige Wochen" seien in "einigen Monaten" immer enthalten, weshalb "einige Wochen" nicht mit "einigen Monaten" gleichgesetzt werden könnten. So gesehen, wäre die bundesgerichtliche Formel tatsächlich widersprüchlich. 
 
Vor dem Hintergrund der auch im Kanton Zürich verbreiteten Praxis, kurze Gefängnisstrafen nicht in Monaten, sondern in Wochen auszusprechen, auch wenn sie die Monatsgrenze übersteigen (z.B. 17 Wochen Gefängnis statt 41/4 Monate Gefängnis), löst sich der scheinbare Widerspruch ohne weiteres auf, und es ist bei verständiger Lesart leicht erkennbar, dass die Formel die Grenze bei "einigen Wochen" bzw. "wenigen Monaten" ansetzt. Es besteht daher kein Anlass, an dieser Praxis bzw. an der Formel etwas zu ändern. 
 
c) Damit stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob die in Aussicht stehende unbedingte Gefängnisstrafe von drei Monaten die Grenze von "wenigen Monaten" überschritten hat, sodass der Beschwerdeführer einen unbedingten Anspruch auf Beiordnung eines amtlichen Verteidigers gehabt hätte. Das ist zu verneinen. Eine allenfalls unbedingte Gefängnisstrafe von drei Monaten stellt noch keine derart schwerwiegende Sanktion dar, dass demjenigen, welchem sie in Aussicht steht, in jedem Fall, ungeachtet der (geringen) rechtlichen oder faktischen Schwierigkeiten des Falles oder (fehlender) besonderer persönlicher Umstände, welche die Fähigkeit, sich selber zu verteidigen, herabsetzen, notwendigerweise ein Verteidiger beigegeben werden müsste. Die Rüge ist unbegründet. 
 
d) Der Beschwerdeführer macht nicht in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise geltend, das Obergericht hätte dem Beschwerdeführer auch deshalb einen unentgeltlichen amtlichen Verteidiger zugestehen müssen, weil der Fall besondere Schwierigkeiten geboten hätte oder der Beschwerdeführer aus persönlichen Gründen nicht in der Lage gewesen wäre, sich selber zu verteidigen. 
Darauf ist nicht einzutreten. Zwar wirft er dem Obergericht vor, diesen Aspekt nur unter dem Gesichtspunkt des kantonalen Prozessrechts, nicht aber unter demjenigen der verfassungs- und konventionsrechtlichen Verfahrensgarantien geprüft zu haben, erhebt in diesem Zusammenhang indessen keine Gehörsverweigerungsrüge. 
 
4.- Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Er hat jedoch ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da seine Mittellosigkeit dargetan ist und die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war (Art. 152 Abs. 1 und 2 OG). Dementsprechend sind keine Kosten zu erheben, und Rechtsanwalt Blöchlinger ist als unentgeltlicher Verteidiger einzusetzen und aus der Gerichtskasse angemessen zu entschädigen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen: 
 
a) Es werden keine Kosten erhoben. 
b) Rechtsanwalt Pablo Blöchlinger, Zürich, wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt und aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt. 
3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksgericht Zürich, Einzelrichter in Strafsachen, sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
______________ 
Lausanne, 10. Januar 2001 
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Der Präsident: 
 
Der Gerichtsschreiber: