Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_195/2023  
 
 
Urteil vom 5. März 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Walther. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch ihre Eltern und diese vertreten durch B.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Februar 2023 (VBE.2022.88). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 2017 geborene A.________ wurde am 9. Juli 2019 von ihren Eltern wegen Diabetes mellitus Typ 1 bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung für Minderjährige angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Aargau führte medizinische Abklärungen durch und veranlasste ein Abklärung vor Ort ("Abklärungsbericht Minderjährige" vom 13. Dezember 2019; ergänzende Stellungnahme vom 9. März 2020). Mit Verfügung vom 16. April 2020 wies sie das Leistungsgesuch ab. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde insoweit gut, als es die Sache zur ergänzenden Abklärung und neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückwies (Urteil vom 8. März 2021). 
In der Folge nahm die IV-Stelle Rücksprache mit der Abklärungsperson (Stellungnahmen vom 28. April und 30. November 2021) und dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; Bericht vom 28. Januar 2022). Mit Verfügung vom 2. Februar 2022 verneinte sie den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung erneut. 
 
B.  
Die von von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht ab (Urteil vom 17. Februar 2023). 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des kantonalen Urteils sei ihr eine Hilflosenentschädigung für Minderjährige zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten -nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis). In der Beschwerdeschrift ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG). Unerlässlich ist dabei, dass auf die Begründung des angefochtenen Entscheids eingegangen und im Einzelnen aufgezeigt wird, worin eine vom Bundesgericht überprüfbare Rechtsverletzung liegt. Die beschwerdeführende Partei soll in der Beschwerde an das Bundesgericht nicht bloss die Rechtsstandpunkte, die sie im kantonalen Verfahren eingenommen hat, erneut bekräftigen, sondern mit ihrer Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz ansetzen (BGE 148 IV 205 E. 2.6 mit Hinweisen).  
 
1.2. Seiner rechtlichen Beurteilung legt das Bundesgericht den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei willkürlich im Sinne von Art. 9 BV (BGE 148 IV 39 E. 2.3.5). Aufgrund der qualifizierten Rüge- und Begründungspflicht nach Art. 106 Abs. 2 BGG hat die beschwerdeführende Person klar und detailliert aufzuzeigen, inwiefern diese Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 148 I 160 E. 3), andernfalls das Bundesgericht auf die Rüge nicht eingeht (BGE 148 IV 356 E. 2.1).  
 
1.3. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen vor Bundesgericht nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in der Beschwerde näher darzulegen ist (BGE 148 V 174 E. 2.2). Mit der letztinstanzlichen Beschwerde werden ein Online-Artikel vom 18. Juli 2016, eine Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie vom 18. Februar 2022, eine anonymisierte Eingabe des Kinderspitals C.________ vom 10. Dezember 2022 in einem Verfahren vor dem Kantonsgericht Basel-Landschaft sowie die Beispiele eines Glukoseverlaufs und eines Schemas "Basalrate" in das Verfahren eingeführt. Da nicht erläutert wird, warum diese Noven ausnahmsweise zulässig sein sollen, können sie nicht berücksichtigt werden.  
 
2.  
Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, indem es einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittelschweren oder zumindest leichten Grades verneinte. 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung, die für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37 Abs. 1 bis 3 IVV) und die sechs massgebenden alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft; Fortbewegung [im oder ausser Haus], Kontaktaufnahme; BGE 133 V 450 E. 7.2) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Bemessungskriterien der dauernden persönlichen Überwachung (vgl. Art. 37 Abs. 1, Abs. 2 lit. b und Abs. 3 lit. b IVV) und der durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwendigen Pflege (Art. 37 Abs. 3 lit. c IVV). Hierauf kann ebenso verwiesen werden wie auf die dargelegten beweisrechtlichen Anforderungen an einen Abklärungsbericht an Ort und Stelle (BGE 140 V 543 E. 3.2.1; 133 V 450 E. 11.1.1). 
 
4.  
 
4.1. Im ersten Urteil vom 8. März 2021 betreffend die Verfügung vom 16. April 2020 gelangte das kantonale Gericht gestützt auf den Abklärungsbericht vom 13. Dezember 2019 zum Schluss, dass bei der damals drei Jahre und drei Monate alten Beschwerdeführerin im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Minderjährigen kein anspruchserheblicher Mehrbedarf an Dritthilfe in den alltäglichen Lebensverrichtungen bestehe. Eine persönliche Überwachung komme gemäss Anhang III des Kreisschreibens des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH; gültig ab 1. Januar 2015) bei Kindern unter sechs Jahren in der Regel nicht in Betracht, wobei die erforderlichen regelmässigen Blutzuckerkontrollen das übliche Mass der Überwachung eines dreijährigen Kindes auch nicht in anspruchsrelevantem Ausmass übersteigen würden. Aufgrund verschiedener aktenkundiger Widersprüche, u.a bezüglich der Bestimmung der Insulindosis und des Zeitaufwands für die Berechnung der Kohlenhydratwerte der Mahlzeiten, könne jedoch nicht beurteilt werden, ob eine ständige und besonders aufwendige Pflege notwendig sei. Dies sei von der IV-Stelle erneut abzuklären.  
 
4.2. Im vorliegend angefochtenen Urteil vom 17. Februar 2023 hielt das kantonale Gericht fest, an der fehlenden Hilfsbedürftigkeit bei den alltäglichen Lebensverrichtungen und der fehlenden Notwendigkeit einer dauernden persönlichen Überwachung habe sich nichts geändert, auch wenn die Beschwerdeführerin nunmehr fünf Jahre und einen Monat alt sei. Selbst wenn bei der alltäglichen Lebensverrichtung "Aufstehen, Absitzen, Abliegen" Dritthilfe erforderlich wäre, bestünde mangels Hilfsbedürftigkeit bei den übrigen Lebensverrichtungen kein Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Gestützt auf die ergänzenden Stellungnahmen der Abklärungsperson vom 28. April und vom 30. November 2021 und die Beurteilung des RAD vom 28. Januar 2022schloss das kantonale Gericht sodann auf einen täglichen pflegerischen Mehraufwand von rund 111 Minuten. Gemäss Rz. 8058 des KSIH seien die Voraussetzungen für die Annahme einer besonders aufwendigen Pflege bei einer solchen von weniger als zwei Stunden pro Tag nicht erfüllt, weshalb die IV-Stelle den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung zu Recht verneint habe.  
 
5.  
Was mit der Beschwerde dagegen eingewendet wird, ist unbehelflich: 
 
5.1. Das kantonale Gericht legte mit eingehender Begründung - auf die in allen Teilen verwiesen werden kann (Art. 109 Abs. 3 BGG) - dar, weshalb die Beschwerdeführerin bei den alltäglichen Lebensverrichtungen keiner Dritthilfe und auch anderweitig keiner persönlichen Überwachung bedarf, welche jeweils das Mass der Hilfs- bzw. Überwachungsbedürftigkeit gleichaltriger gesunder Kinder in anspruchsbegründender Weise übersteigen würde (Art. 37 Abs. 4 IVV). Inwiefern seine Beweiswürdigung und die darauf beruhende Sachverhaltsfeststellung geradezu willkürlich sein sollen (vgl. vorne E. 1.2), wird in der Beschwerde nicht hinreichend begründet. Neben unzulässigen Verweisen auf die vorinstanzliche Rechtsschrift (BGE 147 II 125 E. 10.3) erschöpfen sich die Rügen in einer Wiederholung der diabetesbedingten Belastungen, ohne sich mit den Erwägungen der Vorinstanz in der erforderlichen Weise auseinanderzusetzen. Letzteres gilt auch hinsichtlich des pauschalen Vorbringens, die Vorinstanz habe zu Unrecht Hilfeleistungen nicht bei den alltäglichen Lebensverrichtungen, sondern nur bei der Anspruchsvoraussetzung der besonders aufwendigen Pflege berücksichtigt. Diesbezügliche Vertiefungen erübrigen sich ebenso wie solche zum erstmals vor Bundesgericht geltend gemachten, aber nicht weiter erläuterten Bedarf an indirekter Hilfe und zu den - wohl auf den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) abzielenden - Behauptungen, die Vorinstanz habe "sämtliche Vorbringen strikte ignoriert". Es ist nicht die Aufgabe des Bundesgerichts, in der Beschwerde an die Vorinstanz nach Argumenten zu suchen, welche diese allenfalls übergangen hat.  
 
5.2. Soweit der Beschwerde hinreichend begründete Rügen entnommen werden können, ist das Folgende zu bemerken:  
 
5.2.1. Inwiefern das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt haben soll, indem es den Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung auf einen Zeitpunkt "vor dem 1. Januar 2022" festsetzte und daraus folgerte, es sei die bis zum 31. Dezember 2021 geltende Rechtslage massgebend, ist nicht ersichtlich. Der in der Beschwerde geltend gemachte konkrete Anspruchsbeginn am 9. Juli 2020 würde am zeitlich anwendbaren Recht auch nichts ändern. Entgegen der Beschwerde berücksichtigte das kantonale Gericht den Sachverhalt in zeitlicher Hinsicht überdies auch bis zur neuen Verfügung vom 2. Februar 2022. Dass es im Weiteren davon ausgegangen wäre, die Beschwerdeführerin könne die komplexe diabetesbedingte Therapie selber einhalten, geht aus seinen Erwägungen hingegen nicht hervor.  
 
5.2.2. Sodann trifft es zwar zu, dass gemäss Anhang III des KSIH bei Kindern mit frühkindlichem Autismus und solchen mit medikamentös nicht einstellbarer Epilepsie je nach Schweregrad und Situation ein persönlicher Überwachungsbedarf schon ab vier Jahren anerkannt werden kann (vgl. ebenso Anhang III des Kreisschreibens des BSV über Hilflosigkeit [KSH; gültig ab 1. Januar 2022]). Ob diese Richtlinie sinngemäss auf Kinder mit Diabetes mellitus Typ 1 anzuwenden ist, kann indessen dahingestellt bleiben, da die erforderlichen regelmässigen Blutzuckerkontrollen, wie bereits dargelegt, nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanz das übliche Mass der Überwachung eines dreijährigen bzw. fünfjährigen Kindes nicht in anspruchserheblicher Weise übersteigen.  
 
5.2.3. Soweit das kantonale Gericht das Erfordernis einer ständigen und besonders aufwendigen Pflege im Sinne von Art. 37 Abs. 3 lit. c IVV verneinte, vermag die Beschwerdeführerin ebenfalls keine Bundesrechtswidrigkeit aufzuzeigen. Die Rügen betreffend den vorinstanzlich festgestellten Pflegeaufwand von 111 Minuten pro Tag sind unzureichend begründet, weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist. Die weitere Argumentation, es "erscheine schon sehr streng", die ständige und besonders aufwendige Pflege wegen nur neun fehlenden Minuten zu verneinen, zielt ins Leere. Selbst wenn der Beschwerdeführerin in diesem Punkt gefolgt würde, müssten zusätzlich mehrere qualitativ erschwerende Momente vorliegen, um eine ständige und besonders aufwendige Pflegebedürftigkeit bejahen zu können (vgl. Rz. 8058 des KSIH bzw. Rz. 2065 ff. des KSH). Als qualitatives Moment kommt vorliegend jedoch einzig in Betracht, dass die pflegerischen Hilfeleistungen auch nachts erbracht werden müssen (Ziff. 8058 KSIH und Ziff. 2066 ff. KSH), nicht aber die geltend gemachte Aufgabe der Erwerbstätigkeit durch die Mutter und auch nicht der Umstand, dass Insulin rezeptpflichtig ist. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.  
 
6.  
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 5. März 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Walther