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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1B_77/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 17. März 2014  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Eusebio, Chaix, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Alessandro Palombo, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland, Hermann Götzstr. 24, Postfach, 8401 Winterthur.  
 
Gegenstand 
Anordnung Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 31. Januar 2014 des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland verdächtigt X.________, am 26. Juni 2013, um 08.30 Uhr, den ihr unbekannten sechsjährigen Kindergartenschüler Y.________ in Wiesendangen vor dem Kindergarten am Nacken gepackt und mit einem Messer im Gesicht verletzt zu haben. Nach dem Arztbericht von Dr. Z.________ erlitt der Knabe eine 6 mm lange oberflächliche Schnittwunde an der Oberlippe links sowie zwei Kratzer auf der Wange. 
 
 Die zur Verhaftung ausgeschriebene X.________ stellte sich am 27. Juni 2013 in Basel der Polizei und wurde am 29. Juni 2013 vom Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich in Untersuchungshaft versetzt. Es erwog, X.________ sei der einfachen Körperverletzung dringend verdächtig, und es bestehe sowohl Flucht- als auch Kollusionsgefahr. 
 
 Am 19. Dezember 2013 stellte die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland dem Bezirksgericht Winterthur Antrag auf Anordnung einer Massnahme für eine schuldunfähige Person im Sinn von Art. 374 f. StPO. Das Bezirksgericht solle feststellen, dass X.________ beim Vorfall vom 26. Juni 2013 objektiv den Tatbestand der einfachen Körperverletzung im Sinn von Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 i.V.m. Ziff. 2 Abs. 2 und 3 StGB erfüllt habe, wobei sie für diese Tat nach Art. 19 Abs. 1 StGB nicht schuldfähig sei. Es sei eine stationäre Massnahme im Sinn von Art. 59 Abs. 1 StGB anzuordnen und X.________ bis zur Hauptverhandlung in Sicherheitshaft zu nehmen. Gleichentags stellte die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland das Strafverfahren gegen X.________ wegen Freiheitsberaubung und Entführung ein, da sich der Verdacht, sie habe ein Kind gewaltsam entführen wollen, nicht anklagegenügend erhärtet habe. 
 
 Am 23. Dezember 2013 ordnete das Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Winterthur an, X.________ habe bis zur Hauptverhandlung resp. bis zum 23. März 2014 in Sicherheitshaft zu bleiben. Es erwog, X.________ sei der einfachen Körperverletzung dringend verdächtig, und es bestehe Fluchtgefahr. Sie habe im Falle einer Verurteilung im Sinne der Staatsanwaltschaft mit einer mehrjährigen stationären und mithin freiheitsentziehenden Massnahme zu rechnen. Selbst wenn sie aber, wie die Verteidigung geltend mache, schuldfähig sei, sei die Fortführung der Haft noch verhältnismässig. 
 
 Am 31. Januar 2014 wies das Obergericht des Kantons Zürich die Beschwerde von X.________ gegen diese Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts ab. 
 
B.   
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und sie sofort aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
C.   
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland beantragt, die Beschwerde abzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Die Beschwerdeführerin ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Sie macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten werden kann. 
 
2.   
Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht in Bezug auf ein Vergehen oder Verbrechen sowie Fluchtgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). 
 
2.1. Unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin dringend verdächtig ist, am 26. Juni 2013 einen Kindergartenschüler angegriffen und verletzt zu haben. Aufgrund der Vorgeschichte - die Beschwerdeführerin hatte bereits einmal ihr eigenes Kind nach Brasilien entführt und wurde in den Tagen vor dem hier zu beurteilenden Vorfall von der Polizei vom Haus ihrer Ex-Schwiegereltern weggewiesen, weil sie von diesen offenbar Geld verlangt hatte unter Drohung, ihren Sohn wieder zu entführen, wenn sie ihr keines geben würden - und ihres auch für Laien erkennbar psychisch auffälligen Verhaltens musste dieser Angriff bei den Strafverfolgungsbehörden den Verdacht wecken, dass die Beschwerdeführerin versucht hatte, das Kind zu entführen und/oder es weitergehend zu misshandeln. Davon liess sich allerdings nichts erhärten, die Staatsanwaltschaft wirft der Beschwerdeführerin einzig noch vor, das Kind in der eingangs Sachverhalt beschriebenen Weise mit dem Messer verletzt zu haben.  
 
 Diese Verletzungen erschöpfen sich physisch allerdings in zwei Kratzern und einer oberflächlichen Schnittwunde von 6 mm Länge, wobei die Haut auf 3 mm ganz durchgetrennt war. Sie bedurften keiner ärztlichen Behandlung und waren offensichtlich geringfügiger Natur. Es steht damit keineswegs von vornherein fest, dass diese Verletzungen Schädigungen an Körper oder Gesundheit im Sinn von Art. 123 StGB und damit einfache Körperverletzungen darstellen. Sollten sie den dafür erforderlichen Schweregrad nicht erreichen, wäre der der Beschwerdeführerin vorgeworfene Übergriff auf das Kind "nur" als Tätlichkeiten im Sinn von Art. 126 StGB strafbar (Zusammenfassung der Rechtsprechung zur Abgrenzung der beiden Bestimmungen: BGE 134 IV 189 E. 1 mit Hinweisen). 
 
 Es erscheint aber keineswegs ausgeschlossen, dass der Staatsanwaltschaft der Nachweis gelingt, dass das Opfer durch den Angriff nicht nur physisch verletzt, sondern auch erheblich traumatisiert wurde, sodass es insgesamt eine Schädigung im Sinne von Art. 123 StGB erlitt. Auch wenn somit von einem Grenzfall auszugehen ist, über den erst der Sachrichter abschliessend zu befinden haben wird, so hat das Obergericht jedenfalls kein Bundesrecht verletzt, indem es davon ausging, dass ein dringender Tatverdacht in Bezug auf ein Vergehen im Sinn von Art. 10 Abs. 3 StGB - eine einfache Körperverletzung - vorliege und nicht bloss auf eine Übertretung. 
 
2.2. Bei der Beschwerdeführerin lagen nach dem Gutachten von Dr. Steffen Lau vom 16. Dezember 2013 im Tatzeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit in gravierendem Ausmass deliktsrelevante psychopathologische Symptome vor, welche auch im Zeitpunkt der Untersuchung weiter bestanden. Eine genauere Diagnose zu stellen sah sich der Gutachter wegen mangelnder Kooperation der Beschwerdeführerin ausserstande. Er geht aber vermutungsweise davon aus, dass entweder eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung oder ein psychotisches Geschehen vorliegen. Beide Phänomene seien psychiatrisch-psychotherapeutisch angemessen behandelbar. Zur Frage der Schuldfähigkeit und der angemessenen Behandlung im Sinne einer stationären oder ambulanten Massnahme mochte sich der Gutachter mangels Diagnose nicht festlegen. Hingegen besteht nach seiner Auffassung eine erhebliche Rückfallgefahr, insbesondere wenn sich die Beschwerdeführerin in Freiheit nicht in einer hochstrukturierten Betreuungssituation mit engmaschiger Befundkontrolle befinden würde. Wegen ihres fehlenden Krankheitsbewusstseins würde sich die Beschwerdeführerin einer solchen Betreuung nach der Einschätzung des Gutachters zurzeit vermutlich nicht freiwillig unterziehen.  
 
 Gestützt auf dieses Gutachten steht tatsächlich eine stationäre Massnahme im Vordergrund, jedenfalls wenn sich der Angriff auf das Kind als einfache Körperverletzung und damit als Vergehen herausstellt, was Voraussetzung für die Anordnung einer stationären Massnahme ist (Art. 59 Abs. 1 lit. a StGB). Der Beschwerdeführerin droht damit eine länger dauernde freiheitsentziehende Massnahme, die sie - schon wegen ihrer fehlenden Krankheitseinsicht - ablehnt. Das stellt einen starken Fluchtanreiz dar. Die Beschwerdeführerin ist Brasilianerin und verfügte vor ihrer Festnahme über keinen festen Wohnsitz in der Schweiz. Den Kontakt zu bisherigen Bezugspersonen in der Schweiz - ihrer Pflegefamilie sowie dem Ex-Mann und seiner Familie - hat sie offenbar weitgehend verloren oder abgebrochen. Ihr Sohn lebt beim Vater. Einem Beruf geht sie - was wohl mit ihren psychischen Problemen zusammenhängt - nicht nach. Sie verfügt über brasilianische Reisedokumente oder ist jedenfalls in der Lage, sich solche zu verschaffen. Das Obergericht hat daher zu Recht Fluchtgefahr bejaht. 
 
2.3.  
 
2.3.1. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit erscheint die Fortsetzung der seit dem 27. Juni 2013 und damit seit knapp 9 Monaten andauernden Haft problematisch. Die Erwägung des Obergerichts, dass bei der Beschwerdeführerin für den Fall einer Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung eine stationäre Massnahme im Vordergrund steht und eine solche regelmässig mehr als ein Jahr dauert, trifft zwar zu. Doch muss auch in einem solchen Fall die Dauer der Untersuchungs- und Sicherheitshaft in einem angemessenen Verhältnis zur Tatschwere bleiben. Die in diesem Zusammenhang vom Obergericht aufgestellte Prognose, bei gegebener Schuldfähigkeit hätte die nicht vorbestrafte Beschwerdeführerin eine Freiheitsstrafe von weit über 7 Monaten zu gewärtigen, erscheint angesichts der objektiv geringfügigen Verletzung, die sie dem Opfer zugefügt haben soll, eher zu ungünstig für die Beschwerdeführerin.  
 
2.3.2. Allerdings ergibt sich aus der Vorgeschichte und der plausiblen Einschätzung des Gutachters, dass die Beschwerdeführerin zur Zeit ausserstande wäre, in Freiheit für sich selber zu sorgen. Mangels Einsicht, gravierende psychische Probleme zu haben, steht auch nicht zu erwarten, dass sie sich einer engmaschigen psychiatrischen Betreuung unterziehen würde, selbst wenn eine solche nach Art. 237 Abs. 2 StPO angeordnet würde.  
 
 Es muss zudem davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin in Freiheit sowohl sich selber als auch Dritte gefährden könnte. So hat sie bereits einen Selbstmordversuch unternommen und ist in der Haft in einen Hungerstreik getreten, weswegen die anorektische Beschwerdeführerin umgehend hospitalisiert werden musste. Nach der einleuchtenden Einschätzung des Gutachters könnte der hier zur Debatte stehende tätliche Angriff zudem eine Art Dammbruch darstellen, weshalb weitere und weitergehende gleichartige Delikte zu befürchten seien. Die Beschwerdeführerin wäre daher selbst bei einer Aufhebung der Sicherheitshaft nicht in die Freiheit zu entlassen, sondern wohl nach den Art. 426 ff. ZGB in eine fürsorgerische Unterbringung zu überführen. 
 
2.3.3. Die Umwandlung der Sicherheitshaft in eine fürsorgerische Unterbringung würde für die Beschwerdeführerin, abgesehen vom Umzug vom Untersuchungsgefängnis in eine (geschlossene) Anstalt, nicht viel ändern, jedenfalls solange sie es weiterhin ablehnt, sich psychiatrisch-psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Immerhin entsprechen die Sicherheitsvorkehren in Therapieanstalten im Allgemeinen nicht denjenigen in Haftanstalten. Ist aber eine bedingungslose Entlassung der Beschwerdeführerin zurzeit nicht zu verantworten und fällt damit allenfalls nur eine Änderung des Haftregimes von der strafprozessualen Sicherheitshaft in eine ebenfalls freiheitsentziehende zivilrechtliche fürsorgerische Unterbringung in Betracht, so erscheint in dieser speziellen Konstellation die Fortführung der Sicherheitshaft bis zur Hauptverhandlung, die auf den 7. Mai 2014 angesetzt ist und damit in wenigen Wochen stattfinden soll, nicht unverhältnismässig. Eine Umwandlung der Sicherheitshaft in eine fürsorgerische Unterbringung wäre auch nicht zweckmässig, nachdem die Beschwerdeführerin im Rahmen des Strafverfahrens gutachterlich abgeklärt wurde und ihre psychische Verfassung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zentrales Thema der Hauptverhandlung sein werden.  
 
3.   
Die Beschwerde ist damit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde die Beschwerdeführerin an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war und die Prozessarmut der Beschwerdeführerin ausgewiesen scheint (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen: 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwalt Alessandro Palombo wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.  
 
3.   
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. März 2014 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi