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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
2C_119/2024  
 
 
Urteil vom 1. März 2024  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin, 
Bundesrichter Donzallaz, 
Bundesrichter Kradolfer, 
Gerichtsschreiber Müller. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Advokat Dr. Daniel Häring, 
 
gegen  
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, 
Speichergasse 12, 3011 Bern, 
Beschwerdegegner, 
 
Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI), 
Rathausplatz 1, Postfach, 3000 Bern 8. 
 
Gegenstand 
Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der Verein "FMH Verbindung der Schweizerischen Ärztinnen und Ärzte" (im Folgenden: FMH) ist im Handelsregister des Kantons Bern eingetragen und verfolgt den Zweck, die Schweizerische Ärzteschaft in gesamtschweizerischen Angelegenheiten gegenüber der Bevölkerung, den Behörden und weiteren Institutionen zu vertreten. Als Berufsverband der diplomierten Ärztinnen und Ärzte setzt er sich gemäss Handelsregister für ein effizientes und patientenbezogenes Gesundheitswesen ein.  
 
A.b. Der FMH setzte per 1. Juli 1997 eine seither mehrfach aktualisierte Standesordnung in Kraft, welche das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten gegenüber Patientinnen und Patienten regelt. Zur Konkretisierung der ärztlichen Verhaltenspflichten verweist die Standesordnung in Art. 18 der Fassung aus dem Jahr 2023 auf die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Unter anderem werden die Richtlinien "Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz", "Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantation und Vorbereitung der Organentnahme", "Zwangsmassnahmen in der Medizin", "Palliative Care" und "Umgang mit Sterben und Tod" für anwendbar erklärt.  
 
A.c. A.________ (geboren am 30. September 1936) leidet an einem metastasierenden, nicht kleinzelligen Bronchuskarzinom sowie an einem Pankreaskarzinom. Mit Eingabe vom 17. Februar 2023 stellte er beim Gesundheitsamt des Kantons Bern ein Gesuch mit folgenden Anträgen:  
 
"1. Es sei dem Gesuchsteller seitens der zuständigen Amtsstelle folgendes schriftlich zu bestätigen: 
a) Die Amtsstelle nimmt Kenntnis davon, dass der Gesuchsteller für sich in Bezug auf die Zukunft und beliebige Ärzte, sämtliche SAMW-Richtlinien, welche ethische Forderungen und/oder Postulate enthalten, gültig abgewählt hat, und dass diese demzufolge für seine medizinischen Behandlungen im Kanton Bern nicht angewendet werden dürfen. 
b) Dem Gesuchsteller wird bestätigt, dass aus der blossen Nichtbeachtung von SAMW-Richtlinien durch im Kanton Bern praktizierende FMH-Mitglieder sich keine aufsichtsrechtlichen Verfahren gegen und Sanktionierungen von FMH-Mitgliedern ergeben. 
2. Das vorliegende Gesuch sei im beschleunigten Verfahren zu behandeln (...) 
3. (...) " 
 
B.  
 
B.a. Das Gesundheitsamt des Kantons Bern trat mit Entscheid vom 27. März 2023 nicht auf das Gesuch vom 17. Februar 2023 ein. Die dagegen von A.________ geführte Beschwerde wies die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI) mit Entscheid vom 4. September 2023 ab.  
 
B.b. Am 2. Oktober 2023 erhob A.________ gegen den Entscheid der GSI Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Wie sich aus den kantonalen Gerichtsakten (Art. 105 Abs. 2 BGG) ergibt, nahm die GSI am 11. Oktober 2023 zur Beschwerde Stellung. Am 1. Dezember 2023 reichte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen zu den Akten und die GSI verzichtete am 9. Januar 2024 auf eine Stellungnahme. Mit Eingabe vom 5. Februar 2024 verwies der Beschwerdeführer auf seinen sich rapid verschlechternden Gesundheitszustand und ersuchte um einen Entscheid noch im Februar 2024. Mit Brief vom 13. Februar 2024 stellte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern einen Entscheid bis Ende März 2024 in Aussicht.  
 
C.  
A.________ reichte dem Bundesgericht am 20. Februar 2024 eine als "Rechtsverweigerungs-/Rechtsverzögerungsbeschwerde" bezeichnete Rechtsschrift ein. Er stellt den Antrag, das Verwaltungsgericht des Kantons Bern sei anzuweisen, innert 20 Tagen nach Urteilseingang materiell über sein Anliegen zu entscheiden. 
Die GSI verzichtete am 22. Februar 2024 auf eine Vernehmlassung. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern liess sich am 27. Februar 2024 vernehmen und beantragte die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern eines anfechtbaren Entscheids kann beim Bundesgerichts Beschwerde geführt werden (Art. 94 BGG). Diese Rechtsverweigerungs- oder Rechtsverzögerungsbeschwerde unterliegt keiner Frist (Art. 100 Abs. 7 BGG). Da der Beschwerdeführer in vertretbarer Weise eine Rechtsverzögerung geltend macht und die Streitsache nicht unter den - nach dem Grundsatz der Verfahrenseinheit (vgl. BGE 134 II 425 E. 1.3; 138 II 501 E. 1.1) auch bei Beschwerden nach Art. 94 BGG zu beachtenden (Urteil 2C_269/2022 vom 6. April 2022 E. 2.2 mit Hinweisen) - Ausschlusskatalog von Art. 83 BGG fällt, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
Mit der Beschwerde kann unter anderem die Verletzung von Bundes- und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a und lit. b BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), wobei es - unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG) - nur die geltend gemachten Vorbringen prüft, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 145 V 215 E. 1.1; 142 I 135 E. 1.5). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 II 283 E. 1.2.2; 139 I 229 E. 2.2). 
 
3.  
Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz zusammengefasst vor, das Verfahren unnötig in die Länge zu ziehen. Dieses sei schon lange spruchreif und hätte beschleunigt geführt werden müssen, denn die Frage, ob die Richtlinien der SAMW auf ihn anwendbar seien, betreffe den Beschwerdeführer als Mensch in seiner Identität und Würde. Durch die Weigerung des kantonalen Gerichts, einen Entscheid zu treffen, werde er im Ungewissen darüber gelassen, ob sein Wille als Patient letztlich beachtet werde oder nicht. Dies sei eine für ihn zutiefst verstörende und beängstigende Vorstellung. 
 
4.  
 
4.1. Das in Art. 29 Abs. 1 BV verankerte Verbot der Rechtsverweigerung schützt die Prozessbeteiligten vor der Verzögerung und Verschleppung ihrer Angelegenheit durch die angerufene Behörde und verlangt, dass das Verfahren innert angemessener Frist zu einem Abschluss kommt (Reg INA KIENER/WALTER KÄLIN/JUDITH WYTTENBACH, G rundrechte, 3. Aufl. 2018, S. 506; MARTINE DANG/MINH SON NGUYEN, IN : Commentaire romand, Constitution fédérale, 2021, N. 99 zu Art. 29 BV). Wo das anwendbare Verfahrensrecht keine bestimmte Erledigungsfrist vorsieht, beurteilt sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand des Einzelfalls und der konkreten Umstände. Massgebend sind etwa der Umfang und die Komplexität der aufgeworfenen Sachverhalts- und Rechtsfragen, aber auch die Bedeutung des Verfahrens für die Beteiligten (BGE 144 I 318 E. 7.1; 135 I 265 E. 4.4; 131 V 407 E. 1.1). Je intensiver der Grundrechtsträger von einem Entscheid betroffen ist und je schwerer das Rechtssicherheitsinteresse wiegt, desto höher ist der Anspruch auf beförderliche Behandlung der Sache zu werten (Urteile 6B_1147/2020 vom 26. April 2020 E. 2.3; 2C_608/2017 vom 24. August 2018 E. 6.5.2).  
 
4.2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hielt mehrfach fest, dass die Lebenserwartung, der Gesundheitszustand oder das Alter der Beschwerdeführer eine beförderliche Erledigung einer Angelegenheit erfordern kann (vgl. Urteile [des EGMR] X. gegen Frankreich vom 31. März 1992 [18020/91] § 47; Codarcea gegen Rumänien vom 2. Juni 2009 [31675/04] § 89; A. u.a. gegen Dänemark vom 8. Februar 1996 [20826/92] § 78). In die gleiche Richtung geht die Rechtsprechung des Bundesgerichts. Verfahren, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über den eigenen Körper und das eigene Leben betreffen, sind besonders zeitkritisch. Eine lange Verfahrensdauer kann - z.B. aufgrund des Risikos einer abnehmenden Urteilsfähigkeit oder der Verschlechterung des Gesundheitszustands der Betroffenen - zur Aushöhlung der grundrechtlicher Garantien führen (Urteil 2C_608/2017 vom 24. August 2018 E. 6.5.2).  
 
4.3. Mit Blick auf die Umstände des konkreten Falls rechtfertigt es sich, einen strengen Massstab an die Angemessenheit der Verfahrensdauer vor dem kantonalen Gericht anzulegen. Der Beschwerdeführer ist 86 Jahre alt und leidet sowohl an einem Bronchus- als auch an einem Pankreaskarzinom. Die umstrittene Anwendbarkeit der SAMW-Richtlinien betrifft ihn in sensiblen Bereichen der Lebensentfaltung. Auch wenn der Beschwerdeführer nicht konkret darlegt, gegen welche Handlungsempfehlungen er (ethische) Vorbehalte hegt, ist aufgrund seiner persönlichen Situation naheliegend, dass in absehbarer Zeit höchstpersönliche Entscheidungen über Behandlungsalternativen, den Umgang mit Palliativmedizin und allenfalls in Bezug auf das Lebensende zu treffen sind. Diese medizinischen Fragen bzw. die damit korrespondierende Ungewissheit auf Seiten des Beschwerdeführers berühren die verfassungs- und konventionsrechtlich geschützte Persönlichkeitsentfaltung (Art. 10 Abs. 1 und Abs. 2 BV, Art. 8 Ziff. 1 EMRK; Urteil 2C_608/2017 vom 24. August 2018 E. 6.5.2; Urteil [des EGMR] Pretty gegen Vereinigtes Königreich vom 29. April 2002, Recueil CourEDH 2002-III, § 65 ff.; vgl. auch RAINER J. SCHWEIZER/JÉRÉMIE BONGIOVANNI, in: St. Galler Kommentar, Bundesverfassung, 4. Aufl. 2023, N. 54 zu Art. 10 BV). Dementsprechend hätte die Vorinstanz das Verfahren zügig vorantreiben müssen. Ungeachtet dessen setzte die Vorinstanz jeweils Fristen zwischen 25 und 30 Tagen an (so für die Beschwerdeantwort und das Replikrecht nach der Eingabe des Beschwerdeführers vom 1. Dezember 2023). Der formelle Schriftenwechsel war sodann Ende Oktober 2023 abgeschlossen. In tatsächlicher Hinsicht wirft der Fall keine Schwierigkeiten auf. In rechtlicher Hinsicht umfasst der Streitgegenstand vor dem kantonalen Gericht ausschliesslich die Frage, ob die Gesundheitsdirektion auf das Gesuch vom 17. Februar 2023 hätte eintreten müssen. Wenn die Vorinstanz vor diesem Hintergrund erst für März 2024 einen Entscheid in Aussicht stellt, verletzt sie - unter Berücksichtigung der besonders gelagerten Umstände dieses Falls - das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot.  
 
5.  
Die Beschwerde erweist sich als begründet. Die Vorinstanz wird angewiesen, die Sache an die Hand zu nehmen und so rasch als möglich zum Entscheid zu führen. Eine konkrete Behandlungsfrist, wie vom Beschwerdeführer gefordert, kann aus Gründen der Rechtsgleichheit grundsätzlich nicht angeordnet werden (FELIX UHLMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 8 zu Art. 94 BGG). 
 
6.  
Bei diesem Verfahrensausgang steht dem obsiegenden Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG i.V.m. Art. 6 des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.110.210.3]). Der Kanton Bern trägt keine Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 4 BGG). 
 
 
Das Bundesgericht erkennt:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und es wird Rechtsverzögerung durch das Verwaltungsgericht des Kantons Bern festgestellt. Dieses wird angewiesen, die Sache an die Hand zu nehmen und so rasch als möglich zum Entscheid zu führen. 
 
2.  
Der Kanton Bern entschädigt den Beschwerdeführer mit Fr. 1'000.-- für das bundesgerichtliche Verfahren. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und B.________, 
St. Gallen, mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 1. März 2024 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin 
 
Der Gerichtsschreiber: M. Müller