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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_197/2018  
 
 
Urteil vom 5. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Stanger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marko Mrljes, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 18. Januar 2018 (VBE.2017.476). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1984 geborene A.________, als Fachspezialist Transportdisposition tätig gewesen, meldete sich im Dezember 2013 nach einem Motorradunfall im Juli 2013 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau zog die Akten der Unfallversicherung bei und veranlasste bei der Medexperts AG, St. Gallen, eine orthopädisch-psychiatrische Begutachtung (Expertise vom 2. November 2016). Mit Verfügung vom 28. April 2017 sprach sie dem Versicherten eine befristete ganze Rente vom 1. Juli 2014 bis 30. November 2015 zu. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 18. Januar 2018 ab, soweit darauf eingetreten wurde. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 18. Januar 2018 sei aufzuheben. Es sei ihm die Rentenleistung weiterhin auszurichten, und die Beschwerdegegnerin sei anzuweisen, ein polydisziplinäres Gutachten einzuholen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei willkürlich (BGE 133 II 249 E. 1.2.2 S. 252). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Die Beschwerde hat unter anderem die Begehren und deren Begründung zu enthalten, wobei in der Begründung in gedrängter Form - unter Bezugnahme auf und in Auseinandersetzung mit den entscheidenden vorinstanzlichen Erwägungen (BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176; 134 II 244 E. 2.1 S. 245f.) - darzulegen ist, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Dabei gilt in Bezug auf die Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung durch die Vorinstanz eine qualifizierte Begründungspflicht (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261; Urteil 9C_619/2014 vom 31. März 2015 E. 2.2). Dazu genügt es nicht, einen von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern (BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356). Dass die von der Vorinstanz gezogenen Schlüsse nicht mit der Darstellung der beschwerdeführenden Partei übereinstimmen, belegt keine Willkür. Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid geht das Bundesgericht nicht ein (BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266 mit Hinweisen).  
 
2.   
Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; unechte Noven), was näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395). Dabei handelt es sich um Tatsachen, die weder im vorangegangenen Verfahren vorgebracht noch von der Vorinstanz festgestellt worden sind. Eine Tatsache, die sich aus den vorinstanzlichen Akten ergibt, ist nicht neu (BGE 136 V 362 E. 3.3.1 S. 364; BERNHARD CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, 2. Aufl. 2014, N. 13 zu Art. 99 BGG; ULRICH MEYER/JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 20 zu Art. 99 BGG). Tatsachen oder Beweismittel, die erst nach dem angefochtenen Entscheid sich ereignet haben oder entstanden sind (echte Noven), können nicht durch dieses Erkenntnis veranlasst worden sein, weshalb sie von vornherein unzulässig sind (BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 22f. mit Hinweisen; Urteil 9C_748/2014 vom 14. April 2015 E. 2.1). 
 
3.   
Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht die Befristung der Invalidenrente bis Ende November 2015 bestätigt hat bzw. ob der Beschwerdeführer weiterhin Anspruch auf eine ganze Rente hat. 
 
4.   
Das kantonale Versicherungsgericht stellte für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf das Medexperts-Gutachten vom 2. November 2016 ab. Danach seien folgende Diagnosen ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt worden: Chronische Anpassungsstörung (ICD-10 F43.23) mit vorwiegender Störung von anderen Gefühlen, Status nach leichter bis mittelgradiger depressiver Störung (ICD-10 F32.0/F32.1), Status nach Deckplatteneinbrüchen (ventral BWK III, IV und V, Status nach konservativer Behandlung). Als Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit sei die eingeschränkte Beweglichkeit der HWS bei Status nach HWK II-Fraktur Typ III nach Anderson festgehalten worden. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in seiner angestammten wie auch in einer adaptierten Tätigkeit (spätestens) ab 24. August 2015 vollständig arbeitsfähig sei, weshalb sich die Leistungseinstellung per 30. November 2015 als rechtens erweise. 
 
5.   
Zunächst rügt der Beschwerdeführer in somatischer Hinsicht, das kantonale Versicherungsgericht habe zu Unrecht auf den kreisärztlichen Abschlussbericht der Suva vom 24. August 2015 (richtig: 25. August 2015) abgestellt, habe die Unfallversicherung doch weiterhin Taggelder ausgerichtet. Dieser Einwand ist unbehelflich. Einerseits stützte sich die Vorinstanz zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht auf den Abschlussbericht ab, sondern stellte lediglich fest, dass die Einschätzung des orthopädischen Medexperts-Gutachters mit jener der Kreisärztin übereinstimme. Andererseits legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern die gerichtlich festgestellte Arbeitsfähigkeit von 100 % ab 24. August 2015 das Ergebnis willkürlicher Beweiswürdigung ist (E. 1.2; vgl. auch Urteil 9C_911/2017 vom 16. März 2018 E. 3.2.2). Damit kann offen bleiben, ob die vom Beschwerdeführer ins Recht gelegten Taggeldabrechnungen unzulässige Noven darstellen (E. 2). 
 
6.  
 
6.1. Der Beschwerdeführer bestreitet sodann den Beweiswert des Gutachtens, soweit es um die Frage geht, ob eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliege oder nicht. Im Gutachten der Medexperts sei der Bericht des behandelnden Psychiaters Dr. med. B.________ vom 14. Dezember 2015 nicht berücksichtigt worden. Dieser hätte klar darlegen können, weshalb der Motorradunfall als traumatisierendes Ereignis von aussergewöhnlicher Schwere zu einer PTBS geführt habe. Der psychiatrische Gutachter hingegen habe diese Diagnose in erster Linie mit der Begründung verworfen, sie sei zu spät gestellt worden. Dass die gesetzlichen Anforderungen an ein Gutachten nicht erfüllt seien, zeige sich ferner darin, dass das kantonale Versicherungsgericht die Gutachterstelle aufgefordert habe, sich zu der von dieser fälschlicherweise getroffenen Annahme einer Behandlungsfrequenz von (lediglich) einer psychiatrischen Sitzung pro Monat zu äussern.  
 
6.1.1. Die Vorinstanz führte dazu aus, der psychiatrische Experte habe den Bericht von Dr. med. B.________ vom 14. Dezember 2015 zur Kenntnis genommen. Es sei zu bedauern, dass er diesen bei der "Stellungnahme zu früheren diagnostischen psychiatrischen Einschätzungen" nicht aufgeführt habe. Das tangiere den Beweiswert des Gutachtens jedoch nicht, da er zu den abweichenden Diagnosen Stellung genommen habe, wenn auch im Hinblick auf andere medizinische Berichte. Auch die gerügte Diskrepanz bzw. die nachträgliche Klarstellung des psychiatrischen Gutachters hinsichtlich der Behandlungsfrequenz (und deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit) seien nicht geeignet, den Beweiswert des Gutachtens herabzusetzen. Die Vorbringen des Beschwerdeführers vermögen diese Feststellungen nicht entscheidend zu entkräften (E. 1.2).  
 
6.1.2. Hinzu kommt, dass der psychiatrische Experte eine PTBS nicht aufgrund einer verspäteten Diagnosestellung verneinte, sondern wegen der Ar t des erlittenen Unfalls und dessen Verarbeitung, welche eine solche Diagnose nicht rechtfertigen würden. Ausserdem seien weder Nachhall-Erinnerungen, Übererregbarkeit oder das Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit im Verlauf aufgetreten. Der Beschwerdeführer stellte diese Einschätzung nicht in Frage. Die Vorinstanz erachtete den diagnostischen Ausschluss einer PTBS als nachvollziehbar. Das Bundesgericht hat dem nichts beizufügen.  
 
6.2.  
 
6.2.1. Sodann erwog die Vorinstanz, das Ereignis vom 31. Juli 2013 sei aus rechtlicher Sicht nicht geeignet, eine invalidisierende PTBS auszulösen. Der Unfall habe sich beim Start eines Motorradrennens ereignet. Dennoch sei nicht von einer aussergewöhnlichen Bedrohung zu sprechen, denn der Unfallhergang entspreche grundsätzlich demjenigen eines auch im Strassenverkehr vorkommenden Auffahrunfalls mit einer gewissen Eindrücklichkeit. Dass der Beschwerdeführer mit weit über 100 km/h angefahren worden sei, sei unwahrscheinlich; die Videoaufnahmen zeigten, dass sich der Unfall unmittelbar beim Start ereignet habe. Er habe sodann nie in Lebensgefahr geschwebt, und weil der auffahrende Fahrer von hinten gekommen sei, habe er das in Sekundenbruchteilen kommende Ereignis nicht sehen können. Abgesehen davon habe er dem erstbehandelnden Spital in der Schweiz von einer Amnesie berichtet. Dass er den Unfall als aussergewöhnlich bedrohend oder katastrophal empfinde, möge zutreffen, sei aber nicht entscheidend. Es gelte ein objektiver Massstab (Urteil 9C_775/2009 vom 12. Februar 2010 E. 4.1).  
 
6.2.2. Ob das vorliegende Ereignis mit einem Verkehrsunfall verglichen werden kann, was der Beschwerdeführer anzweifelt, kann offen bleiben. Selbst wenn mit ihm davon auszugehen ist, dass es sich bei der Teilnahme am Rennen in concreto um ein absolutes Wagnis, mithin um eine Betätigung mit einer sehr hohen Verletzungsgefahr handelte (vgl. BGE 141 V 37 S. 40 f. E. 4.1-4.2), ergibt sich daraus nicht (automatisch) die Geeignetheit dieses Ereignisses, eine PTBS zu bewirken. Hierzu bedürfte es weiterer Umstände, welche diese Annahme rechtfertigen würden. Solche bringt der Beschwerdeführer indessen nicht vor (vgl. die entsprechende Umschreibung in der ICD-10-Klassifikation, F43.1, wonach ein Ereignis oder eine Situation mit aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass vorausgesetzt wird, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde; Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische Leitlinien, Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], 10. Aufl. 2015, S. 207 f.). Gleiches gilt für seine Vorbringen hinsichtlich der Geschwindigkeit des auffahrenden Fahrers. Der Beschwerdeführer legt auch hier nicht dar, dass und inwiefern eine allenfalls höhere Geschwindigkeit, welche von der Vorinstanz nicht ausgeschlossen wurde und welche er selber auch nicht genau zu beziffern vermag, in concreto massgebend sein soll für die Frage der Geeignetheit, eine PTBS auszulösen, zumal der auffahrende Fahrer unbestrittenermassen von hinten kam und vom Beschwerdeführer nicht gesehen werden konnte. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob die vom Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der (theoretisch erreichbaren) Geschwindigkeit ins Recht gelegten Dokumente als unzulässige Noven unberücksichtigt bleiben müssen (E. 2).  
Hinzu kommt, dass die weiteren Feststellungen der Vorinstanz zum Unfallhergang unbestritten geblieben und für das Bundesgericht daher verbindlich sind (E. 1.2). Daran vermag auch der pauschale Verweis auf die Berichte des behandelnden Psychiaters nichts zu ändern. 
 
6.3. Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Schluss, wonach das Vorliegen einer invalidisierenden PTBS zu verneinen sei, nicht zu beanstanden.  
 
7.   
Sodann rügt der Beschwerdeführer, weder die Beschwerdegegnerin noch die Vorinstanz hätten in Bezug auf die Diagnose einer chronischen Anpassungsstörung eine Indikatorenprüfung gemäss BGE 141 V 281 durchgeführt. Dabei verkennt er, dass ein strukturiertes Beweisverfahren dort entbehrlich ist, wo im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte eine Arbeitsunfähigkeit in nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 418 E. 7.1 S. 428 f.). 
Der psychiatrische Gutachter hat der diagnostizierten chronischen Anpassungsstörung keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit zuerkannt (vgl. E. 4), was gemäss Vorinstanz nicht zu beanstanden sei. Diese Feststellung wird vom Beschwerdeführer nicht substanziiert bestritten (E. 1.2). Im Übrigen bringt er - ausser dem bereits Dargelegten (E. 6.1) - nichts gegen den Beweiswert des Gutachtens vor. Damit hat es sein Bewenden. 
 
8.   
Schliesslich legte die Vorinstanz dar, weshalb sie für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit weitere Abklärungen, insbesondere eine neurologische Begutachtung, als nicht erforderlich erachtete. Der Beschwerdeführer bestreitet dies, ohne dass er auf die entsprechenden Erwägungen Bezug nimmt, womit er rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid übt (E. 1.2). 
 
9.   
Nach dem Gesagten hält der angefochtene Entscheid vor Bundesrecht stand. Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
10.   
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Pensionskasse SBB schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 5. Juni 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Stanger