Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1B_214/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 28. Juli 2016  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Eusebio, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Karlen, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Misic. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Patrick Stach, 
 
gegen  
 
Peter Zihlmann, Oberrichter, Obergericht des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern, 
Beschwerdegegner, 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 9. Mai 2016 
des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Im Rahmen eines Berufungsverfahrens betreffend Betrug, Urkundenfälschung und versuchter Erpressung gab die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern A.________ am 2. März 2016 die voraussichtliche Besetzung des Spruchkörpers, unter anderem mit Oberrichter Peter Zihlmann, bekannt. Mit Gesuch vom 21. März 2016 beantragte A.________ den Ausstand von Oberrichter Peter Zihlmann wegen Befangenheit. Mit Beschluss vom 9. Mai 2016 wurde das Ausstandsbegehren von der 1. Strafkammer (ohne Mitwirkung des abgelehnten Oberrichters) abgewiesen. 
 
B.   
Mit Eingabe vom 10. Juni 2016 führt A.________ Beschwerde in Strafsachen mit dem Hauptbegehren, der Beschluss vom 9. Mai 2016 sei aufzuheben. Es sei festzustellen, dass Oberrichter Peter Zihlmann in den Ausstand zu treten habe. Sodann sei die amtliche Verteidigung sowie die Offizialverbeiständung zu gewähren. 
Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern und Oberrichter Zihlmann haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. A.________ hat sich nicht mehr geäussert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Beim angefochtenen Beschluss handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren in einer Strafsache (Art. 78 Abs. 1 und Art. 92 Abs. 1 BGG). Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern hat als letzte und einzige kantonale Instanz endgültig entschieden (Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 lit. c StPO). Die Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten. 
 
2.  
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 56 lit. f StPO. Sie bringt im Wesentlichen vor, der Beschwerdegegner habe sich bereits ein Bild von der Beschwerdeführerin gemacht, das auf "reiner subjektiver Antipathie" fusse. Zur Begründung verweist sie auf den Beschluss der 1. Strafkammer des Obergerichts vom 1. März 2016, der ein von der Beschwerdeführerin gegen Oberrichterin Annemarie Hubschmid Volz gerichtetes Ausstandsgesuch betraf. In Ziff. 6 habe der Beschwerdegegner Folgendes ausgeführt: 
 
"[...] Weiter stellt die Kammer richtig, dass die Schwierigkeiten beim Lesen und Verständnis der Eingabe der Beschwerdeführerin keineswegs auf mangelnde Sorgfalt oder gar eingeschränkte kognitive Fähigkeiten des Adressaten zurückzuführen sind, sondern vielmehr ganz offensichtlich in den sprachlichen und gedanklichen Unklarheiten der Verfasserin begründet liegen. Immerhin war offenkundig, dass es der Gesuchstellerin in erster Linie um einen Wechsel des amtlichen Verteidigers ging." 
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin bringe insbesondere die Formulierung "gedankliche Unklarheiten der Verfasserin" unzweideutig die vom Beschwerdegegner ihr gegenüber gehegte Abneigung zum Ausdruck. 
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 56 lit. f StPO tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand, wenn sie aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine Generalklausel, die alle Ausstandsgründe erfasst, welche in Art. 56 lit. a-e StPO nicht ausdrücklich vorgesehen sind. Sie entspricht Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II. Danach hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird.  
 
3.2. Die Rechtsprechung nimmt Voreingenommenheit und Befangenheit an, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Es ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 141 IV 178 E. 3.2.1 S. 179; 140 I 326 E. 5.1 S. 328; 138 IV 142 E. 2.1 S. 144 f.; je mit Hinweisen). Der Prozess muss aus Sicht aller Beteiligten als offen erscheinen (BGE 140 I 326 E. 5.1 S. 328 mit Hinweis).  
 
3.3. "Feindschaft" i.S.v. Art. 56 lit. f StPO verlangt einen ausgeprägt negativen Bezug zu einer Partei, der vom sozial Üblichen abweicht und bei objektiver Betrachtung geeignet erscheint, sich auf die Partei und deren Prozess auszuwirken (NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, Rz. 154). Es müssen erhebliche persönliche Spannungen oder "schwere Zerwürfnisse" (Urteil des Bundesgerichts 1P.99/2000 vom 20. März 2000 E. 3a) vorliegen. Die negativen Gefühle müssen beim Mitglied der Strafbehörde vorhanden sein; dass die Partei solche Gefühle hegt, stellt für sich alleine noch keinen Ausstandsgrund dar (ANDREAS J. KELLER, in: Zürcher Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, Rz. 27 zu Art. 56 StPO).  
Diese Voraussetzungen sind hier offensichtlich nicht erfüllt. Dass seitens des Beschwerdeführers Gefühle der Feindschaft gegenüber der Beschwerdeführerin vorhanden sein könnten, ist nicht ersichtlich. 
 
3.4. Von der eigentlichen Feindschaft zu unterscheiden sind wertende Äusserungen über eine Partei (REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, S. 100 ff.). Nach der Rechtsprechung hat eine Richterin oder ein Richter negative Bemerkungen zu unterlassen, die sich gegen die Person einer Verfahrenspartei richten (BGE 127 I 196 E. 2d S. 201). Zu verlangen ist eine zurückhaltende Ausdrucksweise und das Bemühen um die nötige Gelassenheit (Urteil des Bundesgerichts 1P.687/2005 vom 9. Januar 2006 E. 7.2). Eine vollkommene Abgeklärtheit kann indessen nicht in jeder Situation erwartet werden (Urteil des Bundesgerichts 1P.514/2002 vom 13. Februar 2003 E. 2.7). Das Gebot der Sachlichkeit verlangt, dass sich die Richterin oder der Richter namentlich in der Hauptverhandlung grob unsachlicher Bemerkungen, Demonstrationen von Bestrafungswillen, sachfremden Machtbewusstseins oder Humor auf Kosten von Verfahrensbeteiligten zu enthalten haben (vgl., mit weiteren Nachweisen, MARKUS BOOG, in: Basler Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, Rz. 54 zu Art. 56 StPO). Dies schliesst jedoch Kritik, insbesondere an der Verfahrensführung der Beteiligten, nicht aus (Urteil des Bundesgerichts 1P.514/2002 vom 13. Februar 2003 E. 2.7). Während ungeschickte oder scherzhafte Äusserungen, verbale Entgleisungen, Unhöflichkeiten oder eine gewisse Ungehaltenheit grundsätzlich keine Befangenheit zu begründen vermögen, sind kränkende oder beleidigende Werturteile, die Persönlichkeitsmerkmale der Parteien wie Aussehen, Geschlecht, Herkunft, Rasse, religiöse Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung betreffen (vgl. Art. 8 Abs. 2 BV und Art. 14 EMRK) und eine persönliche Abneigung oder Geringschätzung zum Ausdruck bringen, klar verpönt (BOOG, a.a.O., Rz. 54 zu Art. 56 StPO; KIENER, a.a.O., S. 100).  
 
3.5. Die Beschwerdeführerin fühlt sich durch die Bemerkung im Kammerbeschluss vom 1. März 2016 lächerlich gemacht und gering geschätzt. Der Beschwerdegegner wolle sie nicht verstehen, gleichzeitig mache er aber unhaltbare Interpretationen. Sie habe in ihrer Eingabe vom 26. Oktober 2015 "klar und unmissverständlich" zum Ausdruck gebracht, es sei ihr nicht nur um den Wechsel ihres amtlichen Verteidigers gegangen, sondern auch um den Ausstand von Oberrichterin Hubschmid.  
Diese Vorbringen führen - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - nicht zur Bejahung des Ausstandsbegehrens. Wie der Stellungnahme des Beschwerdegegners vom 29. März 2016 entnommen werden kann, hatte dieser nicht die Absicht, die Beschwerdeführerin lächerlich zu machen. Dies ist auch bei objektiver Betrachtungsweise nicht ersichtlich, zumal aus der beanstandeten Erwägung des Beschlusses lediglich hervorgeht, dass die Eingabe der Beschwerdeführerin nach Auffassung der Kammer Unklarheiten aufweist, weshalb das Lesen und Nachvollziehen der Argumentation, selbst mit erhöhtem Aufwand seitens der Kammer, schwierig oder sogar unmöglich ist. Selbst wenn man von einer ungeschickten Formulierung im Kammerbeschluss ausgehen wollte, erreicht die von der Beschwerdeführerin beanstandete Textpassage nicht die von der Rechtsprechung geforderte Intensität (E. 3.4 hiervor), um daraus eine ausstandsbegründende Antipathie des Beschwerdegegners gegenüber der Beschwerdeführerin abzuleiten. 
Es finden sich auch keine Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin absichtlich nicht habe verstehen wollen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, denn die Kammer hat das Begehren der Beschwerdeführerin um Wechsel des amtlichen Verteidigers korrekt erfasst. Dass die Beschwerdeführerin überdies klar und unmissverständlich den Ausstand von Oberrichterin Hubschmid verlangt haben soll, ist nicht ersichtlich (entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin finden sich weder auf Seite 7 ihrer Eingabe vom 26. Oktober 2015 noch in ihrer E-Mail vom 19. November 2015 Ausführungen, die ein entsprechendes, rechtsgenügliches Begehren enthalten). 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin bringt sinngemäss vor, der Beschwerdegegner sei befangen, weil er in einem sie betreffenden Verfahren der fürsorgerischen Unterbringung die Abweisung verfügt habe. Da der Beschwerdegegner mit der Sache materiell nicht befasst gewesen ist, sondern lediglich die Abschreibung des Verfahrens infolge Entlassung die Gegenstandslosigkeit verfügt hat (vgl. Ziff. 1 der Verfügung vom 30. Oktober 2014), ist die Rüge unbegründet und abzuweisen.  
 
4.2. Wie aus den Akten hervorgeht, gab es offenbar Probleme bei der Zustellung des Beschlusses vom 1. März 2016 (der zugestellte Beschluss sei gemäss Auskunft der Post von der Anwaltskanzlei nicht abgeholt worden, der Fehler sei somit "mit Sicherheit" nicht beim Obergericht gelegen; vgl. Duplik vom 12. April 2016). Darin einen ausstandsbegründenden Umstand zu erblicken, indem die Beschwerdeführerin dem Beschwerdegegner unterstellt, dieser habe absichtlich die Zustellung des Beschlusses zu verhindern versucht, erscheint konstruiert und überzeugt nicht.  
 
5.   
Im Ergebnis sind keine Umstände ersichtlich, die den Ausstand des Beschwerdegegners zu begründen vermögen. Dass dieser sich in Bezug auf die Beschwerdeführerin bereits ein Bild gemacht haben soll, so dass das Berufungsverfahren nicht mehr als offen erscheint, wird von ihm verneint und ist auch bei objektiver Betrachtungsweise nicht ersichtlich. Die Bedenken der Beschwerdeführerin, sie werde keine Chance haben, das Gericht von ihrer Unschuld zu überzeugen, wenn der Beschwerdegegner im Spruchkörper sitze, erweisen sich insoweit als unbegründet. 
 
6.   
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen. 
Die Beschwerdeführerin ersucht um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwalt Dr. Patrick Stach wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'000.-- entschädigt.  
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, B.________ und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 28. Juli 2016 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Eusebio 
 
Der Gerichtsschreiber: Misic