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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_717/2023  
 
 
Urteil vom 28. Februar 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Wyssmann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Solothurn, 
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 6. Oktober 2023 (VSBES.2023.14). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1986 geborene A.________ hatte sich am 1. November 2018 unter Hinweis auf eine Venenoperation und einen Bandscheibenvorfall erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Nach Einholung eines polydisziplinären Gutachtens der PMEDA Polydisziplinäre Medizinische Abklärungen, Zürich, vom 15. Juli 2021 verneinte die IV-Stelle des Kantons Solothurn mit in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 7. Juni 2022 den Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Invalidenrente.  
 
A.b. Auf die Neuanmeldung vom 23. August 2022 trat die IV-Stelle nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 1. Dezember 2022 mangels glaubhaft gemachter Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht ein.  
 
B.  
A.________ liess hiegegen Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung der Verfügung vom 1. Dezember 2022 sei die IV-Stelle anzuweisen, auf den mit der Neuanmeldung geltend gemachten Leistungsanspruch einzutreten und diesen materiell zu prüfen; eventualiter sei die Sache zur weiteren Prüfung der Eintretensfrage und anschliessendem Entscheid darüber an die IV-Stelle zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht liess sie den Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK stellen. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die Beschwerde sowie den Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung mit Urteil vom 6. Oktober 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Beschwerdesache sei zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und zum Neuentscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventualiter sei die IV-Stelle anzuweisen, auf das neue Leistungsgesuch vom 23. August 2022 einzutreten und dieses materiell zu prüfen. 
Während das Versicherungsgericht die Abweisung der Beschwerde beantragt, verzichten die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. 
 
2.  
Die Beschwerdeführerin rügt in formeller Hinsicht, das kantonale Gericht habe Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt, indem es trotz entsprechendem Antrag keine öffentliche Gerichtsverhandlung durchführte. 
 
2.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Die Öffentlichkeit des Verfahrens soll dazu beitragen, dass die Garantie auf ein "faires Verfahren" tatsächlich umgesetzt wird (BGE 142 I 188 E. 3.1.1 und 3.3). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1; 122 V 47 E. 3), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrags grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE 136 I 279 E. 1; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E. 1.2; je mit Hinweisen). Ein während des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag gilt dabei als rechtzeitig (BGE 134 I 331 E. 2.3; SVR 2020 IV Nr. 55 S. 188, 8C_751/2019 E. 3.3 mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen: SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 2.1 mit Hinweisen).  
 
2.2. Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann abgesehen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Als weiteres Motiv für die Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zutrifft, wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer Gutachten in der Regel nicht darunterfallen. Schliesslich kann das kantonale Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine solche aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen Rechtsbegehren der die Verhandlung beantragenden Partei zu entsprechen ist (BGE 136 I 279 E. 1 mit Hinweis auf BGE 122 V 47 E. 3b/ee und 3b/ff.; vgl. zum Ganzen: SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 2.2 mit Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Vorliegend sind zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK streitig (BGE 122 V 47 E. 2a mit Hinweisen). Der Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sinne der EMRK wurde in der im vorinstanzlichen Verfahren eingereichten Beschwerde unbestrittenermassen rechtzeitig gestellt. Das kantonale Gericht entsprach diesem Begehren nicht mit der Begründung, die Beschwerde sei als offensichtlich unbegründet anzusehen, da sie von vornherein nicht geeignet sei, die Verfügung vom 1. Dezember 2022 in Frage zu stellen.  
 
3.2. Von der beantragten öffentlichen Verhandlung hätte das kantonale Gericht nur bei Vorliegen von in Erwägung 2.2 hiervor genannten Gründen absehen dürfen. Soweit es sich diesbezüglich darauf beruft, es habe sich auch ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lassen, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet sei, kann ihm nicht gefolgt werden.  
 
3.2.1. Die Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung wegen offensichtlicher Unbegründetheit der Beschwerde ist gemäss Rechtsprechung nicht unproblematisch, weil damit bereits über die Streitsache entschieden wird, die Gegenstand einer allfälligen Verhandlung bilden würde. Wohl sind Konstellationen denkbar, in denen von einer öffentlichen Verhandlung zum vornherein keine Auswirkungen auf den zu fällenden Entscheid erwartet werden können und deren Anordnung deshalb im Hinblick auf die gebotene Verfahrensökonomie ohne Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK unterbleiben kann. Dies trifft sicher zu, wenn die Beschwerdeführung als mutwillig oder rechtsmissbräuchlich zu bezeichnen ist. Auch wenn ein überzeugend begründeter Verwaltungsakt mit nicht sachbezogenen Argumenten angefochten wird oder die erhobenen Einwände - selbst wenn sie an sich zutreffen würden - mangels Relevanz für die zu beurteilende Streitfrage am Ergebnis nichts zu ändern vermögen, kann von einer öffentlichen Verhandlung abgesehen werden. Dasselbe gilt, wenn ein vom Gesetz gar nicht vorgesehener Anspruch geltend gemacht wird oder wenn einzig eine Rechtsfrage zur Diskussion steht, deren Antwort sich bereits klar aus der veröffentlichten höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt. In solchen Fällen ist die Beschwerde im erstinstanzlichen Verfahren zum vornherein als aussichtslos zu qualifizieren, weshalb sich auch im Hinblick auf die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistete Verfahrensgarantie nicht beanstanden lässt, wenn das kantonale Gericht den Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ablehnt (BGE 136 I 279 E. 1; 122 V 47 E. 3b/cc und 3b/dd; SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.2.1 mit Hinweisen).  
 
3.2.2. Die bisher offen gelassene Frage, ob die Rechtsprechung in Bezug auf das Kriterium der offensichtlichen Unbegründetheit mit jener des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vereinbar ist (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.2.2), braucht auch im hier zu beurteilenden Fall, wie sich aus nachfolgender Erwägung ergibt, nicht abschliessend beantwortet zu werden.  
 
3.3. Im vorliegenden Verfahren geht es um den Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Rente der Invalidenversicherung aufgrund einer Neuanmeldung der Beschwerdeführerin vom 23. August 2022. Die Beschwerdegegnerin trat mit Verfügung vom 1. Dezember 2022 auf das neue Leistungsbegehren nicht ein, weil sich aus den eingereichten medizinischen Berichten keine Hinweise für eine dauerhafte anspruchsrelevante Verschlechterung des Gesundheitszustands ergeben hätten. Die Beschwerdeführerin machte vor Vorinstanz geltend, das Glaubhaftmachen einer gesundheitlichen Verschlechterung müsste bereits daher bejaht werden, weil mit der Neuanmeldung erstmals auch psychische Gründe für eine Erwerbsunfähigkeit geltend gemacht worden seien und die IV-Stelle die psychische Gesundheitslage zuvor nicht untersucht habe, weder im Rahmen des PMEDA-Gutachtens noch durch sonstige Abklärungen. Mit den eingereichten medizinischen Berichten, namentlich demjenigen des Psychiaters Dr. med. B.________, FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, sowie des Psychotherapeuten C.________ vom 13. August 2022 sei eine Verschlechterung mit möglicher Auswirkung auf den Leistungsanspruch gegenüber der Invalidenversicherung glaubhaft gemacht worden. Dies sei von der Beschwerdegegnerin implizit anerkannt worden, indem sie dazu Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 13. September 2022 und 1. Dezember 2022 eingeholt habe. Den im kantonalen Verfahren vorgebrachten Einwänden kann nicht von vornherein jegliche Bedeutung abgesprochen werden. Die Argumente waren sachbezogen und für die zu beurteilende Streitfrage grundsätzlich relevant. Wenn die Vorinstanz nach Würdigung der Sach- und Rechtslage zusammenfassend festhielt, die Beschwerdegegnerin sei mangels Glaubhaftmachung einer anspruchsrelevanten Veränderung des Gesundheitszustands zu Recht auf die Neuanmeldung nicht eingetreten und die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet, entschied sie damit bereits über die Streitsache, die Gegenstand der öffentlichen Verhandlung hätte bilden sollen. Selbst wenn das kantonale Gericht den entsprechenden Antrag unter Hinweis auf die offensichtliche Unbegründetheit der Beschwerde abwies, ist eine solche im Sinne von E. 3.2.1 hiervor in Anbetracht seiner vorgängigen materiellen Erwägungen jedenfalls nicht so eindeutig, dass deswegen auf die Durchführung einer beantragten öffentlichen Verhandlung verzichtet werden könnte.  
 
3.4. Andere Gründe, die das Absehen von der ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung rechtfertigen würden, werden im angefochtenen Urteil nicht erwähnt und sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere liegt unter den gegebenen Umständen kein ausschliesslich auf eine Beweisabnahme gerichtetes Begehren vor, worauf der Öffentlichkeitsgrundsatz tatsächlich keinen Anspruch einräumt (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.4 mit Hinweis).  
 
3.5. Zusammenfassend bestand für das kantonale Gericht keine Veranlassung und keine Rechtfertigung, von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ausnahmsweise abzuweichen. Indem die Vorinstanz dennoch auf eine solche verzichtete, wurde der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantie (vgl. auch Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 61 lit. a ATSG) nicht Rechnung getragen. Die Sache ist daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es diesen Verfahrensmangel behebt und die verlangte öffentliche Verhandlung durchführt. Danach wird es über die Beschwerde materiell neu befinden (vgl. SVR 2023 UV Nr. 18 S. 57, 8C_352/2022 E. 3.5).  
 
4.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 6. Oktober 2023 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. Februar 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch