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[AZA 7] 
I 221/00 Vr 
 
II. Kammer 
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Rüedi und Meyer; 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold 
 
Urteil vom 7. November 2001 
 
in Sachen 
I.________, 1951, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Christian Flückiger, Spitalgasse 9, 3011 Bern, 
 
gegen 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
A.- I.________ (geboren 1951) arbeitete zuletzt als Sandstrahler in der Firma G.________ AG. Am 22. Juli 1991 erlitt er bei einem Unfall eine commotio cerebri. Seit 
10. Januar 1992 ist er mit kleineren Unterbrüchen arbeitslos. 
Am 9. Dezember 1994 geriet er in eine Schlägerei, in welcher er sich verschiedene Prellmarken sowie Verletzungen an der rechten Hand zuzog. Mit Anmeldung vom 5. August 1993 ersuchte er um Leistungen der Invalidenversicherung, welche die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 30. September 1996 ablehnte. 
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess eine hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 13. August 1997 gut und wies die Sache an die IV-Stelle zur weiteren Abklärung und Erlass einer neuen Verfügung zurück. 
Nach Einholung eines polydisziplinären Gutachtens beim Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 15. Oktober 1998 sprach die IV-Stelle I.________ ab 1. Dezember 1995 eine halbe Invalidenrente samt Zusatzrente für die Ehefrau sowie Kinderrenten für A.________ (geboren 1984) und Z.________ (geboren 1982) zu (Verfügung vom 23. April 1999). 
 
B.- In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde setzte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern den Rentenbeginn auf den 1. April 1995 fest und sprach zusätzlich befristete Kinderrenten für V.________ (geboren 1977) und D.________ (geboren 1980) zu (Entscheid vom 6. März 2000). 
 
 
C.- I.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, der Rentenbeginn sei auf den 1. August 1992 festzusetzen. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 102 V 165; AHI 2000 S. 151 Erw. 2a mit Hinweisen), den Beginn des Rentenanspruchs (Art. 29 Abs. 1 IVG), den Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 125 V 195 Erw. 2, 121 V 47 Erw. 2a, 208 Erw. 6b mit Hinweis) und den im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, 117 V 264 Erw. 3b, je mit Hinweisen) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. 
Zu ergänzen bleibt, dass die Behandelbarkeit einer psychischen Störung, für sich allein betrachtet, nichts über deren invalidisierenden Charakter aussagt. Für die Entstehung des Anspruchs auf eine Invalidenrente im Besonderen ist immer und einzig vorausgesetzt, dass während eines Jahres (ohne wesentlichen Unterbruch) eine mindestens 40 %ige Arbeitsunfähigkeit nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG bestanden hat und eine anspruchsbegründende Erwerbsunfähigkeit gemäss Art. 28 Abs. 1 bis Abs. 1ter IVG sowie Art. 28 Abs. 2 IVG oder Art. 5 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 28 Abs. 3 IVG und Art. 27 f. IVV weiterhin besteht (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil B. vom 5. Oktober 2001 [I 724/99]). In diesem Urteil hat das Eidgenössische Versicherungsgericht auch präzisiert, dass sich die invaliditätsfremden Faktoren soziokultureller und psychosozialer Umstände im Rahmen der Invaliditätsbemessung unter dem Gesichtspunkt zumutbarer Willensanstrengung zu ihrer Überwindung regelmässig nicht klar vom medizinischen Leiden selber trennen lassen. Art. 4 Abs. 1 IVG versichert zu Erwerbsunfähigkeit führende Gesundheitsschäden, worunter soziokulturelle Umstände nicht zu begreifen sind. Es braucht in jedem Fall zur Annahme einer Invalidität ein medizinisches Substrat, das (fach)ärztlicherseits schlüssig festgestellt wird und nachgewiesenermassen die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen, desto ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert vorhanden sein. Das bedeutet, dass das klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den belastenden soziokulturellen Faktoren herrühren, bestehen darf, sondern davon psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat, zum Beispiel eine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im fachmedizinischen Sinne oder einen damit vergleichbaren psychischen Leidenszustand. Solche von der soziokulturellen Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann. Wo der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben. Ist anderseits eine psychische Störung von Krankheitswert schlüssig erstellt, kommt der Frage zentrale Bedeutung zu, ob und inwiefern, allenfalls bei geeigneter therapeutischer Behandlung, von der versicherten Person trotz des Leidens willensmässig erwartet werden kann, zu arbeiten (eventuell in einem geschützten Rahmen) und einem Erwerb nachzugehen. 
 
 
2.- Der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine halbe Invalidenrente (samt entsprechender Zusatzrente für die Ehefrau und Kinderrenten) ist unbestritten. Streitig ist hingegen der Rentenbeginn. 
 
a) Dr. med. L.________ hielt in verschiedenen Berichten fest, dass dem Beschwerdeführer leichte Tätigkeiten ohne Arbeiten auf dem Gerüst oder Hoch-/Tiefblicken voll zumutbar seien (vgl. Schreiben vom 26. Februar 1992 und vom 13. Mai 1992, Berichte vom 25. August 1993 und vom 8. Oktober 1995). Im August 1992 habe der Versicherte sich einer Varikosisoperation unterziehen müssen und sei von 3. August bis 15. September 1992 arbeitsunfähig gewesen (Arztzeugnis vom 28. Dezember 1992). In seinem Bericht vom 25. August 1993 hielt Dr. med. L.________ erstmals eine neurasthenische reaktiv depressive Entwicklung fest und erklärte, dass ein Aufenthalt in der Tagesklinik des psychiatrischen Zentrums des Spitals N.________ vorgesehen sei. Zwar könnten keine sicheren Angaben über die Arbeitsunfähigkeit gemacht werden, dem Versicherten seien aber nach wie vor Tätigkeiten im Service, Sandstrahlen ohne Gerüst und ohne Bücken oder Hochblicken voll zumutbar. Diese Einschätzung wiederholte er in seinem Bericht vom 8. Oktober 1995 und hielt fest, dass sich der Zustand sowie die Beschwerden gesamthaft gesehen nicht geändert hätten. 
Dr. med. C.________, SUVA-Kreisarzt, attestierte ab 
 
10. Januar 1992 volle Arbeitsfähigkeit (Bericht vom 9. Januar 1992). 
Dr. med. B.________, Facharzt für Neurologie, diagnostizierte in seinem Bericht vom 14. April 1992 ein postcommotionelles Syndrom mit neurasthenisch reaktiver depressiver Entwicklung. Trotz der unfallbedingten Beschwerden sei die Arbeitsfähigkeit jedoch nicht eingeschränkt. 
Dr. med. E.________, Neurologische Klinik und Poliklinik, Spital X.________, stellte ebenfalls weder einen neurologischen Befund noch eine wesentliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit für nicht sehr schwere Arbeiten ohne Bücken und viele Kopfbewegungen sowie ohne Risikoexposition (Gerüst) fest (Bericht vom 9. Februar 1993). 
Dr. med. H.________, Facharzt für Psychiatrie, diagnostizierte in seinem Gutachten vom 7. April 1995 ein postcommotionelles Syndrom bei reaktiver Verstimmung und schwieriger sozialer Lage. Es liege jedoch kein eigenständiges psychisches Krankheitsbild vor. Der Versicherte habe der von Dr. med. L.________ im Jahre 1993 vorgesehenen psychiatrischen Abklärung keine Folge geleistet, da er sich nicht für psychisch krank erachtet habe. Ein entsprechender Aufenthalt sei jedoch angezeigt, da sich eine depressive Fehlentwicklung einstellen könne. Die psychischen Störungen sollten den Versicherten in seiner Arbeitsfähigkeit nicht wesentlich einschränken; sie würden jedoch eng mit den sozialen Schwierigkeiten und dem postcommotionellen Syndrom zusammenhängen, und das gesamte Krankheitsbild könne eine Teilinvalidität bewirken. Daneben seien auch noch andere als invaliditätsbedingte Gründe für die Arbeitsunfähigkeit verantwortlich; deren Einfluss dürfte 50 % betragen. 
Gemäss ZMB-Gutachten vom 15. Oktober 1998 leidet der Beschwerdeführer an einem chronifizierten Schmerzsyndrom mit psychischer affektiver Fehlentwicklung, einem Zervikovertebralsyndrom bei degenerativen Veränderungen sowie einer leichten Funktionseinschränkung der rechten Hand, welche eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % bewirken. 
 
b) Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer in seiner angestammten Tätigkeit seit dem Unfall im Jahr 1991 voll arbeitsunfähig ist. Aus den ärztlichen Berichten vor 1995 ergibt sich jedoch übereinstimmend, dass ihm jede leidensangepasste Tätigkeit (d.h. keine Arbeiten auf einem Gerüst, mit Bücken oder Hoch-/Tiefblicken verbunden) voll zumutbar ist. Zwar stellten die Ärzte eine depressive Entwicklung fest, massen dieser aber keinerlei Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit zu. Erst anlässlich der Untersuchung durch Dr. med. H.________, welche im April 1995 erfolgte, ist erstmals von einer psychischen Fehlentwicklung die Rede, welche im Zusammenhang mit den übrigen Leiden eine Teilinvalidität bewirken könne. 
Nach dem Gesagten ist weder erstellt noch durch weitere Abklärungen beweisbar, dass vor April 1995 eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmass vorlag. Etwas anderes lässt sich auch nicht aus den Berichten des Dr. med. L.________ ableiten; zwar hat dieser bereits 1992 eine reaktive depressive Entwicklung festgestellt und dem Versicherten 1993 eine psychiatrische Abklärung vorgeschlagen, doch mass Dr. med. L.________ dieser psychischen Entwicklung keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit zu. Die Folgen dieser Beweislosigkeit hat der Beschwerdeführer zu tragen, der aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt den Anspruch auf eine früher beginnende Rente ableiten wollte (vgl. BGE 111 V 201 oben mit Hinweisen). 
3.- Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten ist daher gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Christian Flückiger für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der 
 
 
Gerichtskasse eine Entschädigung (einschliesslich 
Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- ausgerichtet. 
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern 
 
 
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 7. November 2001 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident Die Gerichts- der II. Kammer: schreiberin: