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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_235/2022  
 
 
Urteil vom 16. November 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Cupa. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Schweizerische Mobiliar  
Versicherungsgesellschaft AG, 
Bundesgasse 35, 3011 Bern, 
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Künzi-Egli, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Kanton Zug, 
Direktion des Innern, Kantonales Sozialamt, 
Neugasse 2, 6300 Zug, 
Beschwerdegegner, 
 
Ausgleichskasse Zug, 
Baarerstrasse 11, 6300 Zug. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung 
(Hinterlassenenrente; Rückerstattung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 3. März 2022 (S 2020 57). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.A.________, geboren 1965, war seit 2003 als Küchenhilfe bei B.________ tätig und dadurch bei der Schweizerischen Mobiliar Versicherungsgesellschaft AG (im Folgenden: Mobiliar oder Beschwerdeführerin) gegen die Folgen von Unfällen versichert. Er wurde am 25. Juni 2006 getötet. Mit Verfügung vom 5. Dezember 2008 sprach die Mobiliar der zu diesem Zeitpunkt im Ausland wohnhaften A.B.________ rückwirkend ab 1. Juli 2006 eine Witwenrente und ihren fünf Kindern eine Waisenrente der Unfallversicherung zu. Im Jahr 2010 reisten die Hinterbliebenen des Versicherten in die Schweiz ein und stellten ein Asylgesuch. Mit der Zuweisung an den Kanton Zug übernahm die Abteilung Soziale Dienste Asyl deren Einkommens- und Vermögensverwaltung. Die Ausgleichskasse Zug sprach ihnen per 1. Mai 2010 Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung zu (Verfügung vom 22. Oktober 2010). Nach verschiedenen Abklärungen berechnete die Mobiliar die UVG-Komplementärrenten neu und forderte wegen bislang unterbliebener Berücksichtigung der Hinterlassenenrenten der AHV von der Abteilung Soziale Dienste Asyl den Betrag von Fr. 117'326.65 zurück (Verfügung vom 16. August 2019), was diese beziehungsweise das kantonale Sozialamt Zug als übergeordnete Verwaltungseinheit verweigerte. Die Mobiliar hielt an genannter Rückerstattungsforderung gegenüber dem kantonalen Sozialamt Zug fest (Einspracheentscheid vom 18. März 2020). 
 
B.  
Eine hiergegen erhobene Beschwerde der kantonalen Direktion des Innern hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug gut, indem es den Einspracheentscheid der Mobiliar vom 18. März 2020 ersatzlos aufhob (Urteil vom 3. März 2022). 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Mobiliar beantragen, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 18. März 2020 zu bestätigen. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die Vorinstanz und die Ausgleichskasse Zug beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen. Der Kanton Zug, vertreten durch die Direktion des Innern, schliesst auf Beschwerdeabweisung, soweit darauf einzutreten sei. 
Die Beschwerdeführerin äussert sich mit unaufgeforderter Eingabe dahingehend, dass eine materielle Beurteilung der Streitsache selbst im Falle einer möglichen Aufhebung aus formellen Gründen infolge fehlerhafter Besetzung der Vorinstanz aus prozessökonomischen Gründen wünschenswert sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist es jedoch nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 i.V.m. Art. 105 Abs. 3 BGG; vgl. BGE 140 V 136 E. 1.2.1).  
 
1.3. Soweit die Beschwerdeführerin ihreerst nach Ablauf der Beschwerdefrist erhobene Rüge der Verletzung des verfassungsmässigen Anspruchs auf ein korrekt besetztes Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV) mit neuen Tatsachen und Beweismitteln begründet, ist darauf hinzuweisen, dass solche nach Art. 99 Abs. 1 BGG nur so weit vorgebracht werden dürfen, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt. Vorbehalten bleiben Nichtigkeitsgründe, die hier jedoch nicht gegeben sind (vgl. BGE 144 IV 35 E. 2.1; 140 II 141 E. 1.1; 136 I 207 E. 5.6; SVR 2019 IV Nr. 42 S. 136 E. 3.1; Urteil 4A_97/2011 vom 22. März 2011 E. 5.5). In der Beschwerde ist darzutun, inwiefern die Voraussetzung für die ausnahmsweise Zulässigkeit neuer Vorbringen gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG erfüllt ist (BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen). Die Verletzung einer kantonalrechtlich statuierten Wohnsitzpflicht für Richterinnen und Richter prüft das Bundesgericht nicht von Amtes wegen (vgl. BGE 144 IV 35 E. 2.1; 140 II 141 E. 1.1). Vielmehr hat eine Verfahrenspartei, die vor Abschluss des bundesgerichtlichen Verfahrens einen Grund entdeckt, der ihres Erachtens die Revision des vorinstanzlichen Entscheids begründet, ein Revisionsgesuch bei der Vorinstanz und einen Sistierungsantrag beim Bundesgericht zu stellen (vgl. BGE 147 I 173 E. 4.1.2; 144 IV 35 E. 2.1). Da die Beschwerdeführerin ausdrücklich davon absieht, ist auf ihr diesbezügliches Vorbringen nicht einzugehen (vgl. BGE 138 II 386 E. 5-7; Urteile 1C_552/2020 vom 8. Februar 2022 E. 2.2; 9C_812/2018 vom 11. Juni 2019 E. 1.1.1; 9C_291/2017 vom 18. Dezember 2017 E. 3.1).  
 
2.  
 
2.1. Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten (Art. 25 Abs. 1 erster Satz ATSG). Nach Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG (in der hier anwendbaren, bis Ende Dezember 2020 geltenden Fassung, welche in der Folge in dieser Version wiedergegeben wird; vgl. dazu: BGE 144 V 210 E. 4.3.1 mit Hinweisen) erlischt der Rückforderungsanspruch mit Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Es handelt sich um Verwirkungsfristen (BGE 148 V 217 E. 2.1; 146 V 217 E. 2.1; 140 V 521 E. 2.1).  
 
2.2. Ob respektive inwieweit die Rückforderung verwirkt ist, stellt eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage dar (BGE 148 V 217 E. 2.2).  
 
3.  
 
3.1. Strittig ist, ob der Rückforderungsanspruch der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt seiner Geltendmachung bereits verwirkt war. Zu prüfen ist insbesondere, wann die einjährige relative Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG einsetzte.  
 
3.2. Hingegen sind weder der Umfang des Rückforderungsanspruchs der Mobiliar gegenüber dem kantonalen Sozialamt Zug in der Höhe von Fr. 117'326.65 an sich noch der Sachverhalt, wie ihn die Vorinstanz feststellte, weiter strittig.  
 
4.  
Die Vorinstanz stellte für die Berechnung des Fristenlaufs auf die E-mail vom 8. Juli 2018 ab, mit welcher die Beiständin von A.C.________, einer Tochter des verstorbenen Versicherten, der Mobiliar den Umstand der Auszahlung respektive die Einstellung der Hinterlassenenrente der AHV mitgeteilt habe. Damit habe sich die Beiständin bei der Mobiliar informieren wollen, ob auch die von ihr ausgerichtete Waisenrente eingestellt werde. Am Folgetag, so das kantonale Gericht, habe die Mobiliar geantwortet, die UV-Rente sei infolge Lehrabbruchs ebenfalls eingestellt worden. Erst am 12. Februar 2019 habe sich die Beschwerdeführerin dann bei der Ausgleichskasse Zug nach den Verfügungen betreffend die Hinterlassenenrenten der AHV erkundigt, die ihr gleichentags zugesandt worden seien. Bei grosszügiger Hinzurechnung einer Abklärungsfrist von drei Wochen, innert der die Mobiliar den Rückforderungsanspruch nach Auffassung der Vorinstanz hätte genauer prüfen müssen, habe die relative einjährige Verwirkungsfrist am 1. August 2018 zu laufen begonnen und am 31. Juli 2019 geendet. Da die Mobiliar die Rückerstattung in der hierfür nach Art. 3 Abs. 1 ATSV ordnungsgemäss vorgesehenen Form erst am 16. August 2019 verfügt habe, sei die Frist nicht eingehalten worden und ihr Anspruch verwirkt. 
 
5.  
 
5.1. Das Bundesgericht äusserte sich in Bezug auf Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG jüngst grundsätzlich sowohl zur Frage nach dem Beginn der Verwirkungs- als auch zur Dauer der Abklärungsfrist. Es hielt unter anderem fest, dass die einjährige relative Verwirkungsfrist (vgl. E. 2.1 hiervor) im Zeitpunkt der zumutbaren Kenntnisnahme einsetzen könne. Die Verwaltung solle zwar eine angemessene Zeit für nähere Abklärungen (betreffend Grundsatz, Ausmass oder Adressat) erhalten, wenn und soweit sie über hinreichende, aber noch unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch verfüge. Unterlasse sie dies, so sei der Beginn der relativen Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die rückfordernde Behörde ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz derart zu ergänzen im Stande gewesen sei, dass der Rückforderungsanspruch habe geltend gemacht werden können. Ergebe sich jedoch die Unrechtmässigkeit der Leistungserbringung direkt aus den Akten, so beginne die einjährige Frist in jedem Fall sofort, ohne dass Zeit für eine weitere Abklärung zugestanden würde (vgl. zum Ganzen BGE 148 V 217 E. 5, insb. E. 5.2.2 mit zahlreichen Hinweisen).  
 
5.2. Indem die Beschwerdeführerin mit E-mail vom 8. Juli 2018 von der an A.C.________ ausgerichteten Hinterlassenenrente der AHV erfuhr und sie deren Beiständin tags darauf antwortete, die Waisenrente der Unfallversicherung sei ebenfalls eingestellt worden, verfügte sie am 9. Juli 2018 über hinreichende Hinweise für einen möglichen Rückforderungsanspruch. Dies gilt nicht einzig in Bezug auf die Leistungsbezügerin A.C.________, sondern auch auf die übrigen Hinterbliebenen des Versicherten, da die Ausrichtung von Hinterlassenenrenten der AHV an die weiteren Familienmitglieder bei einer solchen Ausgangslage naheliegend und darum näher zu prüfen ist. Weil die Hinweise zu jener Zeit aber noch unvollständig waren, gewährte die Vorinstanz der Mobiliar eine Frist von drei Wochen für nähere Abklärungen (vgl. E. 4 hiervor). Im oben genannten Leitentscheid sah das Bundesgericht davon ab, die dem Versicherungsträger unter derartigen Umständen zuzugestehende Dauer für weitere Abklärungen, etwa in Bezug auf das konkrete Ausmass der Rückforderung oder die Adressaten der Rentenleistungen, allgemein-abstrakt festzulegen; sie hat mit Blick auf die konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls angemessen zu sein (vgl. BGE 148 V 217 E. 5.2.2; 112 V 180 E. 4b; SVR 2013 IV Nr. 24 S. 66, 9C_454/2012 E. 4, nicht publ. in: BGE 139 V 106; SVR 2001 IV Nr. 30 S. 93, I 609/98 E. 2e; Urteil 9C_511/2017 vom 6. September 2017 E. 2). Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin gelangt die Art. 53 ATSG zugrunde liegende Revisionsfrist von 90 Tagen (vgl. BGE 143 V 105 E. 2.1) hier nicht analog zur Anwendung. Vielmehr bringt die Beschwerdeführerin keine stichhaltigen Gründe vor, warum im gegebenen Fall eine länger als drei Wochen dauernde Abklärungsfrist Platz greifen soll. Solche Gründe sind denn auch nicht ersichtlich. Die von der Vorinstanz vertretene Auffassung, eine Dauer von drei Wochen sei in der gegebenen Konstellation ausreichend, um die zur Neuberechnung der Komplementärrente nötigen Verfügungen einzuholen und allenfalls weitere Abklärungen hierzu zu treffen, ist im Lichte der einschlägigen Rechtsprechung jedenfalls nicht zu beanstanden.  
 
5.3. Demnach begann die Verwirkungsfrist am 1. August 2018 zu laufen und endete am 31. Juli 2019. Die Rückforderungsverfügung der Beschwerdeführerin (vgl. Art. 49 Abs. 4 ATSG) erging am 16. August 2019, als ihr Rückforderungsanspruch bereits verjährt war. Die Beschwerde ist folglich abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist (vgl. E. 1.3 hiervor).  
 
6.  
Ausgangsgemäss sind die Verfahrenskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 5000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse Zug, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, A.B.________ und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. November 2022 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Cupa