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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1C_384/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 2. April 2015  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Härri. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch 
Rechtsanwalt Hanspeter Kümin, 
 
gegen  
 
Opferhilfestelle des Kantons Zürich, 
Postfach, 8090 Zürich. 
 
Gegenstand 
Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz, 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 27. Mai 2014 
des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich, 
 
II. Kammer.  
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
 A.________ arbeitete als Kellner. Am 5. September 2008, um ca. 02.30 Uhr, versetzte ihm am Arbeitsplatz jemand einen Faustschlag in das Gesicht und einen Fusstritt an den Kopf. A.________ erlitt insbesondere ein Schädelhirntrauma mit Fraktur des Felsenbeins und eine Subluxation des Kiefergelenks. Er befand sich einen Tag in Spitalpflege. 
 
 Am 10. November 2009 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich den Täter wegen versuchter vorsätzlicher schwerer Körperverletzung und anderer Delikte zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 33 Monaten und einer Busse von Fr. 500.--. Es stellte fest, dass der Täter gegenüber A.________ dem Grundsatz nach zu 90 Prozent schadenersatzpflichtig ist. Es verpflichtete den Täter zudem, A.________ eine Genugtuung von Fr. 5'000.-- zu bezahlen. 
 
B.  
 
 Am 2. April 2012 ersuchte A.________ die Opferhilfestelle des Kantons Zürich um Opferhilfe. 
 
 Mit Verfügung vom 6. August 2012 sprach die Opferhilfestelle A.________ eine Entschädigung von Fr. 3'970.-- für Schaden aus Erwerbsausfall zu; überdies eine Genugtuung von Fr. 5'000.-- zuzüglich Zins. Ferner übernahm sie Anwaltskosten von Fr. 8'186.75. 
 
 Dagegen erhob A.________ Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, welche er auf Höhe der Entschädigung beschränkte. Am 27. Mai 2014 wies das Sozialversicherungsgericht (II. Kammer) die Beschwerde ab. 
 
C.  
 
 A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des Sozialversicherungsgerichts sei aufzuheben. Die Opferhilfestelle sei anzuweisen, ihm eine Entschädigung von Fr. 107'355.05 zu entrichten. Eventuell sei die Angelegenheit an das Sozialversicherungsgericht oder die Opferhilfestelle zurückzuweisen, damit diese erneut über den Umfang des Opferhilfeanspruchs befänden. Dabei habe gegebenenfalls die damit befasste Instanz eventuell beim Swiss Medical Assessment- and Business-Center (im Folgenden: SMAB) ein präzisierendes Gutachten oder stattdessen unmittelbar ein Obergutachten in Auftrag zu geben. 
 
D.  
 
 Das Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Justiz haben auf Stellungnahme verzichtet. 
 
 Die Opferhilfestelle hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
 Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 82 lit. a BGG die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegeben. Eine Ausnahme nach Art. 83 BGG besteht nicht. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist daher gemäss Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. 
 
 Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist unter Vorbehalt der folgenden Erwägungen einzutreten. 
 
2.  
 
 Am 1. Januar 2009 ist das Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) in Kraft getreten. Gemäss Art. 48 lit. a OHG gilt das bisherige Recht für Ansprüche auf Entschädigung für Straftaten, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes verübt worden sind. 
 
 Die Straftat gegen den Beschwerdeführer wurde vor dem 1. Januar 2009 begangen. Anwendbar ist hier somit das alte Opferhilfegesetz vom 4. Oktober 1991 (aOHG; AS 1992 2465). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz kommt zum Schluss, beim Beschwerdeführer habe für die Zeit vom 5. September 2008 bis zum 1. Februar 2009 eine durch die Straftat bedingte Arbeitsunfähigkeit von 100 % bestanden und vom 2. Februar bis zum 30. April 2009 eine solche von 50 %. Am 1. Mai 2009 sei der Status quo ante, also der unmittelbar vor der Straftat bestehende Gesundheitszustand, erreicht gewesen.  
 
 Der Beschwerdeführer wendet ein, die letztere Annahme der Vorinstanz sei offensichtlich unhaltbar. 
 
3.2. Gemäss Art. 12 Abs. 1 aOHG hat das Opfer unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Entschädigung für den  durch die Straftaterlittenen Schaden. Für Schaden, den der Täter nicht verursacht hat, hat es somit keinen Anspruch.  
 
 Beim Beschwerdeführer bestanden unstreitig schon vor der Tat vom 5. September 2008 gesundheitliche Beeinträchtigungen, insbesondere eine Suchtproblematik. Entscheidend ist, wann der Status quo ante eingetreten ist. Für Erwerbsausfall, der nach dem Eintritt des Status quo ante entstanden ist, hat der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf opferhilferechtliche Entschädigung, da der Ausfall nicht auf die Straftat, sondern auf vorbestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen zurückzuführen ist. 
 
3.3. Wann der Status quo ante eingetreten ist, ist eine Sachverhaltsfrage (Urteil 8C_578/2007 vom 30. Mai 2008 E. 4.2 f.).  
 
 Gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG kann der Beschwerdeführer die Feststellung des Sachverhalts nur rügen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. 
 
 Offensichtlich unrichtig bedeutet willkürlich. Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266; 139 III 334 E. 3.2.5 S. 339; je mit Hinweisen). 
 
 Bei Sachverhaltsrügen stellt die Rechtsprechung qualifizierte Anforderungen an die Beschwerdebegründung. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Auf appellatorische Kritik tritt es nicht ein (BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266 mit Hinweisen). 
 
3.4. Die Beantwortung der Frage nach dem Eintritt des Status quo ante setzt medizinische Fachkenntnis voraus. Die Behörde muss daher die Stellungnahme eines ärztlichen Sachverständigen beiziehen.  
 
 Die Vorinstanz stellt auf das Gutachten von Dr. med. Anne-Marie Hew-Winzeler (Spezialärztin FMH für Neurologie) ab, das diese am 30. März 2009 zuhanden des Unfallversicherers über den Beschwerdeführer erstellt hat. Dr. Hew-Winzeler kommt nach eingehender Würdigung der vom Beschwerdeführer am 5. September 2008 erlittenen Verletzungen und des Heilungsverlaufs zum Schluss, der Status quo ante sei Ende März 2009 erreicht gewesen. Im Bereich der Felsenbeine seien kernspintomografisch keine Veränderungen sichtbar. Die übrigen nicht regulären Befunde im Bereich des Gehirns seien schon vor der Tat vorhanden gewesen (S. 7). 
 
 Das Gutachten von Dr. Hew-Winzeler entspricht den Qualitätsanforderungen und ihre Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar. 
 
 Das SMAB hat am 26. Mai 2011 im Auftrag der IV-Stelle des Kantons Zürich sodann ein Gutachten über den Beschwerdeführer erstattet. Auf S. 21 nimmt es zu folgender Frage Stellung: 
 
"Liegen unfallfremde Diagnosen vor, welche die Arbeitsfähigkeit längerfristig/dauerhaft einschränken können? Wenn ja, ist analog dem Arztzeugnis von Frau Dr. Hew-Winzeler per 31. März 2009 der Status quo ante nach dem offenen Schädelhirntrauma am 5. September 2008 erreicht?" 
 
Das SMAB beantwortet die Frage wie folgt: 
 
"Es bestehen einerseits vermutlich kongenital Vorschädigungen und Teilleistungsstörungen (Legasthenie, Verdacht auf ADHS), anderseits aber auch somatische Suchtfolgeschädigungen (Alkohol, Cannabis), wobei durch das Schädeltrauma vom 5. September 2008 eine erhebliche richtunggebende Verschlechterung zu konstatieren ist. Eine komplette Restitution ist unrealistisch, das aktuelle Arbeitspensum von 50 % erscheint langfristig angemessen. Eine wesentliche Besserung ist nicht mehr zu erwarten. Der Schlussfolgerung von Frau Dr. Hew-Winzeler ist zuzustimmen." 
 
 
3.5. Die Vorinstanz hat diese Aussagen des SMAB dahingehend interpretiert, dass die dortigen Ärzte der Schlussfolgerung von Dr. Hew-Winzeler zustimmten, wonach der Status quo ante am 31. März 2009 erreicht war; ab diesem Zeitpunkt sei eine allfällige (teilweise) Arbeitsunfähigkeit nicht mehr auf den erlittenen Umfall zurückzuführen. Wenn die Vorinstanz den Status quo ante gar erst auf den 1. Mai 2009 festsetzt, schiebt sie diesen Zeitpunkt gegenüber den Gutachten noch um einen Monat hinaus. Dies wirkt sich zugunsten des Beschwerdeführers aus, der sich darüber folglich nicht beklagen kann.  
Der Beschwerdeführer versteht die Stellungnahme des SMAB anders. Zwar stehe dort tatsächlich, der Schlussfolgerung von Frau Dr. Hew-Winzeler sei zuzustimmen, doch zitiere die Vorinstanz diesen Satz aus dem Zusammenhang gerissen. Das SMAB mache vielmehr deutlich, dass bei ihm eine komplette Restitution unrealistisch und das aktuelle Arbeitspensum von 50 % langfristig angemessen sei. 
Die betreffende Passage des Gutachtens des SMAB lässt in der Tat unterschiedliche Interpretationen zu. So wird zwar von einer richtungsgebenden Verschlechterung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers aufgrund des Schädelhirntraumas ausgegangen und ein Arbeitspensum von 50 % als realistisch eingestuft. Zugleich stimmen diese Ärzte aber auch der Schlussfolgerung von Dr. Hew-Winzeler zu; die Frage hatte gelautet, ob "analog dem AZ von Frau Dr. Hew-Winzeler" per 31. März 2009 der Status quo ante nach dem Schädel-Hirntrauma erreicht sei. Angesichts dieses Interpretationsspielraums im SMAB-Gutachten erscheint die Annahme der Vorinstanz nicht unhaltbar, die Aussagen der beiden Gutachten würden hinsichtlich des Eintritts des Status quo ante per 31. März 2009 übereinstimmen. Eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung liegt nicht vor. Daran vermögen abweichende Ausführungen des behandelnden Hausarztes nichts zu ändern: Wegen dessen Nähe zum Beschwerdeführer kommt diesen nicht dasselbe Gewicht zu wie den Gutachten unabhängiger Sachverständiger (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353 mit Hinweisen); dies umso weniger, als es sich beim behandelnden Arzt um einen solchen für Allgemeine Medizin handelt und nicht - wie Dr. Hew-Winzeler und der Hauptgutachter des SMAB - um einen Facharzt für Neurologie. 
 
3.6. Soweit der Beschwerdeführer eine offensichtlich unrichtige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts geltend macht, ist die Beschwerde demnach unbegründet.  
 
4.  
 
 Der Beschwerdeführer rügt einleitend (Beschwerde S. 3 Ziff. 5) eine Verletzung von Art. 8 ZGB und Art. 8 BV. In der Folge sagt er jedoch nicht, inwiefern diese Bestimmungen verletzt sein sollen. Damit kommt er seiner Begründungspflicht gemäss Art. 42 Abs. 2 bzw. Art. 106 Abs. 2 BGG nicht nach. Auf die Beschwerde kann deshalb insoweit nicht eingetreten werden (BGE 134 II 244 E. 2.1 f. S. 245 f. mit Hinweisen). 
 
5.  
 
 Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
 
 Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 30 OHG; BGE 122 II 211 E. 4b S. 219). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gemäss Art. 64 BGG ist insoweit gegenstandslos. Im Übrigen ist es abzuweisen, da die Beschwerde aussichtslos war. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist, abgewiesen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Opferhilfestelle des Kantons Zürich, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, und dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 2. April 2015 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Härri