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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_826/2023  
 
 
Urteil vom 26. Oktober 2023  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Muschietti, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Rückzug der Berufung (Widerhandlung gegen die COVID-19-Verordnung), 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 8. Mai 2023 (SU230021-O/U/nm). 
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:  
 
1.  
Das Bezirksgericht Zürich büsste den Beschwerdeführer mit Urteil vom 3. Oktober 2022, unter Kostenauflage, wegen Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung besondere Lage mit Fr. 100.--. Dagegen meldete der Beschwerdeführer am 11. Oktober 2022 Berufung an. Das begründete Urteil wurde ihm am 21. Februar 2023 zugestellt. Am 6. März 2023 erklärte er innert Frist Berufung. Mit Beschluss vom 27. März 2023 ordnete die Verfahrensleitung des Obergerichts des Kantons Zürich das schriftliche Verfahren an. Es setzte dem Beschwerdeführer gleichzeitig eine Frist von 20 Tagen ab Zustellung des Beschlusses, um schriftlich die Berufungsanträge zu stellen und zu begründen, unter der Androhung, dass die Berufung ansonsten als zurückgezogen gelte. Da eine Berufungsbegründung innert Frist nicht einging, schrieb das Obergericht des Kantons Zürich das Verfahren am 8. Mai 2023 als durch Rückzug der Berufung erledigt ab. Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht beantragt der Beschwerdeführer, den Abschreibungsbeschluss aufzuheben und die Sache zur Durchführung des Berufungsverfahrens an das Obergericht zurückzuweisen. 
 
2.  
 
2.1. Die Berufung oder Anschlussberufung gilt nach Art. 407 Abs. 1 lit. b StPO als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, keine schriftliche Eingabe einreicht. Das Fehlen einer schriftlichen Eingabe bezieht sich auf Fälle, in denen eine Partei im Rahmen des schriftlichen Berufungsverfahrens nicht die erforderliche schriftliche Begründung eingereicht hat, nachdem ihr dazu Frist gesetzt wurde (Art. 406 Abs. 3 StPO) oder sie im mündlichen Verfahren auf Gesuch hin von einer Verfahrensteilnahme dispensiert und ihr gestattet wurde, die Anträge schriftlich einzureichen und zu begründen, ohne dies in der Folge jedoch zu tun (Art. 405 Abs. 2 StPO).  
 
2.2. Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (sog. Zustell- oder Zustellungsfiktion; BGE 143 III 15 E. 4.1; 138 III 225 E. 3.1). Die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 138 III 225 E. 3.1; Urteile 6B_1057/2022 vom 30. März 2023 E. 1.1.; 6B_368/2022 vom 29. Juni 2022 E. 3; 6B_548/2022 vom 30. Mai 2022 E. 3.4; 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publiziert in: BGE 142 IV 286; je mit Hinweisen). Von einer verfahrensbeteiligten Person wird namentlich verlangt, dass sie für die Nachsendung ihrer an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz besorgt ist und der Behörde gegebenenfalls längere Ortsabwesenheiten mitteilt oder eine Stellvertretung ernennt (vgl. BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 139 IV 228 E. 1.1; Urteile 6B_880/2022 vom 30. Januar 2023 E. 2.1; 6B_1455/2021 vom 11. Januar 2023 E. 1.1; 6B_1083/2021, 6B_1084/2021 vom 16. Dezember 2022 E. 5.2, nicht publiziert in: BGE 149 IV 105). Diese Obliegenheit beurteilt sich nach den konkreten Verhältnissen und dauert nicht unbeschränkt an (Urteil 6B_324/2020 vom 7. September 2020 E. 1.2 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat hinsichtlich der gebotenen Aufmerksamkeitsdauer verschiedentlich einen Zeitraum von bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensrechtlichen Handlung der Behörde als vertretbar bezeichnet (Urteil 6B_674/2019 vom 19. September 2019 E. 1.4.3).  
 
3.  
Die Vorinstanz erwägt, der Beschluss vom 27. März 2023 sei als Gerichtsurkunde versandt worden. Der Sendungsverfolgung der Post sei zu entnehmen, dass sie dem Beschwerdeführer am 5. April 2023 zur Abholung gemeldet worden sei. Am 15. April 2023 habe die Post dem Gericht den Beschluss mit dem Vermerk "nicht abgeholt" retourniert. Der Beschwerdeführer habe Berufung angemeldet. Er sei folglich aktiv am Verfahren beteiligt und habe mit der Zustellung prozessleitender Entscheide rechnen müssen. Er hätte somit um die Sicherstellung von Postzustellungen besorgt sein müssen, was er nicht getan habe. Der Beschluss vom 27. März 2023 gelte am 12. April 2023 als zugestellt. Die Frist für die Berufungsbegründung habe somit zu laufen begonnen und sei am 2. Mai 2023 abgelaufen. Eine Berufungsbegründung sei innert der Frist nicht eingegangen. Androhungsgemäss sei daher vom Rückzug der Berufung auszugehen. 
 
4.  
Die dagegen erhobene Kritik in der Beschwerde ist unbegründet, soweit sie den gesetzlichen Begründungsanforderungen überhaupt genügt (Art. 42 Abs. 2 BGG). 
 
4.1. Der Beschwerdeführer bestreitet zu Recht nicht, Berufung gegen das bezirksgerichtliche Urteil vom 3. Oktober 2022 angemeldet und - nach Zugang des begründeten Urteils am 21. Februar 2023 - fristgerecht Berufung erklärt zu haben. Damit, d.h. mit der Einreichung der Berufungsanmeldung und -erklärung, hat er ein Prozessrechtsverhältnis begründet, und er musste daher - wie die Vorinstanz in Anwendung von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO zutreffend festhält - mit gerichtlicher Post rechnen. Der mit Gerichtsurkunde versandte Beschluss vom 27. März 2023 wurde dem Beschwerdeführer am 5. April 2023 und damit rund fünfeinhalb Monate nach der Berufungsanmeldung bzw. rund einen Monat nach Einreichung der Berufungserklärung zur Abholung gemeldet. Dieser Zeitlauf liegt ohne Weiteres im Rahmen der zu erwartenden Aufmerksamkeitsdauer und ist nicht zu beanstanden. Irrelevant ist, dass der Beschwerdeführer selbst mit einer vorinstanzlichen Zustellung "frühestens in ein paar Monaten" gerechnet haben will, weil sich (angeblich) schon die Vorderinstanzen "so viel Zeit gelassen hätten". Darauf braucht nicht weiter eingegangen zu werden.  
 
4.2. Ebenso wenig vermag der Beschwerdeführer aus dem Vorbringen, während der Zeit des Zustellversuchs für zwei Wochen verreist gewesen zu sein, etwas zu seinen Gunsten abzuleiten. Angesichts seiner aus dem Prozessrechtsverhältnis fliessenden Pflicht, die Entgegennahme gerichtlicher Sendungen zu gewährleisten (BGE 141 II 429 E. 3.1; Urteil 1B_605/2021 vom 3. März 2022 E. 2.1; je mit Hinweisen), hätte er die Vorinstanz über seine ferienbedingte Abwesenheit während der Osterzeit informieren oder sonstige geeignete Vorkehrungen für die Zeit seiner geltend gemachten Ortsabwesenheit treffen müssen. Dass er solche Massnahmen für die Zustellbarkeit von gerichtlicher Post getroffen hätte, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist auch nicht ersichtlich. Im Übrigen scheint er zu verkennen, dass sich eine laufende Abholfrist nicht durch einen Rückbehalteauftrag bei der Post verlängern lässt (vgl. BGE 141 II 429 E. 3.1; 134 V 49 E. 4; siehe auch BGE 123 III 492). Zudem musste das Obergericht - anders als der Beschwerdeführer meint - nicht von sich aus berücksichtigen, dass er während der Osterzeit allenfalls ferienabwesend sein könnte (Urteile 6B_758/2022 vom 9. November 2022 E. 4.2, 6B_368/2022 vom 29. Juni 2022 E. 5, 6B_940/2013 vom 31. März 2014 E. 2.2.5). Die StPO kennt, anders als das BGG, keine Gerichtsferien (Art. 89 Abs. 2 StPO).  
 
4.3. Damit die Zustellfiktion im Sinne von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO greift, muss der Empfänger diejenige Behörde als Absender erkennen, mit deren Sendung er aufgrund des Prozessrechtsverhältnisses rechnen musste (BGE 142 IV 286 E. 1.6). Auf dem Briefumschlag des mit Gerichtsurkunde versandten Beschlusses vom 27. März 2023 ist die Vorinstanz als Absenderin identifizierbar. Dass der Beschwerdeführer hievon keine Kenntnis nahm bzw. nehmen konnte, hat er sich selber zuzuschreiben. Nicht erforderlich ist, dass der Absender einer Sendung aus der Abholungseinladung (BGE 142 IV 286 E. 1.6.2 und 1.6.3) oder einer allfällig elektronischen Benachrichtigung des Onlinedienstes der Post an den Empfänger hervorgeht (vgl. Urteil 6B_302/2020 vom 25. Juni 2020 E. 5.4). Es reicht aus, dass die Sendung per Einschreiben bzw. Gerichtsurkunde erfolgte (vgl. Art. 85 Abs. 2 StPO), was vorliegend der Fall ist bzw. war.  
 
4.4. Anders als der Beschwerdeführer abschliessend zu meinen scheint, war die Vorinstanz auch nicht zu einem zweiten Zustellversuch verpflichtet, zumal die Zustellfiktion, soweit sie wie hier greift, bereits mit dem ersten erfolglosen Zustellversuch eintritt (vgl. Urteil 2C_364/2021 vom 5. August 2021 E. 5.1.1.1). Dass und weshalb sie unter dieser Prämisse dennoch gehalten gewesen wäre, den Beschluss vom 27. März 2023 zusätzlich als Standard-Brief zu verschicken oder sich bei ihm anderweitig zu melden, legt er in der Beschwerde in Verletzung der Begründungsanforderungen nicht dar.  
 
5.  
Die Beschwerde erweist sich nach dem Gesagten als unbegründet und ist im Verfahren nach Art. 109 BGG abzuweisen, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang wird der unterliegende Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1, Art. 65 BGG). In Berücksichtigung des relativ geringen Aufwands ist eine reduzierte Entscheidgebühr angemessen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 26. Oktober 2023 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill