Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
2P.199/2002 /bie 
 
Urteil vom 9. Dezember 2002 
II. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesrichter Wurzburger, Präsident, 
Bundesrichter Müller, Merkli. 
Gerichtsschreiber Küng. 
 
K.X.________, gesetzlich vertreten durch die Eltern, 
H. und S.X.________, 9000 St. Gallen, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Urs Glaus, Unterstrasse 15, Postfach, 9001 St. Gallen, 
 
gegen 
 
Schulrat der Stadt St. Gallen, p.A. Liana Ruckstuhl, 
Stadträtin, Neugasse 25, Postfach, 9004 St. Gallen, 
Bezirksschulrat St. Gallen, p.A. Ursula Eigenmann, 
Präsidentin, Postfach 153, 9004 St. Gallen, 
Erziehungsrat des Kantons St. Gallen, 
Regierungsgebäude, 9001 St. Gallen. 
 
Art. 19 und 29 Abs. 2 BV, Art. 6 EMRK (Schulausschluss), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Erziehungsrates des Kantons St. Gallen vom 16. August 2002. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der aus Kosovo stammende K.X.________ besuchte im Schuljahr 2001/2002 die sechste Klasse im Schulhaus Spelterini in St. Gallen. Wegen wiederholter verbaler und physischer Gewalt gegen Mitschüler sowie Sachbeschädigungen drohte ihm der Schulrat der Stadt St. Gallen (im Folgenden: Schulrat) am 6. Dezember 2001 den Schulausschluss an. Nach einer erneuten tätlichen Auseinandersetzung mit einem Mitschüler am 15. März 2002 schloss ihn der Schulrat mit Verfügung vom 20. März 2002 von der öffentlichen Schule aus; die Vormundschaftsbehörde wurde über den Ausschluss informiert. 
 
Mit Rekurs vom 22./26. März 2002 wandten sich die Eltern von K.X.________, H. und S.X.________, an den Bezirksschulrat St. Gallen (nachfolgend: Bezirksschulrat). Dieser hiess den Rekurs mit Entscheid vom 2. Mai 2002 gut und hob die Verfügung betreffend Ausschluss von der öffentlichen Schule auf. Er erkannte, K.X.________ werde nicht aus der Schule ausgeschlossen, sondern in einem geänderten schulischen Umfeld weiterbeschult. 
 
Der Erziehungsrat des Kantons St. Gallen (nachstehend: Erziehungsrat) hiess den gegen diesen Entscheid gerichteten Rekurs des Schulrates mit Beschluss vom 16. August 2002 gut, hob den Rekursentscheid des Bezirksschulrates auf und bestätigte die Verfügung des Schulrates vom 20. März 2002. 
B. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 12. September 2002 beantragt K.X.________ dem Bundesgericht, den Beschluss des Erziehungsrates aufzuheben. 
 
Der Schulrat und das Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen beantragen, die Beschwerde abzuweisen. Der Bezirksschulrat hat keine Vernehmlassung eingereicht. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide kann beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte geführt werden (Art. 84 Abs. 1 lit. a, Art. 86 Abs. 1 OG), soweit diesen der Charakter von individualrechtlichen Garantien zukommt (vgl. BGE 123 I 25 E. 1 mit Hinweis). Gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. c OG kann auch die Verletzung von Staatsverträgen gerügt werden, sofern es sich nicht um zivilrechtliche oder strafrechtliche Bestimmungen handelt. Der Beschwerdeführer kann sich dabei aber nur auf solche Normen berufen, die unmittelbar anwendbar sind bzw. die Rechtsstellung des Einzelnen direkt regeln (BGE 126 I 240 E. 2b). 
1.2 Der angefochtene Entscheid stützt sich in Bezug auf die Zuständigkeit des Erziehungsrates des Kantons St. Gallen auf Art. 130 Abs. 1 lit. b VSG/SG. Nach Absatz 3 dieser Bestimmung entscheidet der Erziehungsrat endgültig. Demgegenüber sieht Art. 59bis des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons St. Gallen vor, dass Entscheide des Erziehungsrates der Beschwerde an das Verwaltungsgericht unterliegen. Beide Bestimmungen wurden mit dem III. Nachtragsgesetz zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 9. November 1995 und damit gleichzeitig neu eingefügt. Gemäss Art. 125 VSG/SG richtet sich die Rechtspflege nach dem Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, soweit das VSG/SG nichts anderes bestimmt. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass Art. 130 Abs. 3 VSG/SG nach dem Willen des kantonalen Gesetzgebers als lex specialis gilt und vorgeht. Der angefochtene Entscheid ist damit kantonal letztinstanzlich im Sinne von Art. 86 Abs. 1 OG (Urteil 2P.81/2002 vom 7. November 2002, E. 1.2). 
1.3 Zur staatsrechtlichen Beschwerde ist legitimiert, wer durch den angefochtenen Entscheid in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen ist (Art. 88 OG). 
 
Der Beschwerdeführer führt im eigenen Namen, gesetzlich vertreten durch seine Eltern, Beschwerde. Er wurde durch den angefochtenen Entscheid vom weiteren Besuch der öffentlichen Volksschule ausgeschlossen und ist damit unmittelbar in seinen eigenen Interessen berührt und zur Beschwerde legitimiert (Urteil 2P.81/2002 vom 7. November 2002, E. 1.3). 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Anspruches auf Gewährung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV. Diese erblickt er darin, dass er von der Vorinstanz in willkürlicher Anwendung von Art. 15 des st. gallischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Mai 1965 (VRP/SG) weder zur Stellungnahme eingeladen noch ihm Gelegenheit gegeben worden sei, seine Argumente vorzutragen und Beweismittel zu bezeichnen. 
2.2 Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Es kommt somit nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht (BGE 126 V 130 E. 2b S. 132). 
2.3 Der Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs bestimmt sich zunächst nach den kantonalen Verfahrensvorschriften, deren Auslegung und Handhabung das Bundesgericht nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür (Art. 9 BV) prüft. Erst wenn sich dieser Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 29 Abs. 2 BV folgenden bundesrechtlichen Minimalgarantien Platz; ob diese verletzt sind, beurteilt das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 126 I 19 E. 2a). 
2.3.1 Auf das Rekursverfahren vor dem Erziehungsrat ist das Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege anwendbar (Art. 125 des Volksschulgesetzes des Kantons St. Gallen; VSG/SG). Für das Rekursverfahren gelten "sachgemäss" die Vorschriften des zweiten Teiles dieses Gesetzes, d.h. die Art. 6 bis 31 (Art. 58 VRP/SG). Unter dem Randtitel "Rechtliches Gehör" bestimmt Art. 15 VRP/SG: 
1. Personen und Behörden, gegen die sich eine Eingabe richtet, ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wenn die Eingabe nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist. 
2. Verfügungen, die erheblich belasten, sind nur zulässig, wenn die Betroffenen den wesentlichen Sachverhalt kennen und Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Ausgenommen ist die Veranlagung von Steuern, Taxen, Gebühren. 
3. Diese Vorschriften finden keine Anwendung, wenn wegen Gefahr sofort verfügt werden muss. 
2.3.2 Die Vorinstanz bestätigt in ihrer Vernehmlassung, dass dem Beschwerdeführer die Vorakten lediglich zur Kenntnisnahme zugestellt wurden, ohne dass ihm Gelegenheit eingeräumt worden wäre, zum Rekurs des Schulrates Stellung zu nehmen und Beweismittel zu bezeichnen. Dies ergibt sich auch aus den Akten: Die Vorinstanz holte lediglich vom Bezirksschulrat eine Vernehmlassung ein (act. 11/14). 
2.3.3 Die Vorinstanz begründet ihr Vorgehen damit, dass in ihrem Verfahren weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht neue Vorbringen zu beurteilen gewesen seien. Sie habe sich bei ihrem Entscheid auf die sorgfältigen Abklärungen des Bezirksschulrates gestützt, die dem Beschwerdeführer hinlänglich bekannt gewesen seien. Daher sei es gerechtfertigt gewesen, dem Beschwerdeführer die Vorakten lediglich zur Kenntnisnahme zuzustellen. 
 
Dem kann nicht gefolgt werden. Denn diese Argumente bilden keine haltbaren Gründe, die es ausnahmsweise hätten rechtfertigen können, dem Beschwerdeführer vor dem Entscheid - entgegen Art. 15 VRP/SG - keine Gelegenheit zur Stellungnahme zum Rekurs einzuräumen, umso weniger, als ihn der Schulausschluss erheblich belastet (Art. 15 Abs. 2 VRP/SG). Solche sind auch nicht ersichtlich. Unter diesen Umständen liegt eine offensichtliche Verletzung des sich aus Art. 15 VRP/SG ergebenden Anspruches des Beschwerdeführers auf Gewährung des rechtlichen Gehörs vor. Dies führt bereits zur Gutheissung der Beschwerde, ohne dass die weiteren Rügen geprüft werden müssten. 
3. 
3.1 Auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr wird verzichtet, da Gegenstand des Verfahrens eine Disziplinarmassnahme bildet und allfällige Vermögensinteressen des Kantons bzw. der Stadt St. Gallen jedenfalls nicht im Vordergrund stehen (Art. 156 Abs. 2 OG). 
3.2 Das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist gegenstandslos, da ihm als obsiegender Partei die durch den Rechtsstreit entstandenen notwendigen Kosten ohnehin zu ersetzen sind (Art. 159 Abs. 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht 
im Verfahren nach Art. 36a OG
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen. Der Beschluss des Erziehungsrates des Kantons St. Gallen vom 16. August 2002 wird aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Das Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos abgeschrieben. 
5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Schulrat der Stadt St. Gallen, dem Bezirksschulrat St. Gallen und dem Erziehungsrat des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 9. Dezember 2002 
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: