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[AZA 0/2] 
1A.153/2000/bie 
 
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG 
********************************** 
 
27. Oktober 2000 
 
Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident 
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter 
Aeschlimann, Féraud und Gerichtsschreiber Sassòli. 
 
--------- 
 
In Sachen 
G. O.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Doris Farner-Schmidhauser, Ankerstrasse 61, Postfach 1169, 8026 Zürich, 
 
gegen 
Direktion der Justiz und des Innern des KantonsZürich, Kantonale Opferhilfestelle, Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, 
 
betreffend 
Art. 16 Abs. 3 OHG 
(Opferhilfe, Verwirkungsfrist), hat sich ergeben: 
 
A.-Mit Eingaben vom 11. und 18. November 1998 reichte G. O.________ bei der damaligen Direktion der Justiz des Kantons Zürich ein Opferhilfegesuch um Ausrichtung einer Entschädigung an sie und einer Genugtuung an sie und ihre Tochter ein. Sie machte geltend, sie sei zwischen März 1992 und dem 13. April 1993 vom Vater ihrer Tochter mit dem HI-Virus infiziert worden, was sie im Dezember 1993 festgestellt habe. 
 
Am 18. Oktober 1994 hatte G. O.________ Strafanzeige gegen den Täter eingereicht. Dieser wurde vom Geschworenengericht des Kantons Zürich am 9. November 1998 unter anderem der schweren Körperverletzung sowie des Verbreitens menschlicher Krankheiten für schuldig befunden. 
Im Urteil wurden auch G. O.________ Schadenersatz sowie ihr und ihrer Tochter Genugtuungssummen zugesprochen. 
 
Am 22. Januar 1999 wies die Direktion der Justiz und des Inneren des Kantons Zürich das Gesuch von G. O.________ wegen Verwirkung ihrer Ansprüche nach Opferhilfegesetz ab. Hiergegen erhob die Gesuchstellerin Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit dem Antrag, den Entscheid der Direktion aufzuheben und festzustellen, sie habe ihr Gesuch rechtzeitig eingereicht. Diese Beschwerde wurde am 29. Februar 2000 abgewiesen. 
 
B.- Gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts gelangt G. O.________ mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragt, dieses Urteil aufzuheben sowie festzustellen, dass ihr Gesuch rechtzeitig eingereicht worden sei und sie Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung habe. Der Staat Zürich sei insbesondere zu verpflichten, ihr eine Genugtuung von Fr. 80'000.-- zuzüglich 5% Zins seit 
1. Januar 1994 zu bezahlen. Eventualiter beantragt sie, das Verfahren an das Sozialversicherungsgericht zurückzuweisen. 
 
Die Direktion der Justiz und des Innern und das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verzichten auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Justiz vertritt in seiner Vernehmlassung die Auffassung, das Opferhilfegesuch sei verspätet gewesen, da die Verwirkungsfrist spätestens mit dem Einreichen der Strafanzeige begonnen habe. Zu diesem Zeitpunkt habe G. O.________ gewusst, dass ihre Ansteckung ein strafrechtlich relevantes Verhalten bilden könnte. G. O.________ hat sich zu dieser Vernehmlassung geäussert. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Gegen die Verweigerung der Opferhilfe steht grundsätzlich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen (BGE 126 II 237 E. 1a S. 239 mit Hinweisen). Das Sozialversicherungsgericht hat als letzte kantonale Instanz im Sinne des Art. 98 lit. g OG entschieden. Der Ausschlussgrund des Art. 99 lit. h OG kommt nicht zum Zuge, weil das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 4. Oktober 1991 (OHG; SR 312. 5) einen Anspruch auf die streitigen Leistungen (Art. 11 ff. OHG) einräumt. Die Ansprüche der Beschwerdeführerin wurden im kantonalen Verfahren als verwirkt erklärt, weshalb die Rechtsuchende nach Art. 103 lit. a OG zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert ist. 
b) Zulässige Beschwerdegründe sind sowohl die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Überschreitung oder Missbrauchs des Ermessens) als auch die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts (Art. 104 OG). Da es sich bei der kantonalen Vorinstanz um eine richterliche Behörde handelt, kann das Bundesgericht jedoch nur eingreifen, wenn der Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 105 Abs. 2 OG). 
 
c) Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt, weshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten ist. 
 
2.-a) Nach Art. 16 Abs. 3 OHG muss das Opfer "die Gesuche um Entschädigung und Genugtuung innert zwei Jahren nach der Straftat bei der Behörde einreichen; andernfalls verwirkt es seine Ansprüche.. " 
 
aa) Der Wortlaut von Art. 16 Abs. 3 OHG verlangt für das Einsetzen des Fristenlaufes eine "Straftat" ("infraction", "reato"). Eine Straftat im Sinne des OHG liegt grundsätzlich vor, wenn der objektive Straftatbestand erfüllt und kein Rechtfertigungsgrund gegeben ist (BGE 125 II 265 E. 2a/bb S. 268; 122 II 211 E. 3b S. 215, je mit Hinweisen. 
 
Mit der relativ kurzen Verwirkungsfrist, die grundsätzlich weder unterbrochen noch wiederhergestellt werden kann, wollte der Gesetzgeber die Opfer dazu anhalten, sich rasch zu entscheiden, ob sie entsprechende Ansprüche erheben wollen. Zudem soll damit sichergestellt werden, dass der Entscheid der Opferhilfebehörde möglichst rasch erfolgen kann, in einem Zeitpunkt, in dem die genauen Umstände der Straftat noch eruierbar sind (BGE 126 II 97 E. 2c S. 100; 123 II 241 E. 3c S. 243, je mit Hinweisen). Ferner ist auch dem berechtigten Interesse des entschädigungspflichtigen Kantons Rechnung zu tragen, allfällige Regressforderungen gegenüber dem Täter rechtzeitig (vor Ablauf der Verjährung) anbringen zu können (vgl. Peter Gomm, Einzelfragen bei der Ausrichtung von Entschädigung und Genugtuung nach dem Opferhilfegesetz, in: Solothurner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1998, 1998, S. 689). 
 
bb) Diese Überlegungen gelten allerdings nur, wenn es dem Opfer nicht faktisch verunmöglicht ist, innerhalb der Verwirkungsfrist ein substanziiertes Opferhilfegesuch zu stellen. Andernfalls würden Sinn und Zweck des OHG unterlaufen (vgl. BGE 123 II 241 E. 3c S. 243). Zwar müssen im Zeitpunkt der Einreichung des Opferhilfegesuches die Tatbestandsmerkmale noch nicht durch Strafuntersuchung oder Anklageerhebung konkretisiert oder gar durch ein rechtskräftiges Urteil nachgewiesen sein. Nach Treu und Glauben muss dem Opfer allerdings ein Minimum an Informationen über die Straftat bzw. deren Umstände und Schadensfolgen vorliegen, die es ihm möglich und zumutbar machen, ein ausreichend substanziiertes Opferhilfegesuch zu stellen (vgl. BGE 126 II 97 E. 2e S. 101 f.). So hat das Bundesgericht entschieden, dass bei Straftaten, deren Schadensfolgen für das Opfer erst einige Zeit nach dem tatbestandsmässigen Verhalten eintreten bzw. erkennbar werden, die Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG erst ab Eintritt des Erfolges einsetzt (vgl. betreffend einer Ansteckung des Opfers mit dem HI-Virus und späterem Ausbruch von AIDS, zur Veröffentlichung bestimmter Entscheid vom 30. Juni 2000 i.S. X. 
E. 4-6). 
 
b) Die Beschwerdeführerin räumt ein, dass sie ihre HIV-Infektion Ende 1993 erkannt und diese sogleich auf den Täter zurückgeführt habe. Sie macht jedoch geltend, angesichts der damals noch nicht gefestigten Gerichtspraxis zur strafrechtlichen Qualifikation einer solchen Ansteckung habe sie erst mit der Verurteilung des Täters mit Sicherheit gewusst, dass sie Opfer einer Straftat gewesen sei. Vorher hätten auch Unsicherheiten über die Möglichkeit bestanden, die Straftat dem Täter nachzuweisen. Ohne dies näher zu begründen, behauptet die Beschwerdeführerin ebenfalls, vor Ende 1998 hätte sie ihren Schaden noch gar nicht beziffern können. 
 
c) aa) Das Opferhilfegesetz bezweckt, Opfern von schweren Straftaten im Sinne von Art. 2 OHG rasch und auf möglichst unbürokratische Weise wirksame Hilfe zu leisten, und zwar unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst und verurteilt worden ist (vgl. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 OHG). Da das Vorliegen des objektiven Tatbestands einer Straftat genügt, beginnt auch die Verwirkung der Ansprüche, sobald der objektive Tatbestand und der Eintritt des Erfolges bekannt sind. Dabei muss es genügen, dass das Opfer die Tatsachen kennt, welche juristisch als Straftat qualifiziert werden können. Die Qualifikation selbst ist naturgemäss den Strafgerichten bzw. den Opferhilfebehörden überlassen. Ansonsten müssten Opfer je nach ihren juristischen Kenntnissen und ihrer eigenen Qualifikation des sie schädigenden Verhaltens unterschiedlich behandelt werden. 
 
Die eingetretene Verwirkungsfrist könnte dem Opfer nur dann nicht entgegengehalten werden, wenn dies gegen Treu und Glauben verstossen würde (vgl. BGE 123 II 241 E. 3 S. 242 ff. und Gomm, a.a.O., S. 689 f.). Eine voreilige und sich als falsch herausstellende oder beweismässig nicht genügend untermauerte Qualifikation als Straftat oder ein noch nicht bis ins Letzte bekannter Schaden bedeuten jedoch für das Opfer kein Risiko, das nach Treu und Glauben (vgl. Art. 9 BV) ausschlösse, vom Opfer zu verlangen, seine Ansprüche rechtzeitig geltend zu machen. Das Verfahren ist unentgeltlich (vgl. Art. 16 Abs. 1 OHG), und es werden keine hohen Anforderungen an die Substanziierung von Straftat und Schaden gestellt (vgl. Art. 16 Abs. 2 OHG; BGE 126 II 97 E. 2c S. 100 f.; 125 II 265 E. 2c/aa S. 270, je mit Hinweisen und Peter Gomm/Peter Stein/Dominik Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern, 1995, Art. 16 Rz. 24). 
 
bb) Spätestens mit ihrer Strafanzeige vom 18. Oktober 1994 hat die Beschwerdeführerin gezeigt, dass sie selbst der Meinung war, Opfer einer Straftat gewesen zu sein. Zu diesem Zeitpunkt gab es für sie keinerlei Veranlassung mehr, den Ausgang des von ihr ausgelösten Strafverfahrens abzuwarten, bevor sie Ansprüche nach OHG stellte. Eine Verletzung der gesetzlichen Informations- und Beratungspflichten kann zwar Ausnahmen von den Verwirkungsfolgen rechtfertigen (vgl. BGE 123 II 241 E. 3e-f S. 244 f.). Spätestens am 8. November 1994 vergewisserte sich jedoch die Bezirksanwaltschaft Bülach bei der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin, dass diese auch über ihre Rechte als Opfer einer Straftat aufgeklärt worden war, was die Beschwerdeführerin selbst in einer polizeilichen Einvernahme vom 7. März 1995 bestätigte. Auch den Umfang ihres Schadens kannte sie damals im von der Rechtsprechung geforderten Ausmass (vgl. BGE 126 II 97 E. 2c S. 101 mit Hinweisen), schreibt sie doch in ihrer Beschwerde, sie sei seit Januar 1994 invalid und erhalte seit September 1994 Medikamente mit schweren Nebenwirkungen. 
Somit waren ihre Ansprüche nach OHG mit Sicherheit verwirkt, als sie im November 1998 ein Opferhilfegesuch einreichte. Das Sozialversicherungsgericht hat daher die Beschwerde zu Recht abgewiesen. 
 
 
3.- Nach dem Gesagten sind die opferhilferechtlichen Ansprüche der Beschwerdeführerin auf Entschädigung und Genugtuung als verwirkt anzusehen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit als unbegründet abzuweisen. Das Verfahren ist kostenlos (Art. 16 Abs. 1 OHG; vgl. BGE 122 II 211 E. 4b S. 219). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
2.- Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.- Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich (Kantonale Opferhilfestelle), dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich (II. Kammer) sowie dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt. 
 
______________ 
Lausanne, 27. Oktober 2000 
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Der Präsident: 
 
Der Gerichtsschreiber: