Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_611/2023  
 
 
Urteil vom 12. März 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Beusch, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Locher, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 23. August 2023 (S 2021 164). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 2000 geborene A.________ leidet insbesondere an einer angeborenen komplexen Wirbelsäulendeformität und Fehlbildung des Nervensystems sowie an einer unvollständigen Lähmung des rechten Beines. Die Invalidenversicherung gewährte ihr deswegen Hilfsmittel und berufliche Massnahmen samt entsprechendem Taggeld. Im November 2020 ersuchte A.________ um Hilflosenentschädigung. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle des Kantons Zug mit Verfügung vom 4. November 2021 einen entsprechenden Anspruch. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Urteil vom 23. August 2023 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 23. August 2023 sei ihr eine Entschädigung für leichte Hilflosigkeit zuzusprechen; eventualiter sei die Angelegenheit zu weiteren Abklärungen und neuem Entscheid an das kantonale Gericht oder an die Verwaltung zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Volljährige Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, haben Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung (Art. 42 Abs. 1 IVG). Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit (Art. 42 Abs. 2 IVG). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist (Art. 42 Abs. 3 Satz 1 IVG).  
 
2.2. Die Hilflosigkeit gilt insbesondere dann als leicht, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln dauernd auf lebenspraktische Begleitung im Sinne von Art. 38 angewiesen ist (Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV [SR 831.201]).  
Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG liegt vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit (a.) ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbstständig wohnen kann, (b.) für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist oder (c.) ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (Art. 38 Abs. 1 IVV). Zu berücksichtigen ist nur die lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit einer der Situationen nach Abs. 1 erforderlich ist; nicht darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen von Massnahmen des Erwachsenenschutzes nach den Art. 390-398 ZGB (Art. 38 Abs. 3 IVV). 
 
2.3. Die lebenspraktische Begleitung umfasst weder die (direkte oder indirekte) Dritthilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen noch die dauernde Pflege oder persönliche Überwachung im Sinne von Art. 37 IVV. Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe dar. Die Notwendigkeit einer Dritthilfe ist objektiv nach dem Gesundheitszustand der versicherten Person zu beurteilen. Abgesehen vom Aufenthalt in einem Heim ist die Umgebung, in welcher sie sich aufhält, grundsätzlich unerheblich. Bei der lebenspraktischen Begleitung darf es keine Rolle spielen, ob die versicherte Person allein lebt, zusammen mit dem Lebenspartner, mit Familienmitgliedern oder in einer der heutzutage verbreiteten neuen Wohnformen. Massgebend ist einzig, ob die versicherte Person, wäre sie auf sich allein gestellt, erhebliche Dritthilfe in Form von Begleitung und/oder Beratung benötigen würde. Von welcher Seite diese letztlich erbracht wird, ist ebenso bedeutungslos wie die Frage, ob sie kostenlos erfolgt oder nicht (BGE 146 V 322 E. 2.3 mit Hinweisen). Dennoch ist als Frage der Schadenminderungspflicht im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung in einem zweiten Schritt auch die tatsächlich erbrachte resp. zumutbare Mithilfe von Familienangehörigen zu prüfen (SVR 2023 IV Nr. 5 S. 16, 8C_241/2022 E. 4.5.2 mit Hinweisen).  
Die Berücksichtigung von lebenspraktischer Begleitung setzt voraus, dass diese über eine Periode von drei Monaten gerechnet im Durchschnitt während mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt wird (BGE 146 V 322 E. 6.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_464/2022 vom 28. August 2023 E. 2.2). 
 
2.4. Gemäss Rz. 8040 und 8050 des bis Ende 2021 gültigen Kreisschreibens des BSV über die Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH; vgl. auch Rz. 2085 ff. des seit dem 1. Januar 2022 gültigen Kreisschreibens des BSV über Hilflosigkeit [KSH]) sind die erforderlichen Hilfeleistungen im Haushalt - wie Wohnung putzen und aufräumen, Wäsche erledigen, Mahlzeiten vorbereiten - unter dem Gesichtspunkt einer drohenden (schweren) Verwahrlosung resp. der Notwendigkeit eines Heimeintritts zu evaluieren (zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen vgl. BGE 148 V 385 E. 5.2; 145 V 84 E. 6.1.1; 142 V 442 E. 5.2).  
 
3.  
Der umstrittene Anspruch steht einzig hinsichtlich des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung zur Diskussion. 
Die Vorinstanz hat insbesondere festgestellt, die Versicherte sei aufgrund ihres Gesundheitszustandes in der Mobilität und in der Haushaltsführung eingeschränkt. Ihre Gehdistanz sei auf ca. 20 Minuten limitiert, und sie könne keine Gewichte über fünf Kilogramm tragen. Weiter hat das kantonale Gericht dem Bericht vom 26. April 2021 über die Abklärung an Ort und Stelle samt Ergänzung vom 23. September 2021 (nachfolgend: Abklärungsbericht), worin für den Haushaltsbereich ein Hilfebedarf von wöchentlich 40 Minuten anerkannt worden war, Beweiskraft beigemessen. Folglich hat es den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung verneint. 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin moniert eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör resp. der Begründungspflicht, indem sie der Vorinstanz vorwirft, sie habe sich mit manchen ihrer Vorbringen nicht auseinandergesetzt.  
Die aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) fliessende Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen, verlangt nicht, dass diese sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorb ringen ausdrücklich widerlegt; vielmehr genügt es, wenn der Entscheid gegebenenfalls sachgerecht angefochten werden kann. Die Begründung muss kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich das Gericht hat leiten lassen und auf die es seinen Entscheid stützt (BGE 149 V 156 E. 6.1; 142 III 433 E. 4.3.2 mit Hinweisen). Das trifft hier zu, auch wenn sich die Vorinstanz nicht explizit resp. vertieft zu jedem einzelnen Argument der Beschwerdeführerin geäussert haben mag. 
 
4.2. In materieller Hinsicht macht die Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, im Abklärungsbericht seien ihre Einschränkungen lediglich isoliert statt im Kontext der gesamten Lebensumstände berücksichtigt worden. Daraus gehe nicht hervor, ob es ihr aufgrund ihrer konkreten gesundheitlichen Einschränkungen - d.h. bei stark erhöhter Erschöpfbarkeit und Erholungsbedürftigkeit - überhaupt möglich resp. zumutbar sei, neben der im Vollzeitpensum ausgeübten Erwerbstätigkeit noch einen Haushalt zu führen. Wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen benötige sie für das Gehen und für Verrichtungen im Haushalt wie Rüsten, Putzen, Abziehen von Betten sowie Einräumen von Gegenständen und Lebensmitteln erheblich mehr Zeit als gesunde Personen. Das trete zudem in Konflikt mit ihrem erhöhten Zeitbedarf für Erholung und Schlaf. Im Abklärungsbericht sei diesen Umständen nicht genügend Rechnung getragen worden. Sie benötige für die selbstständige Haushaltsführung (neben der zumutbaren Mithilfe der Familienangehörigen) regelmässige Dritthilfe von deutlich mehr als 120 Minuten pro Woche, was die Vorinstanz nicht ohne weitere Abklärungen hätte verneinen dürfen.  
 
4.3. Ein Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle (vgl. Art. 69 Abs. 2 IVV) unter dem Aspekt der Hilflosigkeit hat folgenden Anforderungen zu genügen: Als Berichterstatterin wirkt eine qualifizierte Person, die Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den seitens der Mediziner gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeiten hat. Bei Unklarheiten über physische oder psychische Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht aufzuzeigen sind. Der Berichtstext schliesslich muss plausibel, begründet und detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie der weiteren tatbestandsmässigen Erfordernisse (Art. 37 IVV) und der lebenspraktischen Begleitung (Art. 38 IVV) sein. Schliesslich hat er in Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das Gericht greift, sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im eben umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung tätigenden Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Das gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall zuständige Gericht (BGE 140 V 543 E. 3.2.1 mit Hinweisen; Urteile 9C_464/2022 vom 28. August 2023 E. 4.1; 9C_98/2020 vom 8. April 2020 E. 2.3).  
Die Beweiskraft des Abklärungsberichts ist als Rechtsfrage frei zu prüfen (vgl. Urteil 8C_748/2019 vom 7. Januar 2020 E. 6.2 mit Hinweis auf SVR 2018 IV Nr. 69 S. 223, 9C_762/2017 E. 1.2). 
 
4.4. Was die Beschwerdeführerin gegen die Beweiskraft des Abklärungsberichts vorbringt, hält nicht stand. Der Abklärungsperson war bei der Abklärung an Ort und Stelle insbesondere bekannt, dass die Versicherte eine Berufslehre absolviert, unter welchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sie leidet und wie diese sich (laut eigenen Angaben) bei deren Ausbildung auswirken. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, dass sie bereits anlässlich der Abklärung geltend gemacht haben soll, dass ihr (neben der Ausbildung) aufgrund eines stark erhöhten Zeitbedarfs für Erholung und Schlaf kaum Zeit für Haushaltstätigkeiten verbleibe oder dass sie solche Tätigkeiten nur sehr stark verlangsamt ausüben könne. Solches ergibt sich auch nicht aus dem Bericht der Klinik B.________ vom 13. August 2020, der zum Nachweis des Hilfebedarfs mit dem Leistungsgesuch eingereicht worden war und mit dem der Abklärungsbericht im Wesentlichen im Einklang steht. Anders als die Beschwerdeführerin glauben machen will, hielt weder die Abklärungsperson noch die Vorinstanz "zusätzlich ein bis zwei Stunden Haushaltsarbeit oder mehr pro Tag" für zumutbar. Ebenso wenig wurde (implizit) ein "Mindestaufwand für die selbstständige Haushaltsversorgung von wöchentlich 695 Minuten" anerkannt. Vielmehr machte die Beschwerdeführerin (mit Unterstützung der Pro Infirmis) im Vorbescheidverfahren einen Hilfebedarf in der genannten Höhe geltend, wozu die Abklärungsperson am 23. September 2021 in der Ergänzung zum Abklärungsbericht vom 26. April 2021 Stellung nahm. Dabei legte sie in Bezug auf die einzelnen Haushaltstätigkeiten dar, inwiefern und weshalb ihre Einschätzungen von jenen der Beschwerdeführerin abwichen, welchen Hilfebedarf sie grundsätzlich anerkannte und inwieweit sie diesen zufolge Mitwirkungspflicht der Familienangehörigen kürzte. Dazu äussert sich die Beschwerdeführerin nicht, weshalb sich diesbezügliche Weiterungen erübrigen.  
 
4.5. Die Vorinstanz hat bei der Beweiswürdigung insbesondere festgehalten, dass die Behauptungen einer stark unterdurchschnittlichen Belastbarkeit und eines überdurchschnittlichen Schlafbedürfnisses erstmals in der Replik vorgetragen worden seien und in den aktenkundigen ärztlichen Berichten keine Stütze fänden. Der Abklärungsbericht beruhe auf den Angaben der Beschwerdeführerin "der ersten Stunde", denen nach der Rechtsprechung (vgl. Urteil 8C_722/2021 vom 20. Januar 2022 E. 5.3) erhöhte Überzeugungskraft zukomme.  
 
4.6. Nach dem Gesagten genügt der Abklärungsbericht den Anforderungen an die Beweiskraft. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung ist nicht offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich: BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 144 V 50 E. 4.2; 135 II 145 E. 8.1). Demnach beruhte der Verzicht auf weitere Abklärungen auf zulässiger antizipierter Beweiswürdigung (BGE 144 V 361 E. 6.5; 136 I 229 E. 5.3). Damit bleibt die (implizite) vorinstanzliche Feststellung eines Hilfebedarfs von wöchentlich 40 Minuten für das Bundesgericht verbindlich (vgl. vorangehende E. 1).  
Folglich fällt eine Hilflosenentschädigung zufolge lebenspraktischer Begleitung ausser Betracht (vgl. vorangehende E. 2.3). Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. März 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann