Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 619/02 
 
Urteil vom 19. Dezember 2003 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber Renggli 
Parteien 
 
P.________, 1969, Beschwerdeführer, vertreten durch den Sozialdienst der Stadt Bern, Predigergasse 5, 3011 Bern, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
(Entscheid vom 3. Juli 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1969 geborene P.________ meldete sich am 12. Oktober 1990 unter Hinweis auf seine Drogensucht erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung und Rente) an. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 1. Oktober 1992 wies die Ausgleichskasse des Kantons Appenzell-Ausserrhoden das Leistungsbegehren ab. Am 3. Dezember 1992 meldete sich der Versicherte bei der Invalidenversicherung erneut für Berufsberatung und Umschulung an. Mit unangefochten gebliebener Verfügung vom 15. Juni 1993 wurde auch dieses Leistungsgesuch abgewiesen. 
 
Am 11. Januar 2001 gelangte P.________ wiederum an die Invalidenversicherung und ersuchte um die Gewährung beruflicher Massnahmen bzw. einer Rente. Auf die Frage nach der Art der Behinderung nannte er psychische Probleme (Angst, Depression), langjährige Drogenabhängigkeit und verschiedene körperliche Leiden (Leberschmerzen, Schulterprobleme, Bronchitis). Gestützt auf einen Arztbericht der Universitären Psychiatrischen Dienste UPD, Methadon-Therapiezentrum, vom 9. März 2001 stellte die IV-Stelle Bern mit Vorbescheid vom 7. Mai 2001 die Abweisung des Leistungsbegehrens in Aussicht, da sich seit Erlass der Verfügung vom 15. Juni 1993 der Gesundheitszustand nicht wesentlich verändert habe, so dass kein Revisionsgrund bestehe. Am 8. Juni 2001 erliess sie eine dementsprechende Verfügung. 
B. 
Die dagegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 3. Juli 2002 ab. 
C. 
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, die Sache sei zu genauerer Sachverhaltsermittlung und erneuter Beurteilung des Leistungsanspruchs an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 8. Juni 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar. 
1.2 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen zum Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG in der bis am 31. Dezember 2002 gültigen Fassung) und zum Vorgehen bei Neuanmeldung nach vorangehender Verneinung eines Rentenanspruches (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV) sowie die Rechtsprechung betreffend die dabei zu vergleichenden Sachverhalte (BGE 109 V 265 Erw. 4a mit Hinweisen) zutreffend wiedergegeben, worauf verwiesen wird. Beizupflichten ist ihr auch darin, dass Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch und Drogensucht, für sich allein betrachtet, keine Invalidität im Sinne des Gesetzes begründen. Dagegen wird eine solche Sucht im Rahmen der Invalidenversicherung bedeutsam, wenn sie ihrerseits eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder aber wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens ist, welchem Krankheitswert zukommt (BGE 99 V 28 Erw. 2; AHI 2002 S. 30 Erw. 2a, 2001 S. 228 f. Erw. 2b in fine [=SVR 2001 IV Nr. 3 S. 7 Erw. 2b], je mit Hinweisen). 
1.3 Zu ergänzen ist, dass zu den geistigen Gesundheitsschäden, welche in gleicher Weise wie die körperlichen eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken vermögen, neben den eigentlichen Geisteskrankheiten auch seelische Abwegigkeiten mit Krankheitswert gehören (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine). Von einer invalidisierenden psychischen Störung kann indes nur bei Vorliegen eines medizinischen Substrats gesprochen werden, das (fach-)ärztlicherseits schlüssig festgestellt wird und nachgewiesenermassen die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Namentlich darf das klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen bestehen, welche von belastenden psychosozialen oder soziokulturellen Faktoren herrühren, sondern hat davon psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen, etwa eine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im fachmedizinischen Sinne oder einen damit vergleichbaren psychischen Leidenszustand (BGE 127 V 299 f. Erw. 5a; Urteil M. vom 27. Mai 2003, I 862/02, Erw. 1.1 in fine). 
1.4 Nach dem für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gültigen Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 135 OG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG; Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG in Verbindung mit Art. 69 IVG; Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 229) haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist also entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c). 
2. Streitig und zu prüfen ist, ob sich die massgeblichen Verhältnisse seit der anspruchsverneinenden Verfügung vom 1. Oktober 1992 bis zur Verfügung vom 8. Juni 2001 in erheblicher Weise geändert haben. Wie das kantonale Gericht zutreffend festgehalten hat, ist gemäss der Rechtsprechung (Erw. 1.2) als ursprüngliche Verfügung nicht diejenige vom 15. Juni 1993 zu betrachten, weil sie eine bereits früher ergangene bloss bestätigte. 
2.1 Der Verfügung vom 1. Oktober 1992 war für die medizinischen Belange der Arztbericht von Dr. med. W.________ vom medizinischen Dienst vom 7. November 1990 zugrunde gelegt worden, der als einzige Diagnose eine Drogenabhängigkeit nannte. 
 
Nach Eingang der letzten Neuanmeldung holte die IV-Stelle den erwähnten Arztbericht der Universitären Psychiatrischen Dienste UPD, Methadon-Therapiezentrum, vom 9. März 2001 ein. Darin wurden folgende Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit gestellt: eine langfristige ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6, eine langfristige rezidivierende depressive Störung (F33.0) sowie eine Störung durch Opioide (F11.22). Die Dres. med. V.________ und N.________ empfahlen die Einleitung beruflicher Massnahmen mit einem Anfangspensum von 50% einer vollen Erwerbstätigkeit und stellten eine spätere langsame Steigerung der Arbeitsfähigkeit in Aussicht. Die Beeinträchtigung in der Arbeitsfähigkeit ergibt sich laut diesem Bericht aus der psychischen Symptomatik. Dank der Teilnahme an einem Methadonprogramm konnte sich der Versicherte hinsichtlich seines Drogenkonsums sehr gut stabilisieren. Zu einer möglichen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit durch die seit 1992 bestehenden Schulterbeschwerden (Status nach AC-Luxation rechts) äusserten sich die Gutachter in differenzierter Weise, indem sie diese unter den Diagnosen ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit aufführten, zugleich aber zunehmende Schmerzen unter länger anhaltender und regelmässiger Belastung als möglich bezeichneten. 
 
Zwischenzeitlich war der Beschwerdeführer auch an der Kantonalen Psychiatrischen Klinik H.________ untersucht worden. Die Dres. med. E.________ und Z.________ diagnostizierten in einem Arztbericht vom 30. Mai 1993 neben einer schweren Polytoxikomanie eine frühgestörte, unreife, labile, beziehungsgestörte sowie impulsive neurotisch fehlentwickelte Persönlichkeit mit narzisstischen Anteilen. Zur Arbeitsunfähigkeit konnten keine sicheren Angaben gemacht werden, ebenso zur Frage nach kausalen Beziehungen zwischen psychischem Zustand und Drogensucht. 
Während des vorinstanzlichen Verfahrens richteten die UPD einen weiteren Arztbericht (vom 6. September 2001) an das kantonale Gericht. Darin legt Dr. med. N.________ eine kausale Beziehung zwischen der Drogensucht und der Persönlichkeitsstörung nahe. Zugleich betont sie, dass diese sich in den letzten Jahren verstärkt habe und unweigerlich auch im Bereich der beruflichen Kompetenzen zu nachhaltigen Einschränkungen führe (zur Zulässigkeit der Berücksichtigung von nach dem massgeblichen Verfügungszeitpunkt [BGE 121 V 366 Erw. 2b mit Hinweisen] datierenden Arztberichten: BGE 99 V 102 Erw. 4 mit Hinweisen). 
2.2 Die Vorinstanz würdigte die vorliegenden ärztlichen Berichte als eine unter revisionsrechtlichem Gesichtswinkel unerhebliche unterschiedliche Beurteilung eines im wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts. Dies vermag nicht zu überzeugen. Im Bericht der UPD werden neue Diagnosen gestellt, die sich im Arztbericht von Dr. med. W.________ vom medizinischen Dienst vom 7. November 1990 nicht fanden. Es bleibt ungeklärt, ob eine psychische Störung mit Krankheitswert vorliegt. Offen ist bisher auch die Frage nach einer kausalen Beziehung zwischen den psychischen Beeinträchtigungen und der Drogensucht geblieben. Unter diesen Umständen gestatten die verfügbaren Unterlagen keine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches. Die IV-Stelle wird die notwendigen ergänzenden Sachverhaltsabklärungen zu treffen und danach über das Leistungsbegehren neu zu verfügen haben. 
3. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Obwohl er obsiegt, steht dem Beschwerdeführer keine Parteientschädigung zu, da er durch eine Institution der öffentlichen Sozialhilfe vertreten wird (BGE 126 V 13 Erw. 5). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgericht des Kantons Bern vom 3. Juli 2002 und die Verfügung vom 8. Juni 2001 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit sie, nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch des Beschwerdeführers neu befinde. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 19. Dezember 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: