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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 301/03 
 
Urteil vom 2. Juli 2004 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Traub 
 
Parteien 
G.________, 1962, Beschwerdeführer, vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 12. März 2003) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1962 geborene G.________ war seit 1988 als Hilfsgärtner und Raumpfleger erwerbstätig. Am 23. Juli 1995 zog er sich eine Verletzung am rechten Knie (Patellaluxation) zu, welche zunächst zu einer Arthrose des Kniegelenks führte. Am 6. März 1996 beantragte G.________ Leistungen der Invalidenversicherung. Die IV-Stelle des Kantons Aargau gewährte ihm für die Zeit vom 1. Juli 1996 bis zum 30. November 1998 (Beginn eines Taggeldanspruches bei beruflicher Massnahme) eine ganze Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 100 % (Verfügung vom 11. Dezember 1998). In einer weiteren Verfügung vom 20. April 2000 sprach die IV-Stelle dem Versicherten ab dem 1. Januar 1999 (Wegfall des Taggeldanspruchs) bis auf weiteres eine ganze Invalidenrente zu. Zufolge neuen Taggeldanspruchs (wegen Arbeitstrainings) stellte die Verwaltung den Rentenanspruch von Oktober bis Dezember 2000 aus. Nach weiteren Abklärungen erkannte die IV-Stelle dem Versicherten mit Verfügung vom 18. September 2002 rückwirkend ab dem 1. November 2000 eine halbe Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 60 % zu. 
B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die hiegegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 12. März 2003). 
C. 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm, unter Aufhebung von vorinstanzlichem Entscheid und strittiger Verfügung, mit Wirkung ab dem 1. November 2000 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den Voraussetzungen und zum Umfang des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 126 V 75, 104 V 136 f. Erw. 2a und b) sowie zur Schadenminderungspflicht (BGE 123 V 233 Erw. 3c, 117 V 278 Erw. 2b) zutreffend dargelegt. Ebenfalls verwiesen werden kann auf die vorinstanzlichen Ausführungen über die Bedeutung medizinischer Entscheidungsgrundlagen (BGE 125 V 261 Erw. 4) sowie die für den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten geltenden Regeln (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c). Zu ergänzen ist, dass für die richterliche Beurteilung die Verhältnisse massgebend sind, wie sie sich bis zum Erlass der Verwaltungsverfügung entwickelt haben (BGE 121 V 366 Erw. 1b). 
Mit der Vorinstanz bleibt festzuhalten, dass das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 (in Kraft seit dem 1. Januar 2003) vorliegend keine Anwendung findet (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Das Gleiche gilt für die auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Bestimmungen gemäss der Änderung des IVG vom 21. März 2003 (4. IVG-Revision). 
2. 
Strittig und zu beurteilen ist, ob das als Grundlage des Rentenentscheids (Verfügung vom 18. September 2002) dienende medizinische Dossier ein umfassendes Bild der entscheidungserheblichen gesundheitlichen Verhältnisse vermittelt und ob der Verwaltungsakt auf einer zutreffenden Würdigung der ärztlichen Stellungnahmen beruht. 
2.1 Die IV-Stelle und das kantonale Gericht gehen davon aus, in geeigneter Tätigkeit (körperlich nicht belastende, meist sitzend verrichtbare Tätigkeiten wie Montage-, Stanz-, Lötarbeiten, Kontroll- und Überwachungsfunktionen) bestehe eine Arbeitsfähigkeit von 50 %. Sie stützen sich dabei im Wesentlichen auf ein Gutachten des Externen Psychiatrischen Dienstes (EPD) vom 29. November 2001. Darin wird das Mass der Beeinträchtigung sowohl aufgrund der organischen Folgen der Knieverletzung (traumatische Knorpelabscherung mit nachfolgender Gonarthrose) als auch aufgrund der psychiatrischen Diagnosen einer mittelschweren depressiven Entwicklung sowie einer mittelgradigen anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bestimmt. Hinsichtlich der Auswirkungen des letztgenannten Leidens äussern sich die Sachverständigen des EPD unbestimmt: Die Schmerzstörung könne zwar - wie auch die depressive Störung - an sich therapiert werden. Die "Gesamtprognose" sei aber insofern ungünstig, als dieses Syndrom unbehandelt zur Chronifizierung neige. Im Weitern führen sie aus: 
"Bezüglich Arbeitsfähigkeit ist allerdings zu sagen, dass die Schmerzstörung alleine, bei vernachlässigbarer organischer Komponente, nicht automatisch eine Arbeitsunfähigkeit bedeutet. Therapeutisches Ziel ist es hier, trotz Schmerzen zu leben und zu arbeiten, u.a. deshalb, da die Störung durch Schonung eher zunimmt, unter fortgesetzter Berufstätigkeit das Leistungsniveau eher gehalten werden kann. Eine leichte Arbeitstätigkeit ist deshalb wünschenswert." 
Damit bleibt unklar, ob die Schätzung der Arbeitsfähigkeit als abschliessende Stellungnahme bezüglich des zumutbarerweise Möglichen verstanden werden kann, und inwieweit die von den Gutachtern erwähnte leichte Tätigkeit eher einem therapeutischen Desiderat als einem wirtschaftlich erheblichen Leistungsvermögen entspricht. Denn auch die Formulierung, die Arbeitsunfähigkeit betrage insgesamt "mindestens 50 %", deutet darauf hin, dass die Überwindbarkeit der Folgen einer somatoformen Schmerzstörung für die Verfasser des Gutachtens einen offenen Punkt darstellte. 
2.2 Die Lage der medizinischen Akten wirft noch weitere Fragen auf. In somatischer Hinsicht liegt ein internistisches Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) am Spital X.________ vom 30. Juni 1999 vor. Ausgehend des Befundes einer Periarthropathie des rechten Knies bescheinigten die dortigen Ärzte eine Arbeitsfähigkeit von 100 % für eine körperlich nicht belastende, vorwiegend sitzend zu verrichtende Tätigkeit mit der Möglichkeit zu zwischenzeitlichen Gehpausen. Zwei Jahre später diagnostizierte der Rheumatologe Dr. M.________ indes ein "Chronic regional pain syndrome" (CRPS), welches zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit führe (Bericht vom 20. Juni 2001). Sodann fanden bloss noch psychiatrische und psychosomatische Stellungnahmen Eingang in die Akten (vorerwähntes Gutachten des EPD vom 29. November 2001; Expertise des Dr. B.________, Facharzt für Allgemeine sowie Psychosomatische/-soziale Medizin vom 17. April 2002), nachdem der medizinische Dienst der Invalidenversicherung (zu Recht) angeregt hatte, es sei der von Dr. M.________ zudem geäusserte Verdacht auf das Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung gutachtlich zu klären. Eine einlässliche Erhebung und Beurteilung des aktuellen somatischen Gesundheitsschadens unterblieb dagegen. 
2.3 Die Entstehungsweise des Complex regional pain syndrome (CRPS; synonym: sympathische Reflexdystrophie oder Algodystrophie, Sudeck-Syndrom) ist noch ungeklärt (vgl. Bär/Felder/Kiener [Hrsg.], Algodystrophie [Complex regional pain syndrome I], Luzern 1998, S. 17); indes lassen sich funktionelle Veränderungen im zentralen Nervensystem neurophysiologisch nachweisen (vgl. Urteil D. vom 8. Oktober 2003, U 152/01, Erw. 4.2). Zum spezifischen Beschwerdebild gehört, dass sich Symptome bei körperlichen Tätigkeiten verstärken (Urteil R. vom 29. April 2004, U 43/03, Erw. 4.2 mit Hinweis). Dazu passt der Umstand, dass die vorliegend unternommenen Arbeitsversuche und -trainings, bei denen sich der Versicherte ausweislich der Akten durchwegs motiviert gezeigt hat, trotz bestmöglich angepasster Rahmenbedingungen wegen belastungsabhängiger Zustandsverschlimmerung abgebrochen werden mussten (Berichte der Stiftung für Behinderte Y.________ vom 8. September und 10. November 2000 sowie der Regionalen Werkstatt Z.________ vom 23. Februar 1999). Vorliegend ist offen, inwieweit die Schmerzausweitung der somatoformen Schmerzstörung oder aber dem CRPS zuzuordnen ist; gerade eine Algodystrophie des Knies äussert sich mitunter nicht in sehr spezifischer Weise (vgl. Bär/Felder/Kiener [Hrsg.], a.a.O., S. 51). Die Sachverständigen des EPD liessen diese Fragestellung unbehandelt; eine diesbezügliche Stellungnahme fiele ohnehin nicht in ihre alleinige Beurteilungszuständigkeit. Die Klärung dieses Punktes ist aber schon deshalb unabdingbar, weil die Auswirkungen des CRPS nicht ohne weiteres den Zumutbarkeitsvorgaben unterworfen werden dürfen, wie sie im Falle der psychiatrischen (psychosomatischen) Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung zum Tragen kommen (vgl. dazu nunmehr die je zur Publikation in der Amtlichen Sammlung bestimmten Urteile B. vom 18. Mai 2004, I 457/02, Erw. 7.2-7.4, und N. vom 12. März 2004, I 683/03, Erw. 2.2.3). Eine kohärente Beurteilung aller im Zeitpunkt der strittigen Verfügung zur Diskussion stehenden Ausprägungen des Leidens (primäre Folgen der Knieverletzung wie die Gonarthrose; CRPS; somatoforme Schmerzstörung; depressive Störung) fehlt. 
Die Sache wird zu entsprechender Abklärung an die Verwaltung zurückgewiesen (BGE 122 V 163 oben). Eingeholt werden soll als ergänzende Teilgrundlage einer Gesamtbeurteilung des Gesundheitsschadens insbesondere eine einlässliche rheumatologische Stellungnahme zu Bestand und Auswirkung des CRPS. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. März 2003 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 18. September 2002 aufgehoben und es wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch neu verfüge. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 2. Juli 2004 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: