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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_866/2008 
 
Urteil vom 8. Juli 2009 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Kernen, Seiler, 
Gerichtsschreiber Nussbaumer. 
 
Parteien 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
B.________, 1992, Beschwerdegegnerin, 
handelnd durch ihre Mutter, und diese 
vertreten durch Rechtsanwalt Paul von Moos. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern 
vom 16. September 2008. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
B.________ (geboren 15. Januar 1992) leidet an Cataracta juvenilis (beidseits) bei Mikrocornea. Am 12. und am 14. Oktober 2005 wurde sie an beiden Augen operiert. Mit Verfügung vom 21. Februar 2006 lehnte die IV-Stelle Luzern eine Kostengutsprache für medizinische Massnahmen ab, da der korrigierte Fernvisus beider Augen die zur Anerkennung als Geburtsgebrechen vorausgesetzten Grenzwerte nicht erreiche. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 24. April 2007 fest mit der zusätzlichen Begründung, die Voraussetzungen nach Art. 12 IVG seien mangels Eingliederungswirksamkeit der Staroperation nicht erfüllt. 
 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 16. September 2008 gut, soweit es darauf eintrat, und verpflichtete die IV-Stelle Luzern, der Beschwerdeführerin ab 2. August 2005 Kostengutsprache für medizinische Massnahmen für das Geburtsgebrechen Ziff. 419 GgV Anhang auszurichten. 
 
C. 
Die IV-Stelle Luzern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei der Einspracheentscheid vom 24. April 2007 zu bestätigen. Ferner sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
B.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen unter Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen reicht keine Vernehmlassung ein. 
 
D. 
Mit Verfügung vom 1. Dezember 2008 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). 
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Kommentar zum Bundesgesetz, Bern 2007 N 24 zu Art. 97). 
 
2. 
2.1 Nach Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2). 
Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 1 Abs. 1 GgV). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV). 
Der Anspruch nach Art. 2 Abs. 1 GgV beginnt mit der Einleitung von medizinischen Massnahmen, frühestens jedoch nach vollendeter Geburt. Wird die Behandlung eines Geburtsgebrechens nur übernommen, weil eine im Anhang festgelegte Therapie notwendig ist, so beginnt der Anspruch mit der Einleitung dieser Massnahme; er umfasst alle medizinischen Massnahmen, die in der Folge zur Behandlung des Geburtsgebrechens notwendig sind (Art. 2 Abs. 2 GgV). 
 
2.2 Zwar besagt Art. 1 Abs. 1 GgV, dass als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG jene Gebrechen gelten, die "bei vollendeter Geburt" bestehen. Es sind jedoch im GgV Anhang - rechtlich zulässigerweise (BGE 120 V 89 E. 2a S. 92) - auch verschiedene Gebrechen aufgeführt, die als solche nicht schon unmittelbar bei der Geburt bestehen, sondern sich erst aufgrund einer angeborenen Anlage entwickeln. Dies trifft auch auf die hier in Frage stehende Ziffer 419 GgV Anhang zu, die wie folgt lautet: 
"Angeborene Linsen- oder Glaskörpertrübung und Lageanomalien der Linse mit Visusverminderung auf 0,2 oder weniger an einem Auge (mit Korrektur) oder Visusverminderung an beiden Augen auf 0,4 oder weniger (mit Korrektur)." 
 
2.3 Ziff. 419 GgV Anhang macht die Anerkennung als Geburtsgebrechen von einem bestimmten Grad der Visusverminderung abhängig. Damit hat der Bundesrat ein Kriterium zur Abgrenzung des Leistungsanspruchs gegenüber Visusverminderung von bloss geringfügiger Bedeutung aufgenommen. Dazu war er aufgrund von Art. 13 Abs. 2 IVG befugt. Wenn er Leistungen ausschliessen kann (also gar nicht aufnehmen muss), wenn ein Gebrechen von geringfügiger Bedeutung oder überhaupt keiner anerkannten medizinischen Behandlung zugänglich ist (Down-Syndrom: BGE 114 V 22 E. 2c S. 26), so steht es ihm auch zu, bei an sich in der Liste aufgeführten Gebrechen Einschränkungen vorzusehen, sei es zur Abgrenzung zwischen angeborenen und später erworbenen Leiden (vgl. BGE 122 V 113 E. 3a/cc und dd zu Ziff. 404 GgV Anhang), sei es in qualitativer Hinsicht zur Umschreibung eines bestimmten Schweregrades des Leidens als Leistungsvoraussetzung (vgl. BGE 120 V 89 zu Ziff. 210 GgV Anhang). Beim Geburtsgebrechen Ziff. 419 GgV Anhang hat er den für den Leistungsanspruch jeweils massgebenden Schweregrad des Leidens im GgV Anhang selber definiert (anders etwa bezüglich der in Ziff. 11.04 bis 11.07 HVI-Anhang vorausgesetzten hochgradigen Sehschwäche; Urteil I 173/97 des Eidg. Versicherungsgerichts vom 6. November 1998, E. 3c, publiziert in SVR 1999 IV Nr. 15 S. 43). 
 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass die Versicherte seit Geburt an vererbter Cataracta juvenilis und congenita (Form von grauem Star) leidet. Die juvenile Cataracta sei progressiv, in 100 % der Fälle operationsbedürftig und in manchen Fällen assoziiert mit späteren Komplikationen. Anlässlich der Untersuchung vom 8. Juli 2005 habe eine Visusverminderung rechts von 0,4 und links von 0,6 resultiert. In der Augenklinik des Spital X.________ habe eine Untersuchung am 2. August 2005 einen beidseitigen Visus von 0,5 ergeben. Es sei innerhalb von nur knapp einem Monat zu Veränderungen des Visus gekommen, was zeige, dass dieser Schwankungen ausgesetzt sei. Die genannten Werte der beiden Messungen vom Juli und August 2005 lägen über den in Ziff. 419 GgV Anhang geregelten Visuswerten und berechtigten damit, wenn auch knapp, noch nicht zu Leistungen der Invalidenversicherung unter diesem Titel. Nach den am 12. und 14. Oktober 2005 erfolgten Operationen habe ein beidseitiger Visus von 1,0 resultiert. Damit lägen die Visuswerte auch nach den Operationen über den Werten gemäss Ziff. 419 GgV Anhang. Die behandelnden Ärzte der Augenklinik des Spital X.________ hielten im Bericht vom 20. März 2006 fest, dass bei Aufschiebung der Operationen für ein Jahr "der Visus bestimmt tiefer als 0,4" gewesen wäre. Die beidseitige Kataraktoperation sei im Oktober 2005 indiziert gewesen. Ein Zuwarten sei gemäss den Fachärzten medizinisch und sozial (Besuch Sonderschule, Lernrückstand, psychosoziale Begleitung) falsch gewesen. Gestützt auf die Ausführungen und Einschätzungen der beiden behandelnden Ärzte der Augenklinik des Spital X.________ sowie des RAD ging das kantonale Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass bei Zuwarten mit den Operationen dieser speziellen Form des grauen Stars die Visusverminderung auf die gemäss Ziff. 419 Anhang GgV für einen Anspruch vorausgesetzten 0,4 oder weniger gefallen wäre. Sodann seien die operativen Eingriffe im Oktober 2005 medizinisch und sozial indiziert gewesen und hätten sich in jeder Hinsicht positiv für die Versicherte ausgewirkt. Bei dieser speziellen Ausgangslage könne es nicht im Sinne des Gesetzes und der GgV sein, nach grundsätzlich festgestellter Behandlungs- und Kontrollbedürftigkeit eines Geburtsgebrechens, welches zu diesem Zeitpunkt knapp noch nicht die erforderliche Schwere gemäss der GgV erreicht hatte, mit der weiteren Behandlung zuzuwarten, bis die für einen Anspruch notwendigen Werte erreicht seien. Dies insbesondere dann nicht, wenn wie im vorliegenden Fall ein progressiver Verlauf bekannt sei und die operativen Eingriffe im aktuellen Zeitpunkt sozial und medizinisch indiziert gewesen seien. Die IV-Stelle Luzern habe daher der Versicherten ab 2. August 2005 (Beginn der Behandlungs- und Kontrollbedürftigkeit) Kostengutsprache für medizinische Massnahmen für das Geburtsgebrechen Ziff. 419 GgV Anhang auszurichten. Bei diesem Ergebnis erübrigten sich Ausführungen zum Anspruch auf medizinische Massnahmen im Allgemeinen gemäss Art. 12 IVG
 
3.2 Die Beschwerde führende IV-Stelle macht eine Verletzung von Ziff. 419 GgV Anhang und damit von Bundesrecht geltend, da die beidseitige Visusminderung bis und mit Zeitpunkt der Operation nicht den vom Gesetzgeber festgelegten Schweregrad erreicht habe. Dass bei Zuwarten mit der Behandlung die Werte eventuell einmal erreicht worden wären, sei eine reine Mutmassung und würde auch für andere durch Grenzwerte definierten Geburtsgebrechen möglicherweise zutreffen. Der im vorinstanzlichen Entscheid vertretene prophylaktische Ansatz höhle den Sinn des durch den Gesetzgeber festgelegten Schweregrades aus. Erst wenn dieser Schweregrad vorliege, handle es sich um ein Geburtsgebrechen im IV-rechtlichen Sinne. 
 
3.3 Die in Ziff. 419 GgV Anhang festgelegten Werte sind Ausdruck der in Art. 13 Abs. 2 IVG vorgesehenen Möglichkeit, dass der Bundesrat die Leistung ausschliessen kann, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist. Damit wird in qualitativer Hinsicht ein bestimmter Schweregrad des Leidens als Leistungsvoraussetzung umschrieben (vgl. BGE 120 V 89 zu Ziff. 210 GgV Anhang). Indem die Vorinstanz eine Leistungspflicht bejaht hat mit der Begründung, die Visusverminderung hätte in Zukunft den erforderlichen Schweregrad erreicht, nimmt sie eine über die vom Bundesrat festgelegte Leistungsvoraussetzung hinausgehende Anspruchsausdehnung vor. Damit hat sie Bundesrecht verletzt, da die Visuswerte nach den unbestrittenen, verbindlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid die in Ziff. 419 GgV Anhang für die Anerkennung des Augenleidens als Geburtsgebrechen festgelegten Grenzwerte im Zeitpunkt der Operation nicht erreicht hatten. Darin liegt auch der Unterschied zu BGE 120 V 89, wo sich die Schwere des Gebrechens während der Behandlung verwirklichte. Liegt kein Geburtsgebrechen vor, kann eine auf Art. 13 IVG gestützte Kostenübernahme auch nicht damit begründet werden, dass die Behandlung medizinisch indiziert war (was hingegen zu einer Kostenübernahme durch die Krankenkasse führen könnte). 
 
4. 
Es stellt sich des Weitern die Frage, ob allenfalls gestützt auf Art. 12 IVG ein Leistungsanspruch gegeben sein könnte. Da das kantonale Gericht hiezu weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Feststellungen getroffen oder Ausführungen gemacht hat, geht die Sache an das kantonale Gericht zurück, damit es einen allfälligen Leistungsanspruch unter dem Titel des Art. 12 IVG prüfe (vgl. dazu Urteil I 64/07 des Bundesgerichts vom 27. Juli 2007). 
 
5. 
Bei diesem Verfahrensausgang ist die Beschwerdegegnerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihr kann die unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung; Art. 64 BGG) gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der angefochtene Entscheid vom 16. September 2008 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern zurückgewiesen wird, damit es im Sinne von E. 4 verfahre und neu entscheide. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege indes auf die Gerichtskasse genommen. 
 
3. 
Rechtsanwalt Paul von Moos wird für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2000.- entschädigt. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 8. Juli 2009 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Meyer Nussbaumer