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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_111/2007 /ggs 
 
Urteil vom 3. Juli 2007 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Reeb, 
Gerichtsschreiber Haag. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Martin Kubli, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, 
Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich, 
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung, 
 
Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter, vom 25. Mai 2007. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ wird vorgeworfen, er habe seiner Mutter am 16. April 2007 mit Faustschlägen, Bissen, Kneifen etc. mehrere Bisswunden, Blutergüsse, Quetschungen und Beulen zugefügt. Ausserdem habe er ihr gedroht, sie umzubringen. Der Angeschuldigte, der in psychiatrischer Behandlung steht, gesteht die Tathandlungen teilweise ein, verneint jedoch eine Todesdrohung. Nach vorläufiger Festnahme durch die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, ordnete die Einzelrichterin am Bezirksgericht Zürich am 20. April 2007 für X.________ die Untersuchungshaft wegen dringendem Tatverdacht und Kollusionsgefahr an. Ein Haftentlassungsgesuch des Verdächtigten lehnte der Haftrichter am Bezirksgericht Zürich mit Verfügung vom 25. Mai 2007 wegen dringendem Tatverdacht und Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 der kantonalen Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH) ab. 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 12. Juni 2007 beantragt X.________ im Wesentlichen, die Verfügung des Haftrichters vom 25. Mai 2007 sei aufzuheben und er sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Er rügt die Verletzung der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV) in Bezug auf die Bejahung der Wiederholungsgefahr und die Verweigerung von Ersatzanordnungen gemäss § 72 Abs. 2 StPO/ZH. 
 
Die Staatsanwaltschaft und das Bezirksgericht verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht zu Grunde liegt. Somit kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4313). Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da das Bundesgericht nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden kann, ist der Antrag auf Haftentlassung zulässig. Auf die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde ist einzutreten. 
2. 
2.1 Gemäss § 58 Abs. 1 StPO/ZH ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und überdies Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht. Wiederholungsgefahr liegt gemäss Zürcher Strafprozessrecht vor, wenn "aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss", der Angeschuldigte werde, "nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche Straftaten begehen" (§ 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH). Sinn und Zweck der Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH ist die Verhütung von Verbrechen; die Haft ist somit überwiegend Präventivhaft. Die Notwendigkeit, den Angeschuldigten an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern, somit Spezialprävention, wird von Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich als Haftgrund anerkannt (BGE 125 I 361 E. 4c S. 365 f.; 123 I 268 E. 2c, S. 270; Urteil des Bundesgerichts 1P.4/2000 vom 21. Januar 2000, E. 3d und e). 
 
Da die Untersuchungshaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein (Art. 36 BV). Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungs- bzw. Fortsetzungsgefahr ist verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten -, dass sie nur als ultima ratio angeordnet oder aufrechterhalten werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen (wie z.B. ärztliche Betreuung, regelmässige Meldung bei einer Amtsstelle, Anordnung von anderen evtl. stationären Betreuungsmassnahmen etc.) ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen angeordnet werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 124 I 208 E. 5 S. 213; 123 I 268 E. 2c S. 271, je mit Hinweisen). 
2.2 Der Haftrichter hat das Haftentlassungsgesuch wegen Wiederholungsgefahr abgewiesen mit der Begründung, es sei davon auszugehen, dass der Angeschuldigte in der Vergangenheit wiederholt gegenüber anderen Personen tätlich geworden sei, diese zum Teil verletzt und auch bedroht habe. Er sei dafür zwar nie verurteilt worden, was jedoch am Vorliegen von Wiederholungsgefahr nichts ändere. 
 
Der Beschwerdeführer beanstandet, dass der Haftrichter auf die Argumentation der Verteidigung, wonach diese früheren Vorfälle keine Vortaten im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH seien und deshalb nicht zur Begründung des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr herangezogen werden dürften, mit keinem Wort eingegangen sei. Auch äussere sich der Haftrichter nicht über die erforderliche Anzahl und die Qualität der früheren Vorfälle, welche er offenbar als Vortaten im Sinne des Gesetzes ansehe, im angefochtenen Entscheid aber nicht begründe, wieso er dies tue. Auch die dem Beschwerdeführer gestellte Prognose begründe der Haftrichter nicht. Er lege nicht dar, welche konkreten Gründe gegeben seien, die den Schluss zuliessen, dass der Beschwerdeführer erneut straffällig werden sollte, falls er entlassen würde. Damit verletze der Haftrichter seine Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV). 
2.2.1 Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) ergibt sich für den Richter die Pflicht, seinen Entscheid zu begründen. Er muss wenigstens kurz die wesentlichen Überlegungen aufzeigen, von denen er sich leiten liess, so dass der Betroffene den Entscheid in voller Kenntnis der Sache anfechten kann. Der Bürger soll wissen, warum entgegen seinem Antrag entschieden wurde. Dabei muss sich der Richter nicht mit allen tatsächlichen Behauptungen und rechtlichen Einwänden auseinandersetzen. Er kann sich vielmehr auf die für seinen Entscheid erheblichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 126 I 97 E. 2b; 123 I 31 E. 2c; 122 IV 8 E. 2c; 121 I 54 E. 2c, je mit Hinweisen). 
2.2.2 Der Beschwerdeführer hatte im Haftprüfungsverfahren vorgebracht, bei den Vortaten im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH handle es sich im Regelfall um Vordelikte, die noch Gegenstand hängiger Untersuchungen seien. Berücksichtigt werden könnten auch bereits rechtskräftig abgeurteilte Delikte, falls der Betroffene auch nachher wieder in ähnlicher Richtung deliktisch tätig werde. Vorliegend handle es sich bei den angeblichen Vortaten des nicht vorbestraften Angeschuldigten weder um pendente Untersuchungen noch um abgeurteilte Taten. Die früheren Strafverfahren seien eingestellt worden, weil die damaligen Antragsteller die Strafanträge zurückgezogen hätten. Es stelle sich die Frage, ob die eingestellten Verfahren zur Begründung des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr herangezogen werden könnten. Da es sich dabei ausnahmslos um Antragsdelikte handle, bestehe kein staatlicher Strafanspruch, wenn der Antragsteller keine Bestrafung des Täters wünsche. Dies liege unter anderem darin begründet, dass ein Strafverfahren auch die Persönlichkeitssphäre des Verletzten stark beeinträchtige und die Strafverfolgung enge persönliche Beziehungen zwischen dem Verletzten und dem Täter beeinträchtigen könnte. Es widerspreche dem Sinn des Gesetzes, wenn Sachverhalte, welche aufgrund eines nicht erfolgten oder zurückgezogenen Strafantrags unbeurteilt blieben, als Vortaten zur Begründung einer Wiederholungsgefahr herangezogen würden. Der von Gesetzes wegen nicht bestehende staatliche Strafanspruch würde über eine Hintertür begründet. Die Beeinträchtigung der Beziehungen zwischen Täter und Verletztem, welche durch die Ausgestaltung gewisser Delikte als Antragsdelikte vermieden werden solle, erfolge einfach in einem späteren Zeitpunkt, ohne dass der Antragsberechtigte einen Einfluss darauf hätte. Auch der in Art. 32 BV festgeschriebene Grundsatz der Unschuldsvermutung würde verletzt, wenn solche Sachverhalte, die nie gerichtlich beurteilt werden, als Vortaten zur Begründung von Wiederholungsgefahr gelten würden. 
 
Weiter führte der Beschwerdeführer vor dem Haftrichter für den Fall, dass dieser der Ansicht sei, dass die nicht beurteilten Vorfälle als Vortaten im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH anzusehen wären, aus, der Freiheitsentzug als schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit könne nur gerechtfertigt sein, wenn ohne seine Verlängerung mit einem Delikt gerechnet werden müsse, dessen Folgen schwerer als der Freiheitsentzug ins Gewicht fallen würden. Bei der Prüfung einer effektiven Gefahr sei ein strenger Massstab anzulegen. Eine bloss abstrakte Fortsetzungs- und Ausführungsgefahr, wie sie bei Vorbestraften oft unschwer zu begründen wäre, genüge nicht. Es seien konkrete für ein erneutes Delinquieren sprechende Umstände notwendig. Bei den dem Angeschuldigten vorgeworfenen Vordelikten handle es sich um drei Verfahren wegen Drohung, einfacher Körperverletzung und/oder Tätlichkeiten sowie Sachbeschädigung im Zusammenhang mit persönlichen Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Keines dieser Delikte habe Verbrechensqualität. Zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen, wie von Gesetz und Rechtsprechung gefordert, habe der Angeschuldigte nicht verübt, weshalb schon aus diesem Grund der Haftgrund der Wiederholungsgefahr verneint werden müsse. 
2.2.3 Der Haftrichter hat die Ausführungen des Beschwerdeführers zu dem von der Staatsanwaltschaft geltend gemachten Haftgrund kaum gewürdigt. Er beschränkt sich auf einen kurzen Hinweis, am Bestehen der Wiederholungsgefahr ändere der Umstand, dass der Beschwerdeführer noch nie wegen Körperverletzung und/oder Drohung verurteilt worden sei, nichts. Zur Frage, warum die Sachverhalte, die nicht zu einer Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Verbrechen oder schweren Vergehen geführt haben, als Vortaten im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH gelten sollen, äussert sich der angefochtene Entscheid nicht. Ebenso wenig nennt der Haftrichter konkrete Umstände, welche die Ausführung von Straftaten begünstigen, wenn auf die Haft verzichtet würde. Der Hinweis im angefochtenen Entscheid auf massive psychische Probleme des Angeschuldigten lassen jedenfalls die Frage nach anderweitigen Massnahmen, etwa solchen fürsorgerischer Natur, aufkommen. Im Übrigen enthält der angefochtene Entscheid auch keine Begründung, warum Ersatzmassnahmen im Sinne von § 72 StPO/ZH wie das vom Beschwerdeführer genannte Kontaktverbot mit dem Opfer nicht ausreichen würden, um den Untersuchungszweck zu gewährleisten. Mit dem blossen Hinweis, es bestehe keine Gewähr, dass der Angeschuldigte sich an eine solche Ersatzmassnahme halten würde, nennt der Haftrichter jedenfalls keine konkreten Umstände, die gegen ein Ausreichen milderer Massnahmen sprechen würden. Der angefochtene Entscheid genügt somit der Begründungspflicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV weder im Hinblick auf die Bejahung der Wiederholungsgefahr noch bezüglich des Verzichts auf Ersatzanordnungen. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde. 
3. 
Aus der Gutheissung der vorliegenden Beschwerde wegen Verletzung der Begründungspflicht folgt noch nicht, dass auch das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers gutzuheissen ist. Der Haftrichter wird sich vielmehr zu den Einwänden des Angeschuldigten gegen die Fortsetzung der Untersuchungshaft zu äussern haben. Dabei sind mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit auch mögliche Ersatzanordnungen im Sinne von § 72 StPO/ZH zu prüfen. Insbesondere wird auch zu beurteilen sein, ob es im Fall einer Haftentlassung im Interesse des Beschwerdeführers und seiner Angehörigen angezeigt ist, anderweitige Massnahmen, etwa solche fürsorgerischer Natur, zu ergreifen (vgl. BGE 125 I 361 E. 6 S. 367). 
4. 
Entsprechend dem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Damit erweist sich sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des Haftrichters am Bezirksgericht Zürich vom 25. Mai 2007 aufgehoben. 
2. 
Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen. 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
4. 
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen. 
5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 3. Juli 2007 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: