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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_321/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 15. August 2017  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Kneubühler, 
Gerichtsschreiberin Pedretti. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwältin Ilona Zürcher, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt St. Gallen, 
Schützengasse 1, 9001 St. Gallen, 
Regionales Zwangsmassnahmengericht, Kreisgericht St. Gallen, Bohl 1, 9004 St. Gallen. 
 
Gegenstand 
Untersuchungshaft, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 22. Juni 2017 
der Anklagekammer des Kantons St. Gallen. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Gegen A.________ läuft ein Strafverfahren wegen des Verdachts auf versuchte vorsätzliche Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22 StGB). Ihm wird vorgeworfen, am 11. März 2017 B.________, die Nachbarin seiner Freundin, nach einem Streit im Halsbereich massiv gewürgt zu haben. Das mutmassliche Opfer erlitt gemäss einer ersten Untersuchung des Instituts für Rechtsmedizin (IRM) einen Bruch des Zungenbeins sowie des Schildknorpels, ausserdem einen Mittelfussbruch, Punktblutungen an den Augenlidern, Augenbindehäuten und im Mund sowie im Gesicht. Gemäss einem Gutachten des IRM vom 3. April 2017 wurde bei A.________ Alkohol und Kokain im Blut sowie THC-Carbonsäure im Urin nachgewiesen. 
 
B.   
Die Stadtpolizei St. Gallen nahm A.________ unmittelbar nach der mutmasslichen Tatbegehung vor Ort vorläufig fest. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft versetzte ihn der Zwangsmassnahmenrichter des Kreisgerichts St. Gallen mit Entscheid vom 15. März 2017 zunächst bis zum 15. Mai 2017 in Untersuchungshaft. Am 4. Mai 2017 stellte A.________ ein Haftentlassungsgesuch. Am 11. Mai 2017 wurde dieses Gesuch abgewiesen und die Haft bis zum 15. Juli 2017 verlängert. Eine Beschwerde A.________s gegen diesen Entscheid wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 22. Juni 2017 ab. 
 
C.   
Gegen diesen Entscheid führt A.________ am 24. Juli 2017 Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des Entscheids der Anklagekammer und seine sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft. Sodann sei ihm die amtliche Verteidigung mit Rechtsanwältin Ilona Zürcher als Rechtsvertreterin zu bewilligen. 
Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Anklagekammer verweist auf ihren Entscheid und verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Zwangsmassnahmengericht hat sich nicht vernehmen lassen. Der Beschwerdeführer hält in der Replik an seinen Anträgen fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid der Anklagekammer. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde. Ihre diesbezüglichen Feststellungen können nur gerügt bzw. vom Bundesgericht von Amtes wegen berichtigt oder ergänzt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig (d.h. willkürlich) sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 bzw. Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.   
Gemäss Art. 221 StPO ist Untersuchungshaft nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ein im Gesetz genannter Haftgrund vorliegt. Überdies hat die Haft wie alle strafprozessualen Zwangsmassnahmen verhältnismässig zu sein (vgl. Art. 197 StPO) und sie darf nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO). 
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer weist den Tatvorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung zurück. Insbesondere bestreitet er, das mutmassliche Opfer B.________ gewürgt zu haben. Zugleich führt er in seiner Beschwerde aber auch aus, er habe am betreffenden Tag neben diversen Medikamenten Alkohol und erstmalig Kokain konsumiert. Er könne sich nur noch "sehr dunkel" an den Vorfall erinnern, habe aber keinesfalls in Kauf genommen, dass B.________ stürbe oder verletzt würde. Anderslautende Aussagen von ihm selbst oder seiner Partnerin C.________ gegenüber der Polizei würden bestritten; er könne sich nicht an solche erinnern.  
 
3.2. Mit seinen Vorbringen übersieht der Beschwerdeführer insbesondere, dass das Bundesgericht bei der Überprüfung des allgemeinen Haftgrundes des dringenden Tatverdachts keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen hat. Macht ein Inhaftierter geltend, er befinde sich ohne ausreichenden Tatverdacht in strafprozessualer Haft, ist vielmehr zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für ein Verbrechen oder Vergehen und eine Beteiligung des Beschwerdeführers an dieser Tat vorliegen, die Justizbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Im Haftprüfungsverfahren genügt dabei der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte (vgl. BGE 137 IV 122 E. 3.2 S. 126; Urteile 1B_194/2017 vom 1. Juni 2017 E. 5.2; 1B_203/2016 vom 17. Juni 2016 E. 3.3.2).  
 
3.3. Die Vorinstanz hat festgehalten, die Polizei habe den Beschwerdeführer bei ihrem Erscheinen in kniender Position neben der auf dem Rücken liegenden B.________ vorgefunden, wobei er seine mit Lederhandschuhen bekleideten Hände in ihrem Kopfbereich gehalten habe. Die bei ihr durchgeführte ärztliche Untersuchung habe Befunde ergeben, welche auf eine Kompression der Halsgefässe bzw. massives Würgen zurückgeführt werden müssten. Die Aussagen von B.________ bezüglich des Vorfalls seien auch nach einer Konfrontationseinvernahme klar, und der Beschwerdeführer selbst bestreite die Tathandlung an sich nicht, sondern bloss die Tötungsabsicht. Gemäss der Aussage eines Polizeibeamten habe er jedoch erklärt, er habe B.________ erwürgen wollen.  
An diesen, für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (vgl. oben E. 1.2) vermögen die ohnehin pauschal vorgebrachten Einwände des Beschwerdeführers nichts zu ändern, zumal er selbst angibt, sich (aufgrund seines Drogen- und Medikamentenkonsums) nur noch vage an die damaligen Vorkommnisse zu erinnern. Gemäss dem Polizeirapport vom 12. März 2017hat er anlässlich einer ersten Befragung selbst angegeben, B.________ gewürgt zu haben. Diese Erklärung stimmt mit deren eigenen Darstellung des Tathergangs sowie der Aussage seiner Freundin C.________ überein. Unterschiedliche Angaben haben die drei Personen lediglich zum Tathergang und zum Anlass des Angriffs gemacht. Damit kann im jetzigen Verfahrensstadium ohne weiteres von einem dringenden Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer ausgegangen werden; wie seine Handlungen in subjektiver Hinsicht und mit Blick auf die Schuldfähigkeit einzuschätzen sein werden, braucht an dieser Stelle nicht beurteilt zu werden, sondern wird zum gegebenen Zeitpunkt vom Sachgericht zu würdigen sein. Die weiteren Ausführungen des Beschwerdeführers zum dringenden Tatverdacht, insbesondere zu den Handschuhen, der angeblichen "Plagerei" von B.________ und der früheren Kokainabhängigkeit von C.________, sind nicht entscheidwesentlich und bleiben folglich ohne Beachtung. 
 
4.   
Ist beim Beschwerdeführer ein dringender Tatverdacht zu bejahen, bleibt zu prüfen, ob ein gesetzlicher Haftgrund nach Art. 221 StPO vorliegt. Vorliegend hat die Vorinstanz befunden, es sei von Fluchtgefahr auszugehen. 
 
4.1. Beim Haftgrund der Fluchtgefahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO geht es um die Sicherung der Anwesenheit der beschuldigten Person im Verfahren. Nach der Rechtsprechung braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Bei der Beurteilung, ob Fluchtgefahr vorliegt, sind die gesamten konkreten Verhältnisse zu berücksichtigen. Es müssen Gründe bestehen, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Miteinzubeziehen sind die familiären Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und die Kontakte zum Ausland (Urteil 1B_171/2015 vom 27. Mai 2015 E. 6.3).  
 
4.2. Die Vorinstanz hat zunächst erwogen, dem Beschwerdeführer drohe eine empfindliche Freiheitsstrafe, was einen gewichtigen Anreiz zur Flucht darstelle. Zudem eigne ihm eine gewisse Impulsivität, Unberechenbarkeit und Suizidalität, was ihn zu einer unüberlegten Handlung - wie einer Flucht - verleiten könnte. Zwar pflege er eine Paarbeziehung zu einer in der Schweiz wohnhaften Frau, doch gebe es in dieser Beziehung offenbar Schwierigkeiten. Sodann sei der Beschwerdeführer in der Schweiz weder beruflich noch familiär oder sozial integriert, wogegen er in Österreich eine vierjährige Tochter habe. Insgesamt lägen hinreichende Hinweise für das Bejahen von Fluchtgefahr vor.  
Diese Erwägungen sind insgesamt geeignet, ein ernstliches Risiko darzutun, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Entlassung aus der Untersuchungshaft dem Strafverfahren in der Schweiz durch Flucht entziehen könnte. Dafür spricht, wie die Vorinstanz mit Recht festhält, zunächst die ihm drohende strafrechtliche Verurteilung: Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen scheint nicht ausgeschlossen, dass die Tat des Beschwerdeführers als versuchte vorsätzliche Tötung qualifiziert werden müsste, womit ihm mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe droht, was für sich bereits einen nicht unerheblichen Fluchtanreiz darstellt. 
Sodann sind Einwände des Beschwerdeführers gegen die Einschätzung der Anklagekammer zum Teil widersprüchlich und lassen deren Entscheid im Ergebnis nicht als bundesrechtswidrig erscheinen. Die Vorinstanz hat nicht verkannt, dass er keine Vorstrafen aufweist, zu seinen beiden Schwestern in Deutschland angeblich keinen Kontakt hat und seine Beziehung zu seiner Partnerin die Fluchtgefahr etwas verringert. Zugleich akzentuieren seine Darlegungen in der Beschwerde aber dieses Risiko, wenn er ausführt, neben dieser Beziehung pflege er derzeit keine Kontakte zu Drittpersonen. Das Vorhandensein eines engen Beziehungsnetzes eines Beschuldigten in der Schweiz kann die Fluchtgefahr reduzieren, was beim Beschwerdeführer offensichtlich nicht zutrifft. Mit andern Worten hält ihn in persönlicher Hinsicht - abgesehen von der erwähnten Beziehung - nichts in der Schweiz. Auch der von ihm hervorgehobene Umstand, dass er in der Schweiz wirtschaftlich in keiner Weise integriert ist und namentlich keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, dürfte den Anreiz zur Flucht eher erhöhen als vermindern. 
Auch die übrigen Vorbringen vermögen offensichtlich nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen: Die Gefahr des Untertauchens wird weder durch die Möglichkeit, bei einer Entlassung bei seiner Partnerin wohnen zu können, noch durch deren krankheits- und blindheitsbedingte beschränkte Reisefähigkeit oder seine eigene Erkrankung massgeblich vermindert. Die Vorinstanz hat im Übrigen kein besonderes Gewicht auf den Umstand gelegt, dass der Beschwerdeführer nicht in der Schweiz wohnt, sondern in Österreich, weshalb keine Ungleichbehandlung gegenüber Personen mit hiesigem Wohnsitz zu erkennen ist. Da vorliegend die gesetzlichen Voraussetzungen für den strafprozessualen Freiheitsentzug erfüllt sind (dringender Tatverdacht und besonderer Haftgrund), erweist sich dieser als zulässig und stellt keine Verletzung der persönlichen Freiheit dar. 
 
4.3. Die Vorinstanz hat sodann befunden, angesichts der gesamten Umstände seien derzeit keine tauglichen Ersatzmassnahmen ersichtlich. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz mehrere mildere Massnahmen geprüft und deren Zwecktauglichkeit zur Bannung der Fluchtgefahr verworfen. Ihr kann daher keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorgeworfen werden. Im Übrigen erweist es sich als zutreffend, dass vorliegend keine geeigneten Ersatzmassnahmen ersichtlich sind. Die Ausreise in ein Nachbarland ist trotz Schriften- bzw. Ausweissperre einfach zu bewerkstelligen und wäre auch mit einer elektronischen Fussfessel möglich, ermöglicht diese genauso wie eine Meldepflicht doch nur, dass die Polizei nach der Flucht möglichst rasch Fahndungsmassnahmen einleiten könnte (Urteil 1B_251/2016 vom 12. August 2015 E. 4.2). Die Schweizer Behörden könnten zudem die Ausstellung von österreichischen Reisepapieren - obgleich diese gemäss Angaben des Beschwerdeführers entzogen werden sollen - nicht verhindern (Urteil 1B_236/2017 vom 6. Juli 2017 E. 2.4). Auch lässt die Möglichkeit, dass ein Land den Beschwerdeführer an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, die Annahme von Fluchtgefahr nicht dahinfallen (vgl. Urteil 1B_63/2015 vom 20. März 2015 E. 4.4). Insofern ist der angefochtene Entscheid auch unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden.  
 
5.   
Die Beschwerde in Strafsachen ist daher abzuweisen. Damit würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, das gutzuheissen ist, da seine Bedürftigkeit ausgewiesen scheint und die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
  
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung wird gutgeheissen: 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwältin Ilona Zürcher, Thal, wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtliche Verteidigerin eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der Kasse des Bundesgerichts entschädigt.  
 
3.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft, Untersuchungsamt St. Gallen, dem Regionalen Zwangsmassnahmengericht St. Gallen und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 15. August 2017 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Die Gerichtsschreiberin: Pedretti