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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
8C_576/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 20. November 2014  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,  
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Ehrenzeller, 
Beschwerdegegnerin, 
 
IV-Stelle Luzern,  
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantons- 
gerichts Luzern vom 10. Juni 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1961, lebte seit 1992 in der Schweiz und bezog seit 1. November 1997 eine ganze Rente der Invalidenversicherung (Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 19. Oktober 1999). Revisionsweise wurde diese Invalidenrente mehrfach bestätigt. Im Hinblick auf eine weitere Rentenrevision holte die IV-Stelle mit Schreiben vom 21. Februar 2012 beim behandelnden Hausarzt Dr. med. B.________ einen aktuellen Bericht zu allfälligen neuen Befunden ein. Mit Vorbescheid vom 14. Dezember 2012 informierte die IV-Stelle den Rechtsvertreter der Versicherten, dass der Rentenanspruch infolge der 6. IV-Revision überprüft worden und die Invalidenrente daher aufzuheben sei. Am 19. April 2013 verfügte die IV-Stelle die Aufhebung der Invalidenrente. 
 
B.   
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 10. Juni 2014 gut, hob die Verfügung der IV-Stelle vom 19. April 2013 auf und stellte fest, dass die Versicherte weiterhin Anspruch auf eine ganze Invalidenrente habe. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids. 
 
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet die IV-Stelle auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 und Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
2.   
Strittig ist die von der IV-Stelle am 19. April 2013 verfügte Aufhebung der mit Wirkung ab 1. November 1997 ausgerichteten ganzen Invalidenrente. 
 
3.  
 
3.1. Die Aufhebung der Invalidenrente erfolgte in Anwendung von lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision (erstes Massnahmenpaket) vom 18. März 2011 (SchlBest. IV 6/1; AS 2011 5659). Danach werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung (am 1. Januar 2012) überprüft; sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Diese Bestimmung ist verfassungs- und EMRK-konform (BGE 140 V 15 E. 5.1 S. 17 mit Hinweis). Sie findet indessen laut lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen.  
 
3.2. In BGE 139 V 442 E. 3 und 4 S. 444 ff. wurde in Auslegung des vorstehend letztzitierten Satzteils festgestellt, dass zur Beantwortung der Frage, ob eine Person bereits seit mehr als 15 Jahren eine Rente "bezieht", auf den Beginn ihres Rentenanspruchs und nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der rentenzusprechenden Verfügung abzustellen ist. Einzig diese Interpretation der Ausschlussklausel trägt den Kernanliegen der darin verankerten Besitzstandsgarantie (Gewährleistung von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz; Vermeidung aussichtsloser Eingliederungsversuche) angemessen Rechnung. Während dem Verfügungszeitpunkt stets etwas Zufälliges anhaftet, vermag die Anknüpfung beim Beginn der Rentenberechtigung eine allfällige lange dauernde (Teil-) Absenz vom Arbeitsmarkt und die sich daraus ergebende faktische Aussichtslosigkeit von (Wieder-) Eingliederungsmassnahmen klar darzutun. Die Höhe der seit mehr als 15 Jahren bezogenen IV-Rente (Viertels-, halbe, Dreiviertels- oder ganze Rente) spielt für das Heranziehen der Ausschlussklausel von lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 keine Rolle (BGE 140 V 15 E. 5.2 S. 17; 139 V 442 E. 5.1 S. 450 f.; SVR 2014 IV Nr. 17 S. 65, 8C_773/2013 E. 2.2.2 mit Hinweis). Bei Revisionsverfahren, welche noch vor Inkrafttreten der 6. IV-Revision eingeleitet wurden, bildet der 1. Januar 2012 den fiktiven Anknüpfungspunkt für die Ermittlung der massgebenden Rentenbezugsdauer (BGE 140 V 15 E. 5.3.5 S. 21).  
 
4.   
Die Vorinstanz hob die Verfügung der IV-Stelle vom 19. April 2013 auf und ordnete die Weiterausrichtung der bisherigen Invalidenrente an mit der Begründung, der Ausschlussgrund des über 15-jährigen Rentenbezugs im Sinne von lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 sei erfüllt. Die Einleitung der revisionsweisen Rentenüberprüfung sei dem Rechtsvertreter der versicherten Person von der IV-Stelle mit Vorbescheid vom 14. Dezember 2012 verspätet angezeigt worden, nachdem die 15-Jahres-Frist bereits am 31. Oktober 2012 abgelaufen war. Demgegenüber vertritt das Beschwerde führende BSV die Auffassung, die IV-Stelle habe den Nachweis der fristwahrenden Einleitung der Rentenüberprüfung vor Ablauf der 15-jährigen Rentenbezugsdauer im Sinne von lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 durch Einverlangen eines medizinischen Verlaufsberichts zum ausdrücklichen Zwecke der "Rentenrevision" gemäss unbestrittener Anfrage vom 21. Februar 2012 mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erfüllt. 
 
4.1. Das kantonale Gericht stützte den angefochtenen Entscheid auf das vom BSV herausgegebene Kreisschreiben über die Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG (KSSB). In der seit 1. Januar 2012 geltenden Fassung ist Rz. 1016 KSSB zu entnehmen: "Es genügt, wenn die Überprüfung innerhalb dieses Zeitraumes eingeleitet wird, das heisst wenn die versicherte Person schriftlich von der Rentenprüfung Kenntnis erlangt hat." Daraus leitete die Vorinstanz ab, die IV-Stelle habe den Rechtsvertreter der Versicherten erst mit Vorbescheid vom 14. Dezember 2012 und somit verspätet nach Ablauf der 15-jährigen Rentenbezugsdauer über die eingeleitete Rentenüberprüfung informiert.  
 
4.2. Verwaltungsweisungen richten sich grundsätzlich nur an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Indes berücksichtigt das Gericht die Kreisschreiben insbesondere dann und weicht nicht ohne triftigen Grund davon ab, wenn sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen und eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben enthalten. Dadurch trägt es dem Bestreben der Verwaltung Rechnung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten (BGE 138 V 346 E. 6.2 S. 362; 137 V 1 E. 5.2.3 S. 8; 133 V 257 E. 3.2 S. 258 mit Hinweisen; vgl. 133 II 305 E. 8.1 S. 315). Auf dem Wege von Verwaltungsweisungen dürfen keine über Gesetz und Verordnung hinausgehenden Einschränkungen eines materiellen Rechtsanspruchs eingeführt werden (BGE 132 V 121 E. 4.4. S. 125).  
 
4.3.   
 
4.3.1. Das kantonale Gericht übersieht, dass der Gesetzgeber hinsichtlich des Nachweises der rechtzeitigen Einleitung der Rentenüberprüfung vor Ablauf der 15-jährigen Rentenbezugsdauer gemäss lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 keine Beschränkung der zulässigen Beweismittel stipuliert hat. Der Beweis der Rechtzeitigkeit der Einleitung einer Rentenüberprüfung im Sinne von lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 ist demnach - entgegen der Vorinstanz - nicht vom Empfang des schriftlichen Vorbescheids oder einer anderen schriftlichen Mitteilung auf Seiten der betreffenden versicherten Person abhängig. Andernfalls käme dem KSSB hinsichtlich des materiellen Anspruchs auf Überprüfung laufender Invalidenrenten nach lit. a SchlBest. IV 6/1 eine einschränkende Wirkung zu, welche praxisgemäss ausgeschlossen ist (vgl. hievor E. 4.2 i.f.). Soweit der aktuellen Fassung von Rz. 1016 KSSB Abweichendes zu entnehmen ist, hat das Beschwerde führende BSV den entsprechenden Anpassungsbedarf erkannt.  
 
4.3.2. Diese Anpassung ist umso mehr angezeigt, als das Bundesgericht bereits entschieden hat (SVR 2014 IV Nr. 17 S. 65, 8C_773/2013 E. 3), dass sich - entgegen der Vorinstanz - der "Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird," nicht anhand des Momentes bestimmt, in welchem die versicherte Person erstmals schriftlich Kenntnis von der gestützt auf lit. a Abs. 1 SchlBest. IV 6/1 ins Auge gefassten Rentenaufhebung erhielt (vgl. SVR 2014 IV Nr. 17 S. 65, 8C_773/2013 E. 3.1 i.f. in Verbindung mit E. 3.3.2 i.f.). Vielmehr richtet sich der Zeitpunkt der mit Blick auf lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 fristwahrenden Einleitung der Rentenüberprüfung nach dem mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesenen tatsächlichen Beginn des betreffenden Verfahrens. Liegt dieser Zeitpunkt vor dem 1. Januar 2012 (Inkrafttreten von lit. a SchlBest. IV 6/1), bildet der 1. Januar 2012 den fiktiven Anknüpfungspunkt für die Ermittlung der massgebenden Rentenbezugsdauer (BGE 140 V 15 E. 5.3.5 S. 21). Vermag demnach ein vor Inkrafttreten von lit. a SchlBest. IV 6/1 gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG eingeleitetes Revisionsverfahren in Bezug auf die Bestimmung des fiktiven Anknüpfungspunktes im Rahmen der Neubeurteilung des Rentenanspruchs nach lit. a SchlBest. IV 6/1 Rechtswirkungen zu entfalten, sind aus der letztgenannten Bestimmung betreffend den Nachweis der Eröffnung des Überprüfungsverfahrens keine einschränkenderen Voraussetzungen abzuleiten als hinsichtlich des Revisionsverfahrens nach Art. 17 Abs. 1 ATSG.  
 
4.4. Nach unbestrittener Sachverhaltsfeststellung des kantonalen Gerichts hat die IV-Stelle beim Hausarzt am 21. Februar 2012 einen Verlaufsbericht und am 17. Oktober 2012 bei der zuständigen Krankenpflegeversicherung die Zustellung sämtlicher Rückforderungsbelege ab 1. Oktober 2007 unter ausdrücklichem Hinweis auf die "von Amtes wegen [durchzuführende] Revision" einverlangt. Bestimmt sich der "Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird" nach dem Moment des mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesenen tatsächlichen Beginns des Revisionsverfahrens (vgl. E. 4.3 hievor), so steht in Bezug auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt fest, dass die IV-Stelle die Rentenüberprüfung vor Ablauf der 15-jährigen Rentenbezugsdauer eingeleitet hat. Folglich steht einer Überprüfung der seit 1. November 1997 ausgerichteten Invalidenrente - im Gegensatz zu der vom kantonalen Gericht vertretenen Auffassung - kein Ausschlussgrund im Sinne von lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 entgegen. Demnach ist der angefochtene Entscheid, mit welchem die Vorinstanz die von der IV-Stelle verfügte Rentenaufhebung annullierte und die Fortdauer des Anspruchs auf eine ganze Rente feststellte, aufzuheben.  
 
4.5. Da sich das kantonale Gericht jedoch bisher noch nicht mit der -ebenfalls bereits im vorinstanzlichen Verfahren strittig gewesenen - Frage des der Invalidenrente zu Grunde liegenden Gesundheitsschadens befasst und daher die entsprechenden rechtserheblichen Sachverhaltsfeststellungen noch nicht getroffen hat, ist die Sache unter Feststellung des Fehlens eines Ausschlussgrundes im Sinne von lit. a Abs. 4 SchlBest. IV 6/1 zur Neubeurteilung der Beschwerde an das kantonale Gericht zurückzuweisen.  
 
5.   
Das Verfahren ist grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 BGG). Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern, 3. Abteilung, vom 10. Juni 2014 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Luzern und dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 20. November 2014 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli