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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
C 286/06 
 
Urteil vom 17. April 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger, 
Gerichtsschreiberin Heine. 
 
Parteien 
J.________, 1960, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, Lausannegasse 18, 1700 Freiburg, 
 
gegen 
 
beco Berner Wirtschaft, Arbeitslosenkasse, 
Zentrale Dienste, Lagerhausweg 10, 3018 Bern, Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Arbeitslosenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 23. Oktober 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1960 geborene J.________ war seit 27. Januar 1995 in der Firma X.________ AG als Raumpflegerin tätig gewesen. Die Versicherte erhob am 20. Oktober 2004 ab 9. September 2004 Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Vom 1. September bis 30. November 2005 war sie zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben. In der Folge verneinte das beco Berner Wirtschaft, Arbeitslosenkasse, nach Ausschöpfung der Krankentaggelder ab 29. September 2005 den Anspruch auf weitere Arbeitslosentaggelder (Verfügung vom 24. Oktober 2005). Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 8. März 2006 fest. 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 23. Oktober 2006). 
C. 
J.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit folgendem Rechtsbegehren: 
"Hauptantrag: 
1. Es seien die Ziff. 1 des vorinstanzlichen Urteils vom 23. Oktober 2006 und der Einspracheentscheid vom 8. März 2006 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, rückwirkend per 29. September 2005 Taggelder auszurichten. 
2. Es sei Ziff. 2 des vorinstanzlichen Urteils aufzuheben und die beiden Vorinstanzen zu verpflichten, der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege unter Beiordnung des unterzeichnenden Rechtsanwalts zu gewähren. 
Eventualiterantrag: 
3. Die Angelegenheit sei aufzuheben und der Vorinstanz zur Neubeurteilung zu unterbreiten, unter Berücksichtigung der untenstehenden Erwägungen: 
Zudem versehen mit folgenden Verfahrensanträgen: 
4. Es sei der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und ihr in der Person des Unterzeichnenden unentgeltlich ein Rechtsvertreter beizuordnen. 
5. Es sei ein zweiter Schriftenwechsel anzuordnen." 
Die Arbeitslosenkasse und das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Entscheid am 23. Oktober 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
2. 
In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt die Beschwerdeführerin einen zweiten Schriftenwechsel nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK und macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend. 
2.1 Gemäss Art. 110 Abs. 4 OG findet ein zweiter Schriftenwechsel nur ausnahmsweise statt. Er ist nach den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs insbesondere zu gewähren, wenn in der Vernehmlassung der Gegenpartei oder der Mitbeteiligten neue tatsächliche Behauptungen aufgestellt werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres aktenkundig ist und die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung sind (BGE 119 V 317 E. 1 S. 323). Entsprechende Umstände fehlen, weshalb dem diesbezüglichen Antrag der Beschwerdeführerin nicht stattgegeben werden kann. Dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Erfordernis, sich zu Eingaben der Gegenpartei äussern zu können, ist Genüge getan, indem die Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme und allfälligen Stellungnahme zugestellt wurde (vgl. BGE 132 I 42 E. 3 S. 43 ff.). 
2.2 Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann in der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin nicht explizit Fragen an ihren Hausarzt hat richten können, nicht erblickt werden. Im vorliegenden Fall handelt es sich um Abklärungsfragen, wie sie der Versicherungsträger vorzunehmen hat. Die Verwaltung war auch nicht verpflichtet, die Beschwerdeführerin vor Erlass der Verfügung zum Inhalt des Arztberichtes anzuhören, zumal im Rahmen des Einspracheverfahrens sämtliche Akten dem Rechtsvertreter der Versicherten ohnehin zugestellt worden waren (Art. 42 Satz 2 ATSG; BGE 132 V 368 E. 7 S. 375). 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über die Vermittlungsfähigkeit im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 lit. f und Art. 15 Abs. 1 AVIG) und bezüglich Behinderter (vgl. zu diesem Begriff ARV 1999 Nr. 19 S. 106 Erw. 2) im Besonderen (Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 AVIV; vgl. Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Auflage, S. 2264 Rz 279 ff.) sowie die hierzu ergangene Rechtsprechung (BGE 125 V 51 E. 6a S. 58, 123 V 214 E. 3 S. 216, je mit Hinweis) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
3.2 Invalidenversicherung und Arbeitslosenversicherung sind nicht in dem Sinne komplementäre Versicherungszweige, dass der vom Erwerbsleben ausgeschlossene Versicherte sich in jedem Fall entweder auf Invalidität oder aber auf Arbeitslosigkeit berufen könnte. Wer trotz eines schweren Gesundheitsschadens invalidenversicherungsrechtlich nicht in rentenbegründendem Masse erwerbsunfähig (invalid) ist, kann gleichwohl arbeitslosenversicherungsrechtlich gesehen vermittlungsunfähig sein (BGE 109 V 29). Abgesehen davon, dass für die jeweiligen Ansprüche zweigspezifische Voraussetzungen bestehen, bedeutet dies im Hinblick auf den hier zu prüfenden Gesundheitsschaden und die daraus folgende Einschätzung der Restarbeitsfähigkeit resp. der Vermittlungsfähigkeit, dass wegen oder trotz ein und desselben Gesundheitsschadens nicht in jedem Fall entweder Leistungen der Invalidenversicherung oder aber der Arbeitslosenversicherung geschuldet sind, sondern es kann auch der Fall eintreten, dass kein Anspruch oder aber Ansprüche gegenüber beiden Zweigen der Sozialversicherung bestehen. So stützt sich die Invalidenversicherung für die Prüfung eines Leistungsanspruchs auf die Arbeitsfähigkeit, während in der Arbeitslosenversicherung die Vermittlungsfähigkeit massgebend ist, wonach der Versicherte bereit, in der Lage und berechtigt sein muss, eine zumutbare Arbeit anzunehmen (Art. 15 Abs. 1 AVIG; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgericht C 282/05 vom 3. März 2006 E. 2.3). 
4. 
Streitig ist, ob der Beschwerdeführerin ab 29. September 2005 wegen Vermittlungsunfähigkeit zu Recht der Anspruch auf Taggelder verneint wurde. 
4.1 Mit der Vorinstanz steht fest, dass die Beschwerdegegnerin zu Gunsten der Beschwerdeführerin von einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit ausging, was zur Folge hatte, dass nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 30. August 2005 gemäss Art. 28 Abs. 1 AVIG noch 30 Krankentaggelder ausbezahlt wurden. Das kantonale Gericht geht gestützt auf die Atteste des Hausarztes Dr. med. B.________ vom 2. und 19. September, 19. Oktober 2005 und 2. März 2006 von einer hinreichend dokumentierten und zumindest vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit aus. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird behauptet, dass gestützt auf die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung (Art. 70 ATSG) von der Vermittlungsfähigkeit auszugehen sei, welche nur durch ein Gutachten in Abrede gestellt werden könne. 
4.2 Gemäss Art. 15 Abs. 3 AVIV gilt eine behinderte Person solange als vermittlungsfähig, als nicht eine offensichtliche Vermitlungsunfähigkeit festgestellt ist. "Offensichtlich" vermittlungsunfähig bedeutet, entgegen der Auffassung in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, dass die Vermittlungsunfähigkeit auf Grund der Akten der Arbeitslosenversicherung, allenfalls gestützt auf Ermittlungen anderer Sozialversicherungsträger oder auf Grund anderer Umstände ohne weitere Abklärungen ersichtlich ist (ARV 2002 S. 238; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts C 77/01 vom 8. Februar 2002). Gemäss den Unterlagen verlor die Versicherte per 31. Januar 2004 wegen Krankheit ihre Stelle bei der letzten Arbeitgeberin. Nachdem die Anmeldung zum Bezug von Taggeldern der Arbeitslosenversicherung ab 9. September 2004 erfolgt war, stellte ihr Hausarzt mit Bericht vom 23. Dezember 2004 eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % fest, wobei sich die Patientin - gemäss Aussagen des Arztes - selbst als nicht arbeitsfähig erachtete. Mit Arztbericht vom 24. November 2004 wurde die 50%ige Arbeitsunfähigkeit bestätigt. Gemäss ärztlichem Attest vom 8. Dezember 2004 war die Versicherte infolge eines Unfalles vom 20. November bis 8. Dezember 2004 zu 100 % arbeitsunfähig. Nach einem gescheiterten Arbeitsversuch bescheinigte ihr Dr. med. B.________ erneut eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit ab 26. März 2005. In einem Schreiben vom 18. Mai 2005 vertritt der Hausarzt die Ansicht, der Patientin könne keine Arbeit zugemutet werden; auch ein erneuter Arbeitsversuch komme nicht in Frage. Gemäss Schreiben des Dr. med. B.________ vom 2. März 2006 war die Versicherte für die Dauer vom 1. September bis 30. November 2005 zu 100 % arbeitsunfähig, wobei er festhält, dass die Versicherte auch zukünftig vermittlungsunfähig sei. Unter den geschilderten Umständen gingen Vorinstanz und Verwaltung zu Recht von einer offensichtlichen Arbeitsunfähigkeit aus. Dass zu Gunsten der Versicherten vorerst eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit angenommen wurde und noch Krankentaggelder ausbezahlt wurden, ändert daran nichts (Art. 28 Abs. 1 AVIG). 
4.3 Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin bedeutet sodann die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung gemäss der Vermutung von Art. 15 Abs. 3 AVIV nicht die vorbehaltlose Zusprechung von Arbeitslosentaggeld bis zum rechtskräftigen Entscheid der Invaliden- oder Unfallversicherung. Damit wird verkannt, dass zur Vermittlungsfähigkeit nicht nur die Arbeitsfähigkeit im objektiven Sinne gehört, sondern subjektiv auch die Bereitschaft, die eigene Arbeitskraft entsprechend den persönlichen Verhältnissen während der üblichen Arbeitszeit einzusetzen. Wesentliches Merkmal der Vermittlungsbereitschaft ist dabei die Bereitschaft zur Annahme einer Dauerstelle als Arbeitnehmerin (Nussbaumer, a.a.O., S. 2261 Rz 270). Dieses subjektive Element ist auch bei der Überprüfung der Vermittlungsfähigkeit behinderter Personen zu beachten. Ebenso unterliegt die Beschwerdeführerin der arbeitslosenversicherungsrechtlichen Pflicht, sich im beantragten Rahmen um Arbeit zu bemühen und dies nachzuweisen (Art. 17 Abs. 1 AVIG). Der Einwand, die Abmeldung sei seitens des RAVs erfolgt, verfängt daher ebenfalls nicht, denn es wäre Sache der Versicherten gewesen, ihre Vermittlungsbereitschaft darzutun und den Nachweis einer mindestens 50%igen Arbeitsfähigkeit zu erbringen, zumal sie ab Oktober 2005 auch die Kontrollvorschriften nicht mehr erfüllte. 
5. 
5.1 Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos. 
5.2 Nach Gesetz (Art. 152 OG) und Praxis sind in der Regel die Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung erfüllt, wenn der Prozess nicht aussichtslos erscheint, die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch geboten ist (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Nachdem die Vorinstanz in ihrem Entscheid die Sachverhalts- und Rechtslage einlässlich darlegte und begründete und in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde dagegen nichts Erhebliches vorgebracht wird, war diese von vornherein aussichtslos. Dem Gesuch um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes ist darum nicht stattzugeben. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, dem beco Berner Wirtschaft, Abteilung Arbeitsvermittlung, Rechtsdienst, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt. 
Luzern, 17. April 2007 
 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: