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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_654/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 21. Januar 2014  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau,  
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
S.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Christine Fleisch, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. Juli 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
S.________ (geb. 1960) bezieht mit Wirkung seit Februar 1998 eine halbe Invalidenrente (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 25. Januar 1999). Im Rahmen einer Überprüfung des Anspruchs (Rentenrevision) kam die IV-Stelle zum Schluss, der Invaliditätsgrad betrage nunmehr null Prozent. Demgemäss hob sie die Invalidenrente mit Wirkung ab Oktober 2012 auf (Verfügung vom 29. August 2012). Mit Verfügung vom 17. Oktober 2012 sah die Verwaltung vor, die halbe Invalidenrente für die Dauer von Wiedereingliederungsmassnahmen weiter auszurichten, dies längstens bis September 2014. 
 
B.   
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die gegen die Verfügung vom 29. August 2012 erhobene Beschwerde gut und verpflichtete die IV-Stelle, S.________ weiterhin eine halbe Invalidenrente auszurichten (Entscheid vom 11. Juli 2013). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Eventuell sei die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung an sie zurückzuweisen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Somit steht dem vorinstanzlichen Sachgericht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur ein, wenn die Vorinstanz diesen missbraucht, insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder willkürlich ausser Acht lässt (BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211; zum Begriff der Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5; Urteil 9C_1019/2012 vom 23. August 2013 E. 1.2.3).  
 
2.   
Die Aufhebung der Invalidenrente erfolgte in Anwendung von lit. a Abs. 1 der am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659; BBl 2011 2723 und 2010 1817]; nachfolgend: SchlBest. zur 6. IV-Revision). Danach werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Abs. 1 findet keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen (Abs. 4). 
 
Beruhte die Zusprechung der Invalidenrente auf einer von lit. a SchlBest. zur 6. IV-Revision erfassten gesundheitlichen Beeinträchtigung, kann im vorgegebenen Zeitrahmen eine voraussetzungslose (namentlich nicht von einer massgebenden Veränderung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG abhängige) Neubeurteilung des Rentenanspruchs stattfinden, sofern, wie hier der Fall, nicht eine der in Abs. 4 genannten Ausnahmesituationen gegeben ist. 
 
3.   
 
3.1. Das kantonale Gericht erkannte, die Aufhebung der Invalidenrente lasse sich nicht auf die SchlBest. zur 6. IV-Revision stützen. Es würdigte die der Verfügung vom 25. Januar 1999 zugrundeliegenden medizinischen Akten (rheumatologisches Gutachten der Rheuma- und Rehabilitationsklinik C.________ vom 29. Juli 1998 und Bericht des Allgemeinmediziners Dr. H.________, vom 12. Januar 1997) und stellte fest, die Rente sei nicht aufgrund eines Beschwerdebildes ohne nachweisbare organische Grundlage zugesprochen worden (E. 5.1 und 5.2). Zur Auffassung des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der IV, bei dem gutachtlich diagnostizierten chronischen Panvertebralsyndrom handle sich um ein (unklares)  syndromales Beschwerdebild (Stellungnahmen vom 26. März 2012 und 14. Juli 2012), erwog die Vorinstanz, nicht jedes syndromale Beschwerdebild falle per se in den Anwendungsbereich der Schlussbestimmung; vorausgesetzt sei, dass das Beschwerdebild pathogenetisch-ätiologisch unklar und ohne nachweisbare organische Grundlage sei. Der Begriff "Syndrom" umfasse neben Symptomen mit unklarer Ursache auch "Komplexe von Symptomen, die nicht durch eine einheitliche Pathogenese bedingt sind, sondern durch verschiedene, zusammenwirkende Ursachen ausgelöst werden" (http://flexikon.doccheck.com/de/Syndrom). Solche zusammenwirkende Ursachen lägen hier in Form von multiplen Veränderungen der Wirbelsäule vor. Mit Blick auf die organische Genese falle das bei der Beschwerdeführerin vorhandene Beschwerdebild nicht unter die SchlBest. zur 6. IV-Revision (E. 5.3).  
 
3.2. Die beschwerdeführende Verwaltung verweist auf die Stellungnahmen des RAD und wendet ein, die Skoliose der Wirbelsäule (als wesentlicher Befund im Rahmen des Panvertebralsyndroms) könne die geltend gemachten Beschwerden nicht erklären. Diese seien vielmehr auf die Verrichtung von (angesichts einer Muskelinsuffizienz) nicht rückenadaptierten schweren Putzarbeiten zurückzuführen. Somit seien nicht versicherte Faktoren für die rentenauslösenden gesundheitlichen Beschwerden verantwortlich gewesen (Ziff. 2.3 und 2.4 der Beschwerdeschrift).  
 
3.3. Unklare Beschwerdebilder, wie sie in den SchlBest. zur 6. IV-Revision vorausgesetzt werden, charakterisieren sich durch den Umstand, dass mittels klinischer psychiatrischer Untersuchungen weder Pathologie noch Ätiologie erklärbar sind (zur amtlichen Publikation bestimmtes Urteil 8C_972/2012 vom 31. Oktober 2013 E. 9.4). Ein solcher Fall liegt hier nach nicht offensichtlich unrichtiger Feststellung der Vorinstanz über eine organische Beschwerdeursache nicht vor (vgl. oben E. 1). Zwar erscheint fraglich, ob die Einschätzung der funktionellen Folgen (vollständig) mit dem diagnostizierten Gesundheitsschaden korreliert. Das Bundesgericht hat indes unlängst klargestellt, dass solche Fälle nicht unter die SchlBest. zur 6. IV-Revision fallen (Urteil 9C_379/2013 vom 13. November 2013 E. 3.2.3 mit Hinweisen auf die Gesetzgebungsmaterialien).  
 
Verletzt somit die vorinstanzliche Feststellung, die Voraussetzungen für eine Rentenüberprüfung gemäss lit. a SchlBest. zur 6. IV-Revision seien nicht erfüllt, kein Bundesrecht, so kann (wie im zitierten Urteil 9C_379/2013, a.a.O. mit Hinweisen) offen gelassen werden, ob das Anwendungsfeld der Schlussbestimmung von vornherein auf Diagnosen beschränkt ist, welche ausdrücklich in die Rechtsprechung über die Zumutbarkeitsbeurteilung bei der somatoformen Schmerzstörung und gleichgestellten Leiden (BGE 131 V 49; 130 V 352; zuletzt BGE 139 V 346 E. 2) einbezogen wurden (vgl. Rz. 1002 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen [BSV] über die Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG [KSSB], in der hier anwendbaren, ab 1. Januar 2012 gültigen Fassung). 
 
4.   
Die Vorinstanz hielt ergänzend fest (E. 5.4), die strittige Rentenaufhebung sei nicht mit der substituierten Begründung zu schützen, es liege ein Fall der Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG vor (vgl. BGE 125 V 368 E. 2 S. 369; Urteil 9C_303/2010 vom 5. Juli 2010 E. 4 = SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53). Hiefür wäre vorausgesetzt, dass kein vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügung möglich, also nur dieser einzige Schluss denkbar ist (Urteil 8C_1012/2008 vom 17. August 2009 E. 4.1 = SVR 2010 IV Nr. 5 S. 10; Urteile 9C_700/2013 vom 26. Dezember 2013 E. 4 und 9C_587/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 3.3.1). 
 
Die Sachverständigen der Rehaklinik C.________ hatten im Sommer 1998 festgehalten, die geklagten Beschwerden seien mit den klinischen und röntgenologischen Befunden zu vereinbaren. Allerdings attestierten sie eine Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent nur in Bezug auf die angestammten (eher rückenbelastenden) Tätigkeiten einer Putzfrau und Angestellten im Service (Gutachten vom 29. Juli 1998 S. 9 ff.). In der Verfügung vom 25. Januar 1999 ging die IV-Stelle ohne Weiteres davon aus, es sei (generell) bloss eine halbtägige Erwerbstätigkeit zumutbar. Nach Art. 28 Abs. 2 der im Verfügungszeitpunkt in Kraft stehenden Fassung des IVG war für den Einkommensvergleich indes das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person  durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, massgeblich. Anhand der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung (BGE 125 V 383 E. 3 S. 389) kann trotzdem nicht gesagt werden, die IV-Stelle habe den Leistungsanspruch aufgrund falscher Rechtsregeln oder in unrichtiger Anwendung der massgeblichen Bestimmungen beurteilt. Sie konnte sich dabei nämlich auf den behandelnden Arzt Dr. H.________ stützen. Dieser hatte im Bericht vom 12. Januar 1997 festgehalten, die Versicherte vermöge neben ihrer Arbeit als Hausfrau ca. 20 Stunden  leichte ausserhäusliche Arbeit zu leisten. Zu jener Zeit war es durchaus noch praxiskonform, einem Hausarztbericht bei der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit im Sinne des IVG massgebliches Gewicht zu geben; erst im Verlauf des Jahres 1999 wurde in einem amtlich publizierten Urteil (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353 mit Hinweisen auf unveröffentlichte Präjudizien) eine Beweiswürdigungsrichtlinie etabliert, welche den Beweiswert von Hausarztberichten deutlich relativierte. Insoweit erscheint die Rentenzusprache aus damaliger Sicht nicht als zweifellos unrichtig. Mithin muss an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob die Praxis zur substituierten Begründung (gerichtliche Aufhebung oder Herabsetzung des Leistungsanspruchs nach Art. 53 Abs. 2 statt - wie administrativ verfügt - nach Art. 17 Abs. 1 ATSG) im Zusammenhang mit einer fehlgeschlagenen Anwendung der SchlBest. zur 6. IV-Revision überhaupt zum Tragen kommen kann.  
 
5.   
Der angefochtene Entscheid verletzt auch anderweitig kein Bundesrecht (vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254; 110 V 48 E. 4a S. 53), namentlich nicht mit der ergänzenden Schlussfolgerung, es liege kein Revisionsgrund nach Art. 17 ATSG vor. Demgemäss bleibt es über September 2012 hinaus beim Leistungsanspruch auf eine halbe Invalidenrente. 
 
6.   
Das Gesuch der IV-Stelle um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit diesem Entscheid gegenstandslos. 
 
7.   
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Januar 2014 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub