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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_940/2011 
 
Urteil vom 21. September 2012 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Helsana Versicherungen AG, 
Recht, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
S.________, 
vertreten durch Fürsprecher Dr. René Müller, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 22. November 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die 1924 geborene S.________ leidet an den Folgen eines cerebrovaskulären Insults mit linksseitigem armbetontem motorischem Hemisyndrom und Neclect links sowie an einem demenziellen Syndrom und einem Diabetes mellitus Typ II (Bericht des Dr. med. M.________ vom 3. März 2009). Die Helsana Versicherungen AG, bei der die Versicherte für die obligatorische Krankenpflege versichert ist, erbrachte Leistungen für die Pflege zu Hause. Mit Verfügung vom 15. Dezember 2009 kürzte die Helsana ihre Leistungen für die Zeit ab 16. März 2009 von 172 auf 95,5 Stunden pro Monat; für die Zeit ab 10. Juni 2009 kürzte sie die Leistungen, indem sie, ausgehend von der Feststellung, dass die Hauspflege gleichermassen wie eine Heimpflege wirksam und zweckmässig sei, den Pflegeaufwand nur noch bis zur Höhe der tieferen Pflegeheimtaxen vergütete. Konkret ging die Krankenkasse im zweiten Kürzungsschritt von einem Bedarf an Grund- und Behandlungspflege von monatlich 95,5 Stunden aus und berechnete für die Pflege zu Hause (Spitex-Pflege) Kosten von monatlich Fr. 4'707.-. Demgegenüber belaufen sich die Kosten für die Heimpflege, ausgehend von der Tagestaxe eines Pflegeheims im Kanton Aargau, Pflegestufe BESA 4a, von Fr. 69.- nur auf Fr. 2'070.- im Monat. 
Mit Wiedererwägungsverfügung vom 21. April 2010 erhöhte die Helsana den Leistungsanspruch der Versicherten auf Fr. 112.- pro Tag gemäss der Pflegestufe RAI SE 2; am stundenmässigen Pflegeaufwand von 95,5 Stunden monatlich hielt die Kasse vorerst fest. Auf Einsprache von S.________ hin attestierte die Kasse dieser wiederum weiterhin den ursprünglich geltend gemachten Pflegeaufwand von "rund 170 Stunden" im Monat (Einspracheentscheid vom 8. März 2011). 
 
B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 22. November 2011 gut, soweit es darauf eintrat, hob den Einspracheentscheid vom 8. März 2011 auf und verpflichtete die Helsana, der Versicherten für die Zeit ab 10. Juni 2009 weiterhin die vollen Kosten der Krankenpflege zu Hause zu vergüten. 
 
C. 
Die Helsana führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag auf Aufhebung des Entscheides der Vorinstanz, soweit diese sie zur vollen Kostenübernahme verpflichtet und der Versicherten eine Parteienschädigung zugesprochen habe; ferner sei die Pflegevergütung auf der Grundlage der Heimpflegetaxe von Fr. 112.- im Tag zu begrenzen. 
Das kantonale Versicherungsgericht äussert sich in ablehnendem Sinne zur Beschwerde. S.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2. 
2.1 Nach Art. 24 KVG übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten für die Leistungen gemäss den Art. 25-31 nach Massgabe der in den Art. 32-34 KVG festgelegten Voraussetzungen. Die Leistungen umfassen u.a. Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen, die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär in einem Pflegeheim durch Personen durchgeführt werden, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG in der bis 31. Dezember 2010 gültig gewesenen Fassung). Der Leistungsbereich wird in Art. 7 ff. KLV näher umschrieben. Die seit 1. Januar 2011 geltende neue Fassung von Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG hat inhaltlich keine hier interessierenden Änderungen gebracht. 
 
2.2 Bei Aufenthalt in einem Pflegeheim (Art. 39 Abs. 3 KVG) vergütet der Versicherer gemäss Art. 50 KVG die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege nach Art. 25a KVG
Seit 1. Januar 1998 besteht keine zeitliche Einschränkung mehr für die Pflegeleistungen; die Tarife werden nach Art und Schwierigkeit der notwendigen Leistungen abgestuft (vgl. Art. 7a Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV] in der seit 1. Januar 2011 geltenden Fassung). Ebenfalls auf den 1. Januar 1998 wurde mit Art. 8a eine Bestimmung über das Kontroll- und Schlichtungsverfahren bei Krankenpflege zu Hause in die KLV eingefügt. Nach Absatz 3 dieser Norm dient das Verfahren der Überprüfung der Bedarfsabklärung sowie der Kontrolle von Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungen. Die ärztlichen Aufträge oder Anordnungen sind zu überprüfen, wenn voraussichtlich mehr als 60 Stunden pro Quartal benötigt werden; bei voraussichtlich weniger als 60 Stunden pro Quartal sind systematische Stichproben vorzunehmen. Das nach alt Artikel 9 Abs. 3 KLV, bis Ende 1997 in Kraft gewesene massgebende (limitierte) Zeitbudget wurde auf den 1. Januar 1998 durch eine blosse Kontrollvorschrift ersetzt. Unverändert ist geblieben, dass über eine bestimmte Grenze hinaus (früher je nach Tarifvertrag, neu 60 Stunden pro Quartal) Leistungen nur nach einer vorgängigen Prüfung der Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Massnahme erbracht werden (BGE 126 V 334 E. 1a und b S. 336). 
 
2.3 Nach der in BGE 126 V 334 ff. ausführlich dargelegten Rechtsprechung bedeutet die Anwendbarkeit des im gesamten Leistungsrecht der sozialen Krankenversicherung geltenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit der Behandlung nicht, dass die Krankenversicherer befugt sind, die Vergütung der Spitex-Dienste stets auf jene Leistungen zu beschränken, die sie bei Aufenthalt in einem Pflegeheim zu gewähren hätten. Die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit darf nicht anhand einer strikten Gegenüberstellung der dem Krankenversicherer entstehenden Kosten eines Spitex-Einsatzes einerseits und eines Pflegeheimaufenthalts andererseits erfolgen. Wenn aber - bei gleicher Zweckmässigkeit der Massnahmen - zwischen den Kosten eines Spitex-Einsatzes und denjenigen des Aufenthalts in einem Pflegeheim ein grobes Missverhältnis besteht, kann der Spitex-Einsatz auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der versicherten Person nicht mehr als wirtschaftlich angesehen werden. Dies hat auch dann zu gelten, wenn der Spitex-Einsatz im konkreten Fall als zweckmässiger und wirksamer zu betrachten ist als ein an sich ebenfalls zweckmässiger und wirksamer Heimaufenthalt (BGE 126 V 334 E. 2a-c S. 337 ff.). 
 
3. 
Streitig und zu prüfen ist die Verpflichtung der Helsana zur weiteren Kostenvergütung der nach ärztlicher Anordnung erfolgten Spitex-Pflege ab 10. Juni 2009 und damit zusammenhängend die Frage, ob die Helsana berechtigt ist, die Leistungen auf die Höhe der Heimtaxen zu kürzen. Streitig ist somit, ob im angefochtenen Entscheid, der den Krankenversicherer verpflichtet, ab dem 10. Juni 2009 die gesamten beantragten Hauspflegekosten zu übernehmen, eine Bundesrechtsverletzung zu erblicken ist. 
 
3.1 Die Frage nach der Zweckmässigkeit und Wirksamkeit der Massnahme beurteilt sich primär nach medizinischen Gesichtspunkten, persönliche, familiäre und soziale Umstände sind jedoch auch zu berücksichtigen (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts K 33/02 vom 2. Dezember 2003). Die Versicherte ist nach erlittenem Hirnschlag in den meisten Aktivitäten des täglichen Lebens pflege- und betreuungsbedürftig (Einschätzung der Selbstständigkeit des Dienstleistungsbezügers vom 29. Juni 2009). Das kantonale Gericht stellte fest, nach den Angaben des behandelnden Hausarztes bestünden keine medizinischen oder pflegerischen Gründe, die gegen einen Aufenthalt in einem Langzeitpflegeheim sprechen würden. Es lägen ausschliesslich familiäre Gründe für eine Hauspflege vor, da der Ehemann seine Ehegattin noch nicht weggeben möchte. Es seien bei ihr keine persönliche Entfaltung (Erwerbstätigkeit, Berufsbildung, soziales und politisches Engagement) oder die Erfüllung einer wichtigen gesellschaftlichen Funktion zu berücksichtigen. Aufgrund der gegebenen Umstände könne die Spitex-Pflege im Vergleich zur Heimpflege "gerade noch" als gleichwertig angesehen werden. Die Spitex-Pflege kostet den Krankenversicherer Fr. 8'000.- im Monat; die Heimkosten würden sich auf Fr. 3'400.- monatlich belaufen. Die 2,35-mal höheren Kosten für die Spitex-Pflege könnten noch als wirtschaftlich angesehen werden. Auch in absoluten Zahlen seien jährliche Kosten von Fr. 100'000.- für die Pflege zu Hause noch wirtschaftlich. 
 
3.2 Der Krankenversicherer bestreitet ausschliesslich die Wirtschaftlichkeit der geltend gemachten Vergütung für die Spitex-Pflege, nicht aber die Zweckmässigkeit und Wirksamkeit der Massnahme. Er macht eine Verletzung von Art. 32 Abs. 1 KVG in Verbindung mit Art. 25-31 sowie Art. 34 KVG geltend. Indem das kantonale Gericht die 2,35-mal höheren Kosten für Spitex-Pflege noch als wirtschaftlich qualifiziert, habe es die bundesrechtlichen Vorgaben zur gebotenen Vorgabe der Wirtschaftlichkeit verletzt. Dermassen hohe Spitex-Kosten könnten höchstens noch dann als wirtschaftlich gelten, wenn die Hauspflege im konkreten Fall wirksamer und zweckmässiger sei als eine Heimpflege. Dies treffe nach der Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz aber nicht zu. 
3.3 
3.3.1 Die Spitex-Pflege ist bei der Versicherten nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (E. 1 hievor) gleichermassen wirksam und zweckmässig wie die Pflege in einer stationären Einrichtung. Dies wird denn auch von der Helsana nicht bestritten. 
3.3.2 Bezüglich der Prüfung der Wirtschaftlichkeit hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht beispielsweise in einem Fall bei gleichwertiger Spitex- und Heimpflege ein grobes Missverhältnis zwischen Spitex- und Heimkosten angenommen, in dem die Spitex-Kosten drei bis viermal höher waren (RKUV 2001 Nr. KV 143 S. 19). Bei einer versicherten Person mit rechtsseitigem Hemisyndrom waren die Spitex-Kosten 1,9 bis 2,3-mal höher, indessen immer noch wirtschaftlich. Dabei qualifizierte das Eidgenössische Versicherungsgericht die Heimpflege als leicht weniger wirksam und zweckmässig als die Spitex-Pflege. Die chronisch kranke Person hielt sich bereits 9 Jahre zu Hause auf und wurde von ihrem Ehemann gepflegt. Eine Heimeinweisung hätte voraussichtlich ihren Gemütszustand verschlechtert (RKUV 2001 Nr. KV 162 S. 179). Der Anspruch auf Kostenersatz für die Hauspflege ist sodann bei 48 % höheren Spitex-Kosten (RKUV 2001 Nr. KV 169 S. 261) sowie bei Mehrkosten von 35 % bejaht worden (Urteil K 161/00 vom 25. Mai 2001). 
 
3.4 Im Lichte dieser Rechtsprechung ist der angefochtene Entscheid bundesrechtskonform. Die Beschwerdegegnerin braucht aktenkundig keine Überwachung in der Nacht, sie lebt in intakten familiären Verhältnissen und wird teilweise von ihrem Ehemann gepflegt. Die vorliegend zu vergütenden Kosten für die Spitex-Pflege sind für den Krankenversicherer rund 2,35-mal höher als die Vergütung bei Heimpflege. Die Feststellung im kantonalen Entscheid, unter diesen Umständen könne die Spitex-Pflege "gerade noch" als wirtschaftlich qualifiziert werden, ist nicht zu beanstanden. Dies gilt umso weniger, als es die erklärte Absicht des Gesetz- und Verfassungsgebers ist, generell Kostenvergleiche bei staatlichen Leistungen in einen gesamten volkswirtschaftlichen Rahmen zu stellen. Es kann hier indessen offenbleiben, ob im Hinblick auf Art. 43a Abs. 5 BV, in Kraft seit 1. Januar 2008, am bisherigen krankenversicherungsrechtlichen Begriff der Wirtschaftlichkeit, der sich lediglich auf die Kosten des Krankenversicherers bezieht, festgehalten werden kann; entsprechende Überlegungen blieben im vorliegenden Fall ohne Auswirkungen auf den vorinstanzlich zu Recht bejahten Anspruch der Versicherten auf Spitex-Pflege. 
 
4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der Beschwerdegegnerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 21. September 2012 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Meyer 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer