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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_146/2021  
 
 
Urteil vom 25. Juni 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 28. Januar 2021 (5V 20 282). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren 1968, meldete sich am 11. März 2005 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern sprach ihr mit Verfügung vom 8. September 2010 mit Wirkung ab 1. Mai 2005 eine Dreiviertelsrente und ab. 1. Juli 2005 eine ganze Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad 60 % beziehungsweise 100 %). Im Jahr 2011 bestätigte sie den Rentenanspruch.  
 
A.b. Anfang April 2014 leitete die Verwaltung ein weiteres Revisionsverfahren ein und veranlasste bei der ABI Aerztliches Begutachtungsinstitut GmbH (im Folgenden: ABI), Basel, ein polydisziplinäres Gutachten, das am 29. Oktober 2014 erstattet wurde. Die IV-Stelle schloss das Revisionsverfahren jedoch nicht ab, sondern tätigte weitere medizinische Abklärungen. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob sie die Invalidenrente der Versicherten mit Verfügung vom 20. Juli 2020 per 31. August 2020 auf.  
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 28. Januar 2021 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei der Rentenanspruch auch über den 31. August 2020 hinaus zu bestätigen; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese nach weitergehenden Abklärungen über den Rentenanspruch neu entscheide. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), überprüft indessen nur die geltend gemachten Mängel, es sei denn, andere rechtliche Mängel seien geradezu offensichtlich (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), ausser dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie gestützt auf das polydisziplinäre Gutachten der ABI vom 29. Oktober 2014 einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Rentenleistungen der Invalidenversicherung verneinte. 
 
3.  
 
3.1. Den von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung genügenden Gutachten externer Spezialärzte (Administrativgutachten) ist voller Beweiswert zuzuerkennen, solange nicht "konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit" der Expertise sprechen (BGE 135 V 465 E. 4.4). Nicht näher begründete, anders lautende Einschätzungen der behandelnden Ärzte sind in der Regel nicht geeignet, den Beweiswert eines Gutachtens in Frage zu stellen und zum Anlass für weitere Abklärungen zu nehmen (vgl. BGE 137 V 210 E. 1.2.4). Vorbehalten bleiben Fälle, in denen sich eine abweichende Beurteilung aufdrängt, weil die behandelnden Ärzte wichtige Aspekte benennen, die im Rahmen der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind (Urteil 9C_86/2018 vom 20. August 2018 E. 5.4.1 mit Hinweis).  
 
3.2. Ist seit der Begutachtung einige Zeit verstrichen, vermag das Alter des Gutachtens - als formelles Kriterium - keinen Zweifel an dessen Beweiswert zu begründen. Massgebend ist vielmehr die materielle Frage, ob Gewähr dafür besteht, dass sich die Ausgangslage seit der Erstellung des Gutachtens nicht gewandelt hat. Soweit ein früheres Gutachten mit Ablauf der Zeit und zufolge veränderter Verhältnisse an Aktualität eingebüsst hat, sind neue Abklärungen unabdingbar (BGE 134 IV 246 E. 4.3; Urteil 8C_449/2017 vom 7. März 2018, E. 3.2.3 mit Hinweis). Die Rechtsprechung hat es denn auch abgelehnt, eine Art "Verfallsdatum" für ein Gutachten zu definieren (Urteil 8C_143/2019 vom 21. August 2019 E. 4.1).  
 
3.3. Somatoforme Schmerzstörungen und psychische Störungen sind nach der jüngeren Praxis anhand eines strukturierten Beweisverfahrens, gestützt auf systematisierte Indikatoren, auf ihre invalidisierenden Wirkungen hin zu untersuchen (BGE 143 V 409 E. 4.5; 141 V 281 E. 2). In intertemporalrechtlicher Hinsicht verlieren Gutachten, die noch nicht ausdrücklich in Anwendung der Standardindikatoren erstellt wurden, nicht per se ihren Beweiswert. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften Würdigung des Einzelfalles zu prüfen, ob auf die vorhandenen Beweisgrundlagen abgestellt werden kann (BGE 141 V 281 E. 8).  
 
3.4. Der Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) verpflichtet das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen (Urteil 8C_448/2020 vom 3. März 2021 E. 2.4.1 mit Hinweis). Massnahmen zur Klärung des rechtserheblichen Sachverhalts müssen vorgenommen oder veranlasst werden, wenn dazu auf Grund der Parteivorbringen oder anderer sich aus den Akten ergebender Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht (SVR 2009 IV Nr. 4 S. 6, I 110/07 E. 4.2.2 mit Hinweisen). Rechtserheblich sind dabei alle Tatsachen, von deren Vorliegen es abhängt, ob über den streitigen Anspruch so oder anders zu entscheiden ist (SVR 2013 UV Nr. 9 S. 29, 8C_592/2012 E. 5.2). In Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes sind etwa weitere Abklärungen vorzunehmen, wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare Widersprüche enthält oder eine entscheidwesentliche Tatfrage bislang auf einer unvollständigen Beweisgrundlage beantwortet wurde (statt vieler: BGE 146 V 240 E. 8.1). Der Sachverhalt ist solange und soweit abzuklären, bis mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt ist, dass von Beweisweiterungen keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Urteile 9C_430/2020 vom 17. März 2021 E. 5.1 mit Hinweisen).  
 
4.  
Die Vorinstanz attestierte dem (polydisziplinären) ABI-Gutachten vom 29. Oktober 2014 Beweiskraft. Auf dieser Grundlage nahm sie an, bei der Beschwerdeführerin liege keine somatische Diagnose mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit vor. In der Folge prüfte das kantonale Gericht, ob das Gutachten aus dem Jahr 2014 eine Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281 erlaube, bejahte diese Frage und führte die Indikatorenprüfung durch. Das psychiatrische Teilgutachten erachtete es zwar als nicht ganz nachvollziehbar hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Belastung der Beschwerdeführerin. Insgesamt seien die diagnoserelevanten Befunde und Symptome jedoch zu wenig ausgeprägt, um eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit zu bestätigen. Hinzu komme, dass gute mobilisierende Ressourcen vorlägen und eine gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus zu verneinen sei. Die seit dem Jahr 2014 entstandenen medizinischen Berichte lassen nach Ansicht der Vorinstanz auf keine Änderung des anspruchsrelevanten Sachverhalts schliessen. Eine rentenbegründende Invalidität sei zu verneinen, ohne dass der Einkommensvergleich durchzuführen sei. Zum Anspruch auf Wiedereingliederung nach Aufhebung der Rente äusserte sich das kantonale Gericht nicht, da diese Frage ausserhalb des Anfechtungsgegenstands liege. 
 
5.  
 
5.1. Letztinstanzlich unbestritten geblieben ist die Anwendbarkeit der Rechtsprechung zum strukturierten Beweisverfahren (vgl. E. 3.3). Die Beschwerdeführerin rügt jedoch zum einen, das ABI-Gutachten sei mit Blick auf die in BGE 141 V 281 geänderte Praxis nicht beweiskräftig. Zum anderen wirft sie der Vorinstanz eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes vor, weil das kantonale Gericht es unterlassen habe, die nach Erstattung des polydisziplinären Gutachtens eingetretene gesundheitliche Verschlechterung abzuklären.  
 
5.2. Ob einer versicherungsmedizinischen Expertise oder einem ärztlichen Bericht Beweiswert zukommt, beschlägt eine frei überprüfbare Rechtsfrage (Urteil 9C_18/2019 vom 14. Juni 2019 E. 2.2 mit Hinweis). Ebenfalls als Rechtsfrage frei überprüfbar ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln (Urteil 8C_143/2019 vom 21. August 2019 E. 1.2 mit Hinweis).  
 
5.3. Das polydisziplinäre ABI-Gutachten vom 29. Oktober 2014 besteht aus vier Teilgutachten (allgemeininternistische Untersuchung, psychiatrische Untersuchung, rheumatologische Untersuchung, neurologische Untersuchung). Folgende Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit werden gestellt: Allgemeine Hypermobilität (ICD-10: M35.7), chronisches zervikospondylogenes Schmerzsyndrom (ICD-10: M53.1) und chronisches thorakolumbospondylogenes Schmerzsyndrom (ICD-10: M54.5). Ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bleiben gemäss Gutachten folgende Diagnosen: Histrionische Persönlichkeitszüge (ICD-10: Z73.1), Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0), multifaktorielles Kopfschmerzsyndrom (ICD-10: G44.8), Restless legs Syndrom (ICD-10: G25.81), Adipositas (ICD-10: E66.0), chronischer Nikotinabusus (ICD-10: F17.1) sowie (anamnestisch) Hämorrhoidalleiden (ICD-10: I84.9). Als Folge einer deutlichen degenerativen Veränderung im Zervikalbereich sei der Beschwerdeführerin eine schwere und mittelschwere Tätigkeit nicht mehr zumutbar, hingegen bestehe eine 100%ige Arbeitsfähigkeit für leichte, wechselbelastende Tätigkeiten ohne regelmässiges Arbeiten über Kopf. Aus neurologischer und allgemeininternistischer Sicht sei die Beschwerdeführerin nicht eingeschränkt. Das psychiatrische Teilgutachten hält fest, die Beschwerdeführerin habe während der Untersuchung sehr selbstbezogen gewirkt, die Affekte seien sprunghaft und oberflächlich gewesen; die Beschwerdeführerin habe etwas Fassadenhaftes und Theatralisches an sich. Es könnten histrionische Persönlichkeitszüge und eine Somatisierungsstörung diagnostiziert werden, wobei die geklagten Schmerzen und zahlreiche körperliche Beschwerden nicht objektivierbar seien. Mit ihren Beschwerden habe die Beschwerdeführerin vor sich und der Umgebung die Rechtfertigung dafür, keiner Arbeit nachgehen zu müssen. Eine ausgeprägte psychiatrische Komorbidität liege nicht vor. Ein ausgeprägter sozialer Rückzug sei nicht feststellbar. Dass alle therapeutischen Bemühungen bis jetzt gescheitert seien, liege an der ausgeprägten subjektiven Krankheitsüberzeugung. Auch fänden sich keine schweren lebensgeschichtlichen Belastungen. Mit entsprechender Willensanstrengung sei es der Beschwerdeführerin zumutbar, voll erwerbstätig zu sein.  
 
5.4.  
 
5.4.1. Das psychiatrische Teilgutachten äussert sich zwar zu Gesichtspunkten, die sich einzelnen Standardindikatoren zuordnen lassen; es enthält aber nicht durchgehend Angaben in der erforderlichen Tiefe (vgl. betreffend rezidivierende depressive Entwicklungen leichten bis mittleren Grades: BGE 145 V 361 E. 4.3). So wird der bisherige Behandlungsverlauf nicht thematisiert, sondern ohne weitere Ausführungen mit der subjektiven Krankheitsüberzeugung der Beschwerdeführerin erklärt. Überdies erläutert das psychiatrische Teilgutachten nicht, ob und wie die histrionische Persönlichkeitsstörung mit der Somatisierungsstörung zusammenhängt. Es bleibt beim Hinweis, aufgrund einer fehlenden schweren psychiatrischen Komorbidität könne für die Somatisierungsstörung keine Arbeitsunfähigkeit attestiert werden. Da das strukturierte Beweisverfahren auf eine Gesamtwürdigung aller funktionellen Einbussen abzielt, dürfen einzelne Leiden nicht in diesem Sinn isoliert ausgeklammert werden. Eine rechtlich bedeutsame Komorbidität liegt vielmehr bereits vor, wenn den Störungen im konkreten Fall ressourcenhemmende Wirkung beizumessen ist (BGE 143 V 418 E. 8.1). Allfällige Wechselwirkungen zwischen histrionischer Persönlichkeit und Somatisierungsstörungen bilden deshalb im vorliegenden Fall ein zu klärendes Beweisthema (vgl. auch BGE 144 V 50 E. 5.2.1), zu welchem sich das psychiatrische Teilgutachten nicht äussert.  
 
5.4.2. Mit der Vorinstanz ist weiter festzuhalten, dass das psychiatrische Teilgutachten an einem Widerspruch leidet. Obschon die Beschwerdeführerin während der Exploration mehrere einschneidende Lebensereignisse schilderte (Autounfall im Jahr 2010 auf einer italienischen Autobahn; Suizid des im Krieg gefolterten Vaters im Jahr 2000; Vergewaltigung im 15. Altersjahr), verneinte der Gutachter eine lebensgeschichtliche Belastung ohne nähere Begründung. Mit Blick auf den Indikator "Komplex der Persönlichkeit" fehlt demnach ein nachvollziehbares biografisch-anamnestisches Gesamtbild, das Rückschlüsse auf in der Persönlichkeit angelegte Vorbelastungen und Fähigkeiten vermittelt (BGE 141 V 281 E. 4.3.2). Die Vorinstanz wies in diesem Zusammenhang auf die Erwerbsbiografie hin, was jedoch nur einen Ausschnitt des relevanten Befundmaterials abdeckt. Nach einem Teil der versicherungsmedizinischen Literatur ist eine an der Persönlichkeitsentwicklung und -struktur orientierte biographische Diagnostik unabdingbares Element der Begutachtung (PAUL HOFF, Biographie und Krankheitsanamnese in der Psychiatrie, in: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, 5. Aufl., Berlin 2017, S. 533 ff.; RENATO MARELLI, Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit im Grenzbereich von Psyche und Soma, Schweizerische Ärztezeitung 2008, S. 1141; zurückhaltend PETER HENNINGSEN, Probleme und offene Fragen in der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit bei Probanden mit funktionellen Körperbeschwerdesyndromen, SZS 2014, S. 537). Im Fall der Beschwerdeführerin ergeben sich aus den Akten sogar konkrete Hinweise auf affektive Verarbeitungsschwierigkeiten. Denn der behandelnde Psychiater Dr. med. B.________ führte gegenüber der Beschwerdegegnerin mit Bericht vom 6. März 2020 aus, die Beschwerdeführerin habe sich phasenweise total zurückgezogen und "grüble über den Knochen des totgeborenen Sohnes (1996) ". Deshalb ist eine Diskussion lebensgeschichtlicher Ereignisse im vorliegenden Fall angezeigt.  
 
 
5.4.3. Das psychiatrische Teilgutachten präsentiert demnach kein vollständiges biografisch-anamnestisches Gesamtbild und erlaubt nur teilweise eine an den Standardindikatoren orientierte Prüfung. Auf dieser Grundlage hätte die Vorinstanz nur entscheiden dürfen, wenn sich aus den übrigen Akten ein eindeutiges (negatives) Beweisergebnis ergäbe.  
 
5.5.  
 
5.5.1. Dem IV-Fallprotokoll ist nicht zu entnehmen, weshalb das Verfahren nach Vorliegen des polydisziplinären Gutachtens nicht abgeschlossen wurde. Aus den Akten sind folgende Entwicklungen ersichtlich:  
 
5.5.2. Der Regionale Ärztliche Dienst (im Folgenden: RAD) qualifizierte das polydisziplinäre Gutachten am 18. Dezember 2014 als beweiskräftig (mit Vorbehalten hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit bei mittelschweren und schweren Tätigkeiten). Im Rahmen der weiteren Abklärungen der Beschwerdegegnerin stellte Dr. med. B.________ am 4. Januar 2016 die Diagnosen einer rezidivierenden Depression (ICD-10: F33.11), einer Panikstörung (ICD-10: F41.2) sowie einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) und Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4). Seit April 2014 habe sich wenig verändert, die Beschwerdeführerin gerate wellenförmig in Verzweiflungszustände mit Depression und Panikattacken. Die Hausärztin Dr. med. C.________ hielt mit Bericht vom 7. Februar 2016 fest, der Gesundheitszustand sei unverändert geprägt von Schmerzexazerbationen (Kopf, Gelenk, Magendarmtrakt), depressiven Episoden und Angstreaktionen mit sozialem Rückzug. Eine neurologische Untersuchung ergab im Jahr 2018 Hinweise auf eine leichte neurokognitive Störung, welche - so der Bericht des Neurologen Dr. med. D.________ vom 9. März 2018 - als Ausdruck einer Depression interpretiert werden könne. Sowohl Dr. med. B.________ als auch Dr. med. C.________ bekräftigten ihre Einschätzungen mehrfach gegenüber der Beschwerdegegnerin. Nach dem Tod des Ehemannes der Beschwerdeführerin im Juli 2017 hielt Dr. med. B.________ fest, der Todesfall sei Entlastung und Belastung zugleich. Die Beschwerdeführerin sei "nach wie vor kaum lebensfähig". In seinem Bericht vom 6. März 2020 führte er sodann aus, die Situation sei "aktuell wieder ganz schlecht"; die Beschwerdeführerin ziehe sich phasenweise vollumfänglich zurück und zeige übertriebene Reaktionen in bestimmten Situationen.  
 
 
5.5.3. Die Vorinstanz setzte sich mit den Berichten der Hausärztin, des behandelnden Psychiaters und den Ergebnissen der neuropsychologischen Untersuchung auseinander. Sie schloss sich der Beurteilung des RAD an, wonach in den medizinischen Akten keine Verschlechterung dokumentiert werde.  
 
5.5.4. Der RAD würdigte das Dossier am 27. März 2020 und 5. Juni 2020. In Bezug auf den Todesfall des Ehemannes der Beschwerdeführerin handle es sich "aller Wahrscheinlichkeit nach um eine vorübergehende Anpassungsstörung", zumal der behandelnde Psychiater sie später nicht mehr erwähne. Die Beschwerdeführerin rügt indessen zu Recht, dass sich diese Schlussfolgerung nicht auf die Berichte des Dr. med. B.________ abstützen lässt. Zum einen erwähnt dessen Bericht vom 20. August 2019 den Tod des Ehemannes durchaus ausdrücklich als Belastungsfaktor (bei einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % aus psychiatrischer Sicht), zum anderen dokumentiert der Bericht vom 6. März 2020 einen erheblich belasteten affektiven Zustand. Die Einschätzung des RAD, der Tod des Ehemannes habe bei der Beschwerdeführerin eine vorübergehende Anpassungsstörung ausgelöst, steht damit im Widerspruch zu den Berichten des behandelnden Psychiaters.  
 
5.5.5. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der Stellungnahmen des RAD, sind weitergehende Abklärungen erforderlich (BGE 135 V 465 E. 4.4; Urteil 9C_415/2019 vom 14. Oktober 2019 E. 4.2). Geringe Zweifel können praxisgemäss durch - nachvollziehbare und begründete - Stellungnahmen anderer medizinischer Fachpersonen geweckt werden. Es bedeutete einen Verstoss gegen Bundesrecht, die Eignung der Berichte der behandelnden Ärztinnen und Ärzte von letztlich unerfüllbaren Anforderungen abhängig zu machen (Urteil 9C_168/2020 vom 17. März 2021 E. 5.1). Vorliegend lässt die aufgezeigte Diskrepanz zwischen der Einschätzung des RAD und den Berichten des Dr. med. B.________ zumindest geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit Ersterer aufkommen. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustands der Beschwerdeführerin kann auf dieser Grundlage nicht ausgeschlossen werden. In dieser Hinsicht bleibt das Beweisergebnis unklar. Das kantonale Gericht hätte nur dann von weiteren Abklärungen absehen dürfen, wenn der Sachverhalt bereits aufgrund des ABI-Gutachtens vom 29. Oktober 2014 als hinreichend geklärt zu gelten hätte. Das ist jedoch nicht der Fall (vgl. E. 5.4). Die Vorinstanz hat somit den Untersuchungsgrundsatz verletzt, wenn sie trotz des noch unklaren Beweisergebnisses auf Beweisweiterungen verzichtete.  
 
6.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde insoweit (teilweise) begründet, als der medizinische Zustand der Beschwerdeführerin gestützt auf die seit der letzten Begutachtung ergangenen medizinischen Akten erneut und weiter abzuklären ist. Die Sache ist zu diesem Zweck an die IV-Stelle zurückzuweisen. Dem in der Beschwerde gestellten Hauptantrag kann demzufolge nicht stattgegeben werden. 
 
7.  
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiterer Abklärung und neuer Verfügung mit noch offenem Ausgang gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten und den Anspruch auf Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (vgl. BGE 137 V 210 E. 7.1). Entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), welche der Beschwerdeführerin überdies eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 28. Januar 2021 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Luzern vom 20. Juli 2020 werden aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Luzern zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. Juni 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder