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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_300/2023  
 
 
Urteil vom 4. April 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Stulz, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich, Schwerpunktkriminalität, Cybercrime und besondere Untersuchungen, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich. 
 
Gegenstand 
Entsiegelung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich, Zwangsmassnahmengericht, vom 8. Mai 2023 (GT230059-L / U). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen gewerbsmässigen Betrugs und weiterer Delikte. Am 13. April 2023 stellten die Strafbehörden bei Hausdurchsuchungen an seinem Wohn- und Arbeitsort ein Mobiltelefon, eine Micro-SD-Karte, eine SIM-Karte, eine externe Harddisk, einen Computer und Papierwaren sicher. Am 14. April 2023 verlangte A.________ die Siegelung der Datenträger und Gegenstände mit der Begründung, auf dem Mobiltelefon befänden sich "private Sachen" seiner Ehefrau und seines Kindes. Gleichzeitig stellte er in Aussicht, dass er den Siegelungsantrag präzisieren und ergänzen werde. In der Folge hielt er am Siegelungsantrag fest und erklärte, auf den sichergestellten Datenträgern befänden sich Daten und Informationen von Drittfirmen, welche die Geräte mitbenutzt hätten und auszusondern seien. Sodann befinde sich auf dem Mobiltelefon private und persönliche Kommunikation mit seiner Ehefrau, die zeugnisverweigerungsberechtigt sei. Es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich unter den sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenständen Anwaltskorrespondenz befinde. 
 
B.  
Mit Antrag vom 27. April 2023 ersuchte die Staatsanwaltschaft um Entsiegelung des sichergestellten Mobiltelefons. Das Bezirksgericht Zürich, Zwangsmassnahmengericht, stellte mit Verfügung vom 8. Mai 2023 fest, dass kein gültiges Siegelungsbegehren vorliege, weshalb keine gültige Siegelung stattgefunden habe. Es trat daher auf den Entsiegelungsantrag der Staatsanwaltschaft nicht ein und gab die sichergestellten Datenträger und Gegenstände zur Untersuchung und weiteren Verwendung frei. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht beantragt A.________, die Verfügung vom 8. Mai 2023 sei aufzuheben. Es sei festzustellen, dass er einen rechtsgenüglichen Siegelungsantrag gestellt habe, und die Sache sei an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung zurückzuweisen. Eventualiter sei ihm Einsicht in die sichergestellten Unterlagen und Dokumente zu gewähren und Frist anzusetzen, um seinen Siegelungsantrag zu spezifizieren. 
Die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz haben auf Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entsiegelungsentscheid eines Zwangsmassnahmengerichts, gegen den die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offensteht (Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG i.V.m. aArt. 248 Abs. 3 StPO). Der Beschwerdeführer macht ausreichend substanziiert geltend, dass der Entsiegelung geschützte Geheimhaltungsrechte entgegenstehen. Damit droht ihm ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.  
 
1.2. Die per 1. Januar 2024 in Kraft getretene Gesetzesänderung betreffend Siegelungs- bzw. Entsiegelungsverfahren hat keine Auswirkungen auf das vorliegende Urteil. Das Bundesgericht prüft im Rahmen der strafrechtlichen Beschwerde nämlich nur, ob die kantonale Instanz das Bundesrecht richtig angewendet hat, mithin jenes Recht, welches die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid anwenden musste (Urteil 7B_152/2024 vom 19. Februar 2024 E. 1.2 mit Hinweisen). Massgebend für die Beurteilung der bundesgerichtlichen Beschwerde sind damit weiterhin die Siegelungs- bzw. Entsiegelungsbestimmungen, wie sie bis zum 31. Dezember 2023 galten.  
 
2.  
Gemäss aArt. 248 StPO sind Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Abs. 1). Stellt die Strafbehörde nicht innert 20 Tagen ein Entsiegelungsgesuch, so werden die versiegelten Aufzeichnungen und Gegenstände der berechtigten Person zurückgegeben (Abs. 2). Stellt sie ein Entsiegelungsgesuch, so entscheidet im Vorverfahren darüber innerhalb eines Monats endgültig das Zwangsmassnahmengericht (Abs. 3 lit. a). 
Nach der bundesgerichtlichen Praxis trifft die siegelungsberechtigte Person im Entsiegelungsverfahren die prozessuale Obliegenheit, allfällige Geheimhaltungsinteressen bzw. Entsiegelungshindernisse im Sinne von aArt. 248 Abs. 1 StPO und aArt. 264 StPO ausreichend zu substanziieren. Dagegen wird nicht verlangt, dass die betroffene Person die Siegelungsgründe bereits im Rahmen ihres Siegelungsantrags im Detail begründet (Urteile 7B_48/2023 vom 29. Januar 2024 E. 3.2.4; 7B_318/2023 vom 27. Dezember 2023 E. 3.2; je mit Hinweisen). Eine übertriebene prozessuale Strenge bei der Handhabung formeller Anforderungen für die Siegelung (etwa betreffend rechtzeitige Erhebung oder "Begründung" von Siegelungsbegehren) würde den im Gesetz vorgesehenen Rechtsschutz von betroffenen Personen gegenüber strafprozessualen Zwangsmassnahmen aushöhlen (Urteile 1B_172/2023 vom 9. Mai 2023 E. 2.1; 1B_303/2022 vom 19. Dezember 2022 E. 2.4; je mit Hinweisen). Damit eine Siegelung durch die Strafverfolgungsbehörde erfolgt, muss die betroffene Person aber immerhin einen spezifischen Siegelungsgrund sinngemäss anrufen bzw. glaubhaft machen (Urteile 1B_172/2023 vom 9. Mai 2023 E. 2.1; 1B_273/2021 vom 2. März 2022 E. 3.3 mit Hinweisen). Zudem muss sie das Siegelungsgesuch sofort stellen. Ein mehrere Wochen oder Monate nach der vorläufigen Sicherstellung der Aufzeichnungen oder Gegenstände gestelltes Siegelungsgesuch ist grundsätzlich verspätet. Demgegenüber kann ein Gesuch, welches eine Woche danach gestellt wird, gegebenenfalls noch als rechtzeitig angesehen werden. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an (Urteile 7B_48/2023 vom 29. Januar 2024 E. 3.2.3; 7B_47/2023 vom 21. September 2023 E. 3.1.1; 1B_381/2022 vom 3. November 2022 E. 2; je mit Hinweisen). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz erwägt im angefochtenen Entscheid, der Beschwerdeführer habe im Siegelungsantrag keine konkreten Siegelungsgründe angerufen, sondern nur ausgeführt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich Anwaltskorrespondenz unter den sichergestellten Gegenständen und Unterlagen befinden würde. Er sei auch seiner Substanziierungsobliegenheit nicht nachgekommen. So habe er keinen Namen eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin, mit dem bzw. der er korrespondiert haben soll, genannt und auch mit Bezug auf die angeblich auf dem Mobiltelefon befindlichen persönlichen Daten nur pauschale Ausführungen gemacht, anstatt genau bestimmte Informationen zu bezeichnen und aufzuzeigen, inwiefern diesbezüglich der Schutz seiner Persönlichkeit das Strafverfolgungsinteresse überwiegen soll. Anzumerken sei zudem, dass andere als in Art. 170 bis Art. 173 StPO genannte Zeugnisverweigerungsrechte (wie das Zeugnisverweigerungsrecht der Ehegattin gemäss Art. 168 Abs. 1 lit. a StPO) kein Beschlagnahmeverbot und damit auch kein Durchsuchungsverbot zu begründen vermöchten. Auch soweit der Beschwerdeführer schliesslich in eigenem Namen Geheimhaltungsinteressen Dritter anrufe, liege kein gültiger Siegelungsantrag vor.  
 
3.2. Die Beschwerde ist begründet: Der Beschwerdeführer hat nach der Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz am 14. April 2023, d.h. am Tag nach der Sicherstellung seiner Aufzeichnungen und Gegenstände, die Siegelung wegen "private[r] Sachen" verlangt. Gleichzeitig stellte er in Aussicht, dass er den Siegelungsantrag präzisieren und ergänzen werde. In der Folge machte er insbesondere noch geltend, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich unter den sichergestellten Gegenständen und Aufzeichnungen noch Anwaltskorrespondenz befinde. Damit hat er die Siegelung, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, rechtzeitig und gültig beantragt. Soweit die Vorinstanz zur Gültigkeit des Siegelungsantrags erwägt, der Beschwerdeführer sei seiner Substanziierungsobliegenheit nicht nachgekommen, verkennt sie, dass er seine Geheimnisinteressen nicht im Siegelungsantrag (oder der angekündigten Ergänzung desselben), sondern erst im nachfolgenden Entsiegelungsverfahren substanziieren muss (vgl. E. 2 hiervor). Indem die Vorinstanz trotz gültigem Siegelungsantrag nicht auf das Entsiegelungsgesuch eingetreten ist, hat sie Bundesrecht verletzt.  
 
4.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die Vorinstanz wird dem Beschwerdeführer Gelegenheit geben müssen, seine Geheimhaltungsinteressen im Entsiegelungsverfahren zu substanziieren. Seiner Behauptung, dass er dazu Akteneinsicht benötige, kann im Übrigen (zumindest gestützt auf seine Ausführungen vor Bundesgericht) nicht gefolgt werden; es ist nicht ersichtlich, weshalb er umfangreiche Datenmengen durchforsten müsste, um sich an die Namen der von ihm beauftragten Anwälte zu erinnern, oder seine Privat- und Intimsphäre betreffenden höchstpersönlichen Informationen zumindest grob zu bezeichnen, damit diese gegebenenfalls ausgesondert werden können. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts des Bezirkgerichts Zürich vom 8. Mai 2023 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Zwangsmassnahmengericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 4. April 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern