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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_223/2020, 1B_224/2020  
 
 
Urteil vom 9. Dezember 2020  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, Präsident, 
Bundesrichterin Jametti, Bundesrichter Müller, 
Gerichtsschreiberin Sauthier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführerin, handelnd durch 
B.________, 
und dieser vertreten durch Rechtsanwalt 
Christian Schroff, 
 
gegen  
 
1B_223/2020 
 
Staatsanwaltschaft Bischofszell, 
Poststrasse 5b, 9220 Bischofszell, 
 
1. C.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Reinhold Nussmüller, 
2. D.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin 
Dr. Karin Looser Hürsch, 
3. E.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Keller, 
4. F.________, 
 
und 
 
1B_224/2020 
 
1. Emmanuele Romano, c/o Bezirksgericht Weinfelden, 
2. Erwin Tschopp, c/o Bezirksgericht Weinfelden, 
3. Heinz Uhlmann, c/o Bezirksgericht Weinfelden, 
4. Livia Griglio, c/o Bezirksgericht Weinfelden, 
Beschwerdegegner, 
 
Gegenstand 
1B_223/2020 
Strafverfahren; Wiederholung einer Hauptverhandlung, 
 
1B_224/2020 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerden gegen die Entscheide des Obergerichts 
des Kantons Thurgau vom 26. März 2020 
(SW.2019.164; SW.2020.11) 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau erhob am 31. Mai 2019 Anklage gegen C.________ unter anderem wegen sexuellen Handlungen mit Kindern. A.________ und D.________ gehören zu den Privatklägern. Zur Wahrung ihrer Intim- und Privatsphäre beantragte D.________ den Ausschluss der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung am Bezirksgericht Weinfelden vom 5. Dezember 2019. Diesem Antrag gab der vorsitzende Bezirksrichter mit Entscheid vom 13. November 2019 statt. Den Privatklägern und C.________ wurde gestattet, sich von ihren Rechtsvertretern sowie von bis zu drei Vertrauenspersonen zur Hauptverhandlung begleiten zu lassen. Anlässlich der Hauptverhandlung vom 5. Dezember 2019 entschied der vorsitzende Bezirksrichter auf Antrag von C.________, dass der Vater, die Stiefmutter und die Grossmutter der abwesenden A.________ den Gerichtssaal zu verlassen hätten. 
Gegen diese mündliche Verfügung erhob A.________ am 16. Dezember 2019 Beschwerde an das Obergericht des Kantons Thurgau mit dem Antrag, die Hauptverhandlung vom 5. Dezember 2019 sei mit einer neuen Besetzung zu wiederholen. Mit Beschwerdereplik vom 31. Januar 2020 hielt A.________ weiter fest, sie beantrage "sicherheitshalber" den Ausstand der Bezirksrichter sowie der Gerichtsschreiberin, welche an der Hauptverhandlung mitgewirkt hätten. 
Das Obergericht wies am 26. März 2020 mit je separatem Entscheid sowohl die beantragte Wiederholung der Hauptverhandlung (SW.2019.164) als auch das Ausstandsgesuch (SW.2020.11) ab. 
 
B.   
Mit zwei identisch lautenden Eingaben vom 8. Mai 2020 führt A.________ je Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragt, die beiden angefochtenen Urteile seien aufzuheben. Weiter sei festzustellen, dass das Bezirksgericht Weinfelden die gesetzlichen Parteirechte der Beschwerdeführerin sowie das rechtliche Gehör verletzt habe. Das Bezirksgericht Weinfelden sei zudem anzuweisen, die Hauptverhandlung unter einer neuen Richterbesetzung durchzuführen. In formeller Hinsicht ersucht A.________ um unentgeltliche Prozessführung sowie den Beizug eines Offizialanwalts. 
C.________ beantragt, die Beschwerde im Verfahren betreffend Wiederholung der Hauptverhandlung (1B_223/2020) sei abzuweisen. Die Privatklägerinnen E.________ und D.________ verzichten auf eine Stellungnahme. F.________ lässt sich nicht vernehmen. Die Staatsanwaltschaft verzichtet betreffend die beantragte Wiederholung der Hauptverhandlung auf eine Stellungnahme. Das Bezirksgericht reicht mit Blick auf die Beschwerde betreffend Ausstand (1B_224/2020) Bemerkungen ein. Das Obergericht beantragt die Abweisung der beiden Beschwerden. Die Beschwerdeführerin nahm erneut Stellung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Aufgrund des engen Sachzusammenhangs sind die Verfahren 1B_223/2020 und 1B_224/2020 zu vereinigen und gemeinsam zu erledigen.  
 
1.2. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, beim angefochtenen Entscheid betreffend die von ihr beantragte Wiederholung der Hauptverhandlung (SW.2019.164) handle es sich um einen Endentscheid. Der Entscheid der Vorinstanz schliesst das Verfahren indessen nicht ab, weshalb es sich um einen Zwischenentscheid handelt. Die Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Lit. b liegt hier von vornherein nicht vor. Es bleibt daher zu prüfen, ob ein nicht wieder gutzumachender Nachteil i.S.v. Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG vorliegt. Dies trifft zu, wenn der Nachteil auch durch einen für die beschwerdeführende Partei günstigen späteren Entscheid nicht mehr oder nicht vollständig behoben werden kann (BGE 141 IV 289 E. 1.2 mit Hinweis; Urteil 1B_569/2011 vom 23. Dezember 2011 E. 2). Der Nachteil muss rechtlicher Natur sein, wobei dessen blosse Möglichkeit genügt. Dagegen reichen rein tatsächliche Nachteile wie eine Verfahrensverlängerung oder -verteuerung grundsätzlich nicht aus (BGE 144 IV 321 E. 2.3 S. 329; Urteil 1B_415/2020 vom 12. Oktober 2020 E. 2.2; je mit Hinweisen).  
 
1.3. Ein solcher nicht wieder gutzumachender Nachteil ist vorliegend allerdings nicht ersichtlich. Das Bezirksgericht hat gemäss eigener Auffassung mit der Wegweisung des Vaters, der Stief- und Grossmutter der Beschwerdeführerin aus dem Gerichtssaal einzig die Verfügung vom 13. November 2019 durchgesetzt, wonach die Öffentlichkeit auszuschliessen sei. Selbst wenn die Wegweisung in Bezug auf den Vater der minderjährigen Beschwerdeführerin zu Unrecht erfolgte, ist jedoch nicht erkennbar, worin der nicht wieder gutzumachende Nachteil dieser sitzungspolizeilichen Massnahme liegen soll. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht rechtsgenüglich auf, welche entscheidwesentlichen Einwände ihr Vater anlässlich der Hauptverhandlung überhaupt hätte vorbringen können. Zudem führt sie zu Unrecht BGE 138 IV 193 an. In jenem Entscheid wurde die Stellung der dortigen Beschwerdeführerin als Privatklägerin anlässlich der Hauptverhandlung vorfrageweise verneint. Diese hätte folglich nicht mehr am weiteren Verfahren teilnehmen und auch kein Rechtsmittel mehr gegen das Urteil in der Sache einlegen können. Vorliegend ist demgegenüber die Stellung der Beschwerdeführerin als Privatklägerin allgemein anerkannt und vom Wegweisungsentscheid nicht betroffen. Die Beschwerdeführerin bzw. ihr Rechtsvertreter konnte an der Hauptverhandlung teilnehmen und die Berufung gegen den Entscheid in der Sache ergreifen, da sie nach wie vor am Verfahren beteiligt ist. Auf die Beschwerde 1B_223/2020 betreffend die beantragte Wiederholung der Hauptverhandlung kann daher mangels eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) nicht eingetreten werden. Demnach kann auch offen bleiben, ob es sich bei der Wegweisung der drei Begleitpersonen um eine verfahrensleitende Anordnung nach Art. 65 Abs. 1 StPO handelt.  
 
1.4. Beim zweiten angefochtenen Entscheid (SW.2020.11) handelt es sich ebenfalls um einen kantonal letztinstanzlichen, selbständig eröffneten Zwischenentscheid. Dieser kann indessen mit Beschwerde an das Bundesgericht angefochten werden, da er ein Ausstandsbegehren betrifft, gegen das gemäss Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 92 Abs. 1 BGG die Beschwerde an das Bundesgericht zulässig ist. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde im Verfahren 1B_224/2020 grundsätzlich einzutreten ist.  
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz erwog, das Ausstandsgesuch erweise sich als verspätet. Die Beschwerdeführerin habe anlässlich der Hauptverhandlung vom 5. Dezember 2019 Kenntnis von den angeblichen Ausstandsgründen erhalten. Den Ausstand der betroffenen Gerichtsmitglieder habe sie dagegen erst am 31. Januar 2020 verlangt, was zu spät sei. Im Übrigen erweise sich das Ausstandsgesuch ohnehin als materiell unbegründet, da selbst allfällige materielle oder formelle Fehler nicht ohne weiteres zum Ausstand führen würden, sondern diese im Rechtsmittelverfahren geltend zu machen seien.  
 
2.2. Will eine Partei den Ausstand einer in einer Strafbehörde tätigen Person verlangen, so hat sie gemäss Art. 58 Abs. 1 StPO der Verfahrensleitung ohne Verzug ein entsprechendes Gesuch zu stellen, sobald sie vom Ausstandsgrund Kenntnis hat. Nach der Rechtsprechung muss der Gesuchsteller den Ausstand in den nächsten Tagen nach Kenntnis des Ausstandsgrunds verlangen. Andernfalls verwirkt er den Anspruch (BGE 143 V 66 E. 4.3 S. 69 mit Hinweisen). Ein sechs bis sieben Tage nach Kenntnis des Ausstandsgrunds gestelltes Ausstandsgesuch ist rechtzeitig. Wartet der Gesuchsteller damit zwei Wochen zu, ist es dagegen verspätet (Urteil 1B_18/2020 vom 3. März 2020 E. 3.1 mit Hinweis). Bei der Annahme der Verwirkung des Rechts, den Ausstand zu verlangen, ist Zurückhaltung geboten (Urteil 1B_236/2020 vom 7. Oktober 2020 E. 2.2 mit Hinweis).  
 
2.3. Das knapp zwei Monate nach Kenntnis der angeblichen Ausstandsgründe gestellte Ausstandsbegehren erweist sich nach der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung - wie von der Vorinstanz erwogen - als verspätet. Es ist mithin nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das verspätete Ausstandsgesuch abwies. Daran ändert im Übrigen auch die Behauptung der Beschwerdeführerin nichts, wonach mit ihrem Schreiben vom 31. Januar 2020 "kein eigenständiges Ausstandsbegehren habe gemeint gewesen sein können", zumal dem Schreiben ausdrücklich ein selbstständiger Antrag auf Ausstand zu entnehmen ist. Die Beschwerde im Verfahren 1B_224/2020 erweist sich demnach als unbegründet und ist abzuweisen.  
 
3.   
Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde im Verfahren 1B_223/ 2020 nicht einzutreten; die Beschwerde im Verfahren 1B_224/2020 ist abzuweisen. 
Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist abzuweisen, da die Beschwerden aussichtslos waren (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Eine Parteientschädigung ist einzig dem privaten Beschwerdegegner zuzusprechen, welcher sich vor Bundesgericht vernehmen liess. Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos. Die übrigen Beschwerdegegner haben keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Verfahren 1B_223/2020 und 1B_224/2020 werden vereinigt. 
 
2.   
Auf die Beschwerde 1B_223/2020 wird nicht eingetreten. 
 
3.   
Die Beschwerde 1B_224/2020 wird abgewiesen. 
 
4.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
5.   
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
6.   
Die Beschwerdeführerin hat C.________ für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
 
7.   
Dieses Urteil wird der Staatsanwaltschaft Bischofszell, C.________, D.________, E.________, F.________, Emmanuele Romano, Erwin Tschopp, Heinz Uhlmann, Livia Griglio und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. Dezember 2020 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Chaix 
 
Die Gerichtsschreiberin: Sauthier