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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_603/2022  
 
 
Urteil vom 6. Juni 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Räber, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 1. September 2022 (5V 21 283). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, geboren 1972, meldete sich unter Hinweis auf einen Bandscheibenvorfall erstmals im Juli 2015 und dann erneut im Juli 2016 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern lehnte einen Anspruch auf Invalidenrente mit den Verfügungen vom 30. Mai 2016 und vom 5. Oktober 2017 ab.  
Im November 2018 meldete sich A.________ abermals an. Nach Einholung eines polydisziplinären Gutachtens des Zentrums für Interdisziplinäre Medizinische Begutachtungen AG, ZIMB, Schwyz, vom 8. März 2021 mit Ergänzung vom 27. Mai 2021 lehnte die IV-Stelle einen Anspruch auf Invalidenrente mit Verfügung vom 29. Juli 2021 ab. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 1. September 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des kantonalen Urteils sei ihm, allenfalls nach Einholung eines Gerichtsgutachtens beziehungsweise unter Zurückweisung der Sache an die Vorinstanz, eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Des Weiteren wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht. 
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).  
 
2.  
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der IV-Stelle am 29. Juli 2021 verfügte Ablehnung eines Rentenanspruchs bestätigte. Zur Frage steht die Beurteilung der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht gestützt auf das ZIMB-Gutachten. 
 
3.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
4.  
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG), insbesondere bei psychischen Leiden (BGE 143 V 409 E. 4.2.1; 143 V 418; 141 V 281), zum Rentenanspruch (Art. 28 IVG) sowie zur Ermittlung des Invaliditätsgrads nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der allgemeinen Regeln über den Beweiswert eines ärztlichen Berichts oder Gutachtens (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis). Zu ergänzen ist, dass auf ein versicherungsexternes Gutachten praxisgemäss abzustellen ist, sofern nicht konkrete Indizien gegen dessen Zuverlässigkeit sprechen (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/bb). Die unterschiedliche Natur von Behandlungsauftrag der therapeutisch tätigen (Fach-) Person einerseits und Begutachtungsauftrag des amtlich bestellten fachmedizinischen Experten anderseits (BGE 124 I 170 E. 4) lässt es rechtsprechungsgemäss nicht zu, ein Administrativ- oder Gerichtsgutachten stets in Frage zu stellen und zum Anlass weiterer Abklärungen zu nehmen, wenn die behandelnden Arztpersonen beziehungsweise Therapiekräfte zu anderslautenden Einschätzungen gelangen. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen sich eine abweichende Beurteilung aufdrängt, weil diese wichtige - und nicht rein subjektiver Interpretation entspringende - Aspekte benennen, die bei der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind (BGE 135 V 465 E. 4.5; 125 V 351 E. 3b/cc; SVR 2017 IV Nr. 7 S. 19, 9C_793/2015 E. 4.1; Urteile 8C_630/2020 vom 28. Januar 2021 E. 4.2.1; 8C_370/2020 vom 15. Oktober 2020 E. 7.2). 
 
5.  
 
5.1. Gemäss kantonalem Gericht ist das ZIMB-Gutachten vom 8. März 2021 voll beweiskräftig, woran insbesondere auch die im vorinstanzlichen Verfahren eingereichten jüngsten Berichte der behandelnden Psychiaterin vom 9. August 2021 und vom 5. Juli 2022 nichts ändern könnten. Gestützt darauf sei die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Hinsicht nicht eingeschränkt. Aus somatischer Sicht bestehe in der angestammten Tätigkeit im Fassaden- beziehungsweise Fensterbau eine lediglich 50%ige Arbeitsfähigkeit; körperlich leichte bis intermittierend mittelschwere Verweistätigkeiten unter Wechselbelastung und Vermeidung von wiederholtem Heben und Tragen von Lasten über 15 kg sowie des Einsatzes der oberen Extremitäten oberhalb des Brustniveaus seien dem Beschwerdeführer jedoch vollschichtig zumutbar. In erwerblicher Hinsicht ermittelte das kantonale Gericht bei einem hypothetisch im Gesundheitsfall erzielbaren (Validen-) Einkommen von Fr. 76'417.- und einem auf statistischer Basis berechneten zumutbaren Verdienst nach Eintritt der Gesundheitsschädigung (Invalideneinkommen) von Fr. 68'367.- einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 11 %. Ob ein leidensbedingter Abzug zu gewähren sei, liess es bei diesem Ergebnis offen.  
 
5.2. Der Beschwerdeführer bestreitet die Beweiskraft des psychiatrischen Gutachtens und macht eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit geltend. Das Gutachten sei nur unzureichend begründet und widerspreche der Einschätzung seiner behandelnden Psychiaterin und Psychotherapeutin, welche trotz jahrelanger Betreuung auch weiterhin von einer mittelgradigen depressiven Episode ausgingen, bedingt durch die permanenten Schmerzen und erfolglosen Therapieversuche, die die psychische Situation noch zunehmend verschlechterten und einen geregelten Alltag verhinderten. Zudem sei im Gutachten insbesondere unberücksichtigt geblieben, dass er wegen seiner Schmerzen auf die Einnahme von Opiaten (Palexia) angewiesen sei, was sich seinerseits - im Sinne einer Nebenwirkung gemäss Packungsbeilage - wiederum negativ auf seine psychische Leistungsfähigkeit auswirke beziehungsweise zu einer Abhängigkeit führe. Es hätte diesbezüglich weitergehender Untersuchungen bedurft, mit denen allenfalls eine andere Diagnosestellung einher gegangen wäre.  
 
6.  
Zu den letztinstanzlich wiederholten Einwänden des Beschwerdeführers hat sich die Vorinstanz bereits eingehend geäussert. Inwiefern sie offensichtlich unrichtige Feststellungen in sachverhaltlicher Hinsicht getroffen oder Bundesrecht verletzt haben sollte, vermag der Beschwerdeführer nicht aufzuzeigen. 
Dass Frau Dr. med. B.________ sowie die Psychotherapeutin C.________ mit ihren Berichten vom 21. Januar 2021 (wozu die Gutachter am 27. Mai 2021 Stellung genommen haben), vom 9. August 2021 und vom 5. Juli 2022 objektive Aspekte eingebracht hätten, die im Gutachten unberücksichtigt geblieben wären, wird beschwerdeweise nicht geltend gemacht und ist nicht erkennbar. Es sind gestützt darauf daher keine Indizien auszumachen, die gegen die Zuverlässigkeit der gutachtlichen Einschätzung des Gesundheitszustandes aus psychiatrischer Sicht und die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit sprächen. Gleiches gilt aber auch hinsichtlich des Vorwurfs des Beschwerdeführers, der psychiatrische Gutachter habe eine Schmerzstörung geleitet von subjektiver Ergebnisorientiertheit und fehlender Objektivität unter blossem Hinweis auf ein hinreichendes Aktivitätsniveau sowie auf aggravierendes Verhalten verworfen, obwohl sich sein Alltag auf Essen und Trinken, die Beschäftigung am PC und Fernsehen beschränke. Der Vorwurf, dass die Begutachtung nicht lege artis erfolgt sei, lässt sich nicht halten. Der psychiatrische Teilgutachter beschrieb die von ihm als auffällig erachteten Diskrepanzen zwischen den subjektiven Beschwerdeschilderungen einerseits und dem von ihm wahrgenommenen Verhalten des Exploranden in der Untersuchungssituation anderseits. Dies tat er insbesondere dahingehend, dass die vom Beschwerdeführer subjektiv vorgebrachte Intensität der Beschwerden in einem Missverhältnis stehe zur Vagheit seiner Schilderung der einzelnen Symptome. Zudem sei sie auch nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der nicht leidensgerechten Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe; unter anderem würden keine Antidepressiva eingenommen.  
Was die Opiateinnahme betrifft, erkannte die Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer mehrfach über die unerwünschten Wirkungen bei Langzeiteinnahme aufgeklärt worden sei, dass seine Angaben über die Menge der eingenommenen Medikamente schwankten, dass aber jedenfalls in keinem der ärztlichen Berichte von einem Abhängigkeitssyndrom die Rede gewesen sei und zudem sämtliche Gutachter über den Konsum dieses Medikaments informiert gewesen seien. Auch insoweit vermag der Beschwerdeführer keine offensichtlich unrichtigen Feststellungen durch das kantonale Gericht darzutun oder Mängel an der Beweiskraft des Gutachtens aufzuzeigen.  
Zusammenfassend ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz auf eine volle Beweiskraft des ZIMB-Gutachtens schloss und darauf abstellte. Es bestand bei diesem Ergebnis von vornherein kein Bedarf an weiteren Abklärungen und damit auch nicht zur Bemühung der Prinzipien der antizipierten Beweiswürdigung. Die vorinstanzlichen Feststellungen zu den erwerblichen Auswirkungen der Gesundheitsschädigung werden beschwerdeweise nicht angefochten und geben keinen Anlass zu Weiterungen. 
 
7.  
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde in Bezug auf die erfolgte Verneinung eines Rentenanspruchs nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Thomas Räber wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Juni 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo