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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_910/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 29. Dezember 2017  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin Jametti, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Dieter Roth, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
2. X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rolf Stephani, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Widerhandlung gegen das Tierschutz- und Hundegesetz; Willkür, rechtliches Gehör, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, vom 13. Juni 2017 (SST.2017.20 /BB/rd). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
X.________ nahm am 30. November 2013 mit mehreren Hunden an einer Gesellschaftsjagd (Treibjagd) teil. Einer seiner Hunde hat in der Umgebung eines Bauernhofs eine Ziege gebissen und schwer verletzt. Das Tier musste eingeschläfert werden. 
Die Halterin der Ziege, A.________, zeigte X.________ an. Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg verurteilte ihn mit Strafbefehl vom 23. September 2015 wegen Missachtung von Vorschriften zur Tierhaltung (Aufsicht und Verantwortung als Hundehalter) zu einer Busse von Fr. 300.--. 
X.________ erhob Einsprache. Nachdem die Staatsanwaltschaft am Strafbefehl festhielt, kam es zu einem Hauptverfahren vor Bezirksgericht Rheinfelden. Dieses sprach den Beschuldigten von den Vorwürfen der fahrlässigen Widerhandlung gegen das Tierschutzgesetz und der Widerhandlung gegen das Hundegesetz frei. Die Schadenersatzforderungen von A.________ verwies es auf den Zivilweg (Urteil vom 14. September 2016). 
 
B.  
A.________ führte Berufung und beantragte, X.________ sei schuldig zu sprechen und zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von Fr. 5'070.-- an sie zu verurteilen. Das Obergericht des Kantons Aargau wies das Rechtsmittel vornehmlich mit der Begründung ab, die Erfordernisse des Anklagegrundsatzes seien nicht erfüllt (Urteil vom 13. Juni 2017). 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
X.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie einzutreten sei. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in Strafsachen ist in erster Linie ein reformatorisches Rechtsmittel (Art. 107 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeschrift muss daher grundsätzlich einen Antrag in der Sache enthalten (Art. 42 Abs. 1 BGG). Aufhebungsanträge oder Anträge auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung allein genügen nicht. Allerdings reicht ein Begehren ohne Antrag in der Sache aus, wenn sich aus der Begründung zweifelsfrei ergibt, was mit der Beschwerde angestrebt wird (BGE 137 II 313 E. 1.3 S. 317; Urteil 6B_1168/2016 vom 17. März 2017 E. 1). Ein blosser Rückweisungsantrag genügt ohnehin, wenn das Bundesgericht im Falle einer Gutheissung in der Sache nicht selbst entscheiden könnte (vgl. Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 134 III 379 E. 1.3 S. 383; 133 III 489 E. 3.1 S. 490 mit Hinweisen; Urteile 6B_114/2013 vom 1. Juli 2013 E. 1 und 6B_78/2009 vom 22. September 2009 E. 7.2.1). Die Beschwerdeführerin will ein neues Urteil auf der Grundlage eines antragsgemäss ergänzten Beweisverfahrens erwirken. Dem könnte von vornherein nicht auf dem Weg einer reformatorischen Entscheidung entsprochen werden. Unter dem Aspekt des Rechtsbegehrens ist daher auf die Beschwerde einzutreten.  
 
1.2. Die Beschwerdeführerin hat im kantonalen Verfahren Zivilforderungen geltend gemacht, welche auf den Zivilweg verwiesen wurden. Sie hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, zumal dieser sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Sie ist daher berechtigt, Beschwerde in Strafsachen zu führen.  
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz verletze Bundesrecht, indem sie den erstinstanzlichen Freispruch vom Vorwurf der Missachtung von Bestimmungen über die Tierhaltung mit der Begründung schütze, der Anklagesachverhalt sei mangelhaft umschrieben; aus der Anklageschrift gehe nicht hervor, was dem Beschuldigten konkret vorgeworfen werde. Da der Gegenstand des Verfahrens genügend bestimmt sei, bestehe kein Grund, auf die Abnahme der im kantonalen Prozess gestellten Beweisanträge zu verzichten. Dies sei nachzuholen und gestützt auf das Beweisergebnis in der Sache neu zu entscheiden.  
 
 
2.2.  
 
2.2.1. Hält die Staatsanwaltschaft nach einer Einsprache am Strafbefehl fest und überweist sie die Akten dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens, dient der Strafbefehl als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 StPO).  
 
2.2.2. Die Anklageschrift bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 Abs. 1 StPO). Die Staatsanwaltschaft muss die Delikte, welche der beschuldigten Person zur Last gelegt werden, sachverhaltlich so präzise umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Weiter schützt das Anklageprinzip die Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 141 IV 132 E. 3.4.1 S. 143). Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO konkretisiert diese Erfordernisse dahin, dass die Anklageschrift die vorgeworfenen Taten "möglichst kurz, aber genau" mit Angabe von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung beschreibt.  
 
2.2.3. Mithin muss die Anklageschrift sichtbar machen, welcher konkrete Lebenssachverhalt zur Anklage gebracht wird (BGE 140 IV 188 E. 1.5 S. 191). Auszugehen ist von den Elementen tatsächlicher Natur des anzuwendenden Straftatbestandes. Die Anklage stützt sich hier auf Art. 28 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 des Tierschutzgesetzes vom 16. Dezember 2005 (TschG, SR 455), wonach mit Busse bestraft wird, wer fahrlässig Vorschriften über die Tierhaltung missachtet. Nach Art. 77 der Tierschutzverordnung vom 23. April 2008 (TschV, SR 455.1) hat, wer einen Hund hält oder ausbildet, Vorkehrungen zu treffen, damit der Hund Menschen und Tiere nicht gefährdet. § 5 Abs. 1 lit. a des aargauischen Hundegesetzes vom 15. März 2011 [HuG; 393.400]) entspricht inhaltlich im Wesentlichen Art. 77 TschV. § 6 Abs. 2 der Verordnung zum Hundegesetz (HuV; 393.411) konkretisiert den tierschutzrechtlichen Grundsatz dahin, dass die mit der Aufsicht über einen Hund betraute Person mit allen möglichen Mitteln einzugreifen hat, wenn dieser einen Menschen oder ein Tier angreift.  
 
2.2.4. Hinsichtlich der Sicherungspflichten des Hundehalters geht das kantonale Recht, soweit hier interessierend, nicht wesentlich über die bundesrechtlichen Vorschriften hinaus. Daher braucht im Folgenden nicht nach kantonalem und Bundesrecht differenziert zu werden, was das anwendbare Strafprozessrecht und die bundesgerichtliche Überprüfungsbefugnis angeht (vgl. dazu Urteil 6B_1410/2016 vom 8. Mai 2017 E. 1 mit Hinweisen).  
 
2.3. Hinsichtlich der in der Anklageschrift notwendig darzustellenden Elemente kommt die Vorinstanz zum Schluss, im Strafbefehl werde nicht aufgezeigt, welche Vorkehrungen der Beschuldigte im konkreten Fall hätte treffen müssen, um die Ziegen der Zivil- und Strafklägerin, die sich nach Darstellung der Anklage freilaufend im Wald und nicht in ihrem Gehege aufgehalten hätten, vor einer Gefährdung durch Jagdhunde zu schützen. Ebensowenig werde dargelegt, ob resp. weshalb der Beschuldigte anlässlich der Jagd am 30. November 2013 mit freilaufenden Hausziegen im Wald hätte rechnen müssen. Auch ergebe sich nicht, inwiefern der Beschuldigte der Pflicht nach § 6 Abs. 2 HuV zuwidergehandelt haben sollte, "mit allen möglichen Mitteln" einzugreifen, wenn der zu beaufsichtigende Hund einen Menschen oder ein Tier angreift. Die Anklageschrift genüge daher den Anforderungen nach Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO nicht.  
 
2.4. Die Sachverhaltsumschreibung des Strafbefehls muss den Anforderungen an eine Anklage genügen (Art. 353 Abs. 1 lit. c in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO). Mit anderen Worten sind an die Anklageschrift nicht geringere Anforderungen zu stellen, wenn sie von einem Strafbefehl herrührt (vgl. oben E. 2.3.1 f.; NIGGLI/HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2014, N. 61a zu Art. 9 StPO; Urteil 6B_848/2013 vom 3. April 2014 E. 1.3.1). Die vorinstanzliche Folgerung - welcher sich der Beschwerdegegner 2 in seiner Beschwerdeantwort anschliesst -, wonach der zur Anklageschrift mutierte Strafbefehl nicht alle tatbestandsrelevanten tatsächlichen Elemente schildert und somit das Anklageprinzip verletzt, ist richtig.  
Über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache entscheidet das erstinstanzliche Gericht von Amtes wegen (Art. 356 Abs. 2 StPO). Ungültig ist ein Strafbefehl nicht nur bei formellen Mängeln, sondern auch bei inhaltlichen, namentlich wenn kein im Sinne von Art. 352 Abs. 1 StPO ausreichend geklärter Sachverhalt vorliegt (erwähntes Urteil 6B_848/2013 E. 1.3.2). Die Prüfung erfolgt vorfrageweise (Art. 329 Abs. 1 lit. a resp. Art. 339 Abs. 2 lit. a StPO). Daher besteht entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners 2 noch kein Raum für eine Anwendung von Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO, wonach die Anklage nach der Behandlung allfälliger Vorfragen in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht mehr zurückgezogen und unter Vorbehalt von Art. 333 StPO auch nicht mehr geändert werden kann. Ebensowenig ist das Immutabilitätsprinzip (Art. 350 Abs. 1 StPO) tangiert. Erachtet das erstinstanzliche Gericht den Strafbefehl für ungültig, hebt es ihn auf und weist den Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurück (vgl. Art. 356 Abs. 5 StPO; erwähntes Urteil 6B_848/2013 E. 1.3.2 mit Hinweisen). Nachdem dies nicht geschehen ist, hätte die Vorinstanz den erstinstanzlichen Entscheid aufheben und eine bundesrechtskonforme Vervollständigung der Anklageschrift veranlassen müssen (vgl. Art. 409 Abs. 1 StPO). Dabei hätte sie die Rückweisung mit Feststellungen und allfälligen Vorgaben hinsichtlich der gestellten Beweisanträge verbinden können (Art. 409 Abs. 2 und 3 StPO). Ob die Vorinstanz als Berufungsgericht auch die Möglichkeit hatte, die Sache direkt an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen (dazu NIGGLI/HEIMGARTNER, a.a.O., N. 63b zu Art. 9 StPO), kann hier offen bleiben. 
 
2.5. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird vorweg beurteilen, ob die im kantonalen Verfahren beantragten Beweisvorkehren notwendig sind, um die sachverhaltlichen Lücken in der Anklageschrift zu schliessen, oder ob sie dem allenfalls fortzusetzenden erstinstanzlichen Prozess vorbehalten bleiben. Anschliessend wird die Vorinstanz die Sache zur Vervollständigung der Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft zurückweisen.  
 
3.  
Die Beschwerde ist im Ergebnis gutzuheissen. Der Beschwerdegegner 2 wird als unterliegende Partei kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Kanton Aargau trägt keine Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau und der Beschwerdegegner 2 haben die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. Urteil 6B_132/2016 vom 16. August 2016 E. 5). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 13. Juni 2017 wird aufgehoben und die Sache zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdegegner 2 auferlegt. 
 
3.  
Der Kanton Aargau und der Beschwerdegegner 2 haben der Beschwerdeführerin je eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 29. Dezember 2017 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub